Römer 9,1-5.31 – 10,4

Home / Bibel / Neues Testament / 06) Römer / Romans / Römer 9,1-5.31 – 10,4
Römer 9,1-5.31 – 10,4

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


10. Sonntag nach
Trinitatis

27.8.2000
Römer 9,1-5.31 – 10,4


Heinz Behrends


Homiletische Überlegungen

Liebe Gemeinde!

Wenn ich sagte, ich will heute über Israel und die Kirche
sprechen, werde ich Ihr Interesse vermutlich nicht wecken können. Wenn ich
Sie aber frage: Kommen Sie klar mit Ihrem großen Bruder? werden Sie
gewiß neugierig. Nichts ist so interessant wie Beziehungen im engsten
Kreis der Familien. Nichts ist so aufregend wie die Geschichten von Menschen,
die eng zueinander gehören. Die Geschichte der Beziehung von Juden und
Christen in den letzten 2000 Jahren ist so eine Geschichte, die einen benommen
machen kann. Denn die Juden sind so etwas wie unsere großen, unsere
älteren Brüder.

Der Apostel Paulus steckt mitten drin in so einer
Beziehungsgeschichte. Er ist groß geworden in der Religion, im Glauben
seiner Väter, er kennt die Texte, die Feste, die Rituale. Plötzlich
lernt er die Gedanken des Mannes kennen, der das alles neu deutet. Er ist davon
fasziniert. Und da er anders als die Fischer, Petrus und seine Freunde, ein
Intellektueller ist, muß er die Verknüpfung des Glaubens seiner
Väter mit der neuen Auslegung durch Jesus von Nazareth mit seinem Kopf
bewältigen. Ihn reibt das sehr auf. Es ist so als wenn sich jemand von
seiner Familie mit seinem Denken löst, sie aber nicht verlieren will. Er
will nicht gegenüber seinen Brüdern als Verräter dastehen, aber
doch zu seinen neuen Erkenntnisses stehen. In seinen Briefen klingt seine
Auseinandersetzung immer wieder durch. Die reifste und umfassendste steht im
Brief an die Gemeinde in Rom, in den Kapiteln 9 bis 11. Wenn man sich vor
seinen Eltern und Brüdern rechtfertigt, dann geht das nicht anders als
daß es emotional und auch überpointiert formuliert ist. So ist das
auch im Römerbrief. Ich lese daraus nur einen kleinen Abschnitt.

Textlesung

Da ringt er mit seiner Vergangenheit und seinem neuen Glauben.
„Ich lüge nicht. Mein Gewissen. Traurigkeit und Schmerzen ohne
Unterlaß. Ich selber wünsche, verflucht und getrennt zu sein. Stein
des Anstoßes. Ich flehe zu Gott. Ich bezeuge. Sie haben keine Einsicht.“
Auf der anderen Seite haben die Juden vor allen anderen alle Gaben, die Gott zu
verschenken hat: die Kindschaft, den Bund, die guten Weisungen, den Schatz des
Gottesdienstes, die Verheißungen, die Geschichten der Väter.

Paulus läßt uns in seinen inneren Kampf hineinschauen.
So sehr ich mich auch abstrampele, gerecht sprechen kann mich allein Gott. Das
ist seine große Erkenntnis, die ihn frei macht. Das kann wohl nur der
verstehen, der meint, er müsse immer schön und gut und perfekt sein
und dem man sagt: Das ist doch alles nicht nötig, ich mag dich auch so.
Für diese Erkenntnis will er seine großen Brüder gewinnen.

Aber das ist gründlich daneben gegangen. Die
Wirkungsgeschichte dieses Textes und vergleichbarer anderer Gedanken zum Thema
im Neuen Testament über die folgenden 1900 Jahre ist verheerend. Alles was
dem Glauben der großen Brüder, der Juden, anhängt, wird
ausgeschlossen, verbrannt, verhext und ermordet. Ungeheuerlich, mit welcher
Arroganz die Juden im Namen Jesu diffamiert wurden. „Die haben Christus
umgebracht“, wurde getönt. Es kümmerte sie nicht, daß sie
gleichzeitig das Kreuz Christi als das Opfer verstanden, das Gott für die
Versöhnung der Welt bringt. Selbst ein kluger Mann wie Luther konnte sich
in seinem Denken und Reden verrennen und den Tod der Juden fordern. Das Bild
der Juden wurde über Jahrhunderte von Menschen der Kirche so tief
geprägt, daß Ausschwitz möglich wurde und nur wenige
widersprachen.

Vielleicht ist es der tiefe Schock dieses Unfaßbaren,
daß vor etwa 30 Jahren die ersten Versuche eines Dialogs zwischen Juden
und Christen möglich wurden. Gemeinsamkeiten wurden bewußt: Wir
teilen das Alte Testament als gemeinsame Bibel. In den Psalmen haben wir
gemeinsame Gebete. Christus war ein Jude und nichts anderes. Im Rahmen des
jüdischen Denkens hat er gelebt. Als Jude ist er gestorben. Wir teilen die
Zehn Gebote als gemeinsamen Kodex. Wie unwissend Menschen sind, spüre ich,
wenn manche sich distanziert gegenüber allem Jüdischen zeigen, aber
behaupten, die Zehn Gebote seien die Quintessenz alles Christlichen. Die Gebote
sind eindeutig Worte der Thora, des Gesetzes der Juden. Selbst die Forderung
der Nächstenliebe ist Teil der Thora und nicht Erfindung der Christen.

Aber langsam wächst das Gespräch von Christen und Juden.
Es ist so interessant wie das Gespräch zweier Brüder über ihren
Vater. Für manchen steht am Ende dieses Dialogs eine Faszination allen
Jüdischen. Wenn in der Marktkirche Hannovers der christliche
Stadtsuperintendent und der jüdische Landesrabbiner ihren jährlichen
Dialog über Thema des Glaubens der Juden und der Christen führten,
fühlte sich mancher christliche Zuhörer dem jüdischen Denken
sehr nahe. Die Ordnung des Lebens durch Regelungen erscheint jedem sinnvoll.
Die Geschichten des jüdischen Glaubens im Alten Testament sind kraftvoll
und eindeutig. Die Lehren über Christus, von Versöhnung und
Erlösung, Tod und Auferstehung erscheinen weniger verständlich und
vernünftig. Mancher Zuhörer empfand sich in theologischer Sicht nach
den Dialogen mehr als Jude denn als Christ.

Es wächst ein Respekt vor dem Glauben des anderen. Am Ende
entdeckt man die gemeinsamen existentiellen Fragen, die eine lediglich
unterschiedliche Antwort erhalten. Es ist die Frage, wie wir in Gerechtigkeit
und Würde miteinander leben können. Wie wir vor Gott bestehen
können. Wie wir einander gerecht werden, indem wir die Weisungen Gottes in
unser Leben aufnehmen. Darum will ich über alle konfessionellen Grenzen
hinweg im zweiten Teil meiner Predigt in das Leben eines Mannes schauen, dem
sich diese Frage stellt.

Er war ein rechtschaffener Mann, solide, stand fest im Glauben und
war hilfsbereit. Wenn Streit aufbrach, reichte er als erster die Hand. Andere
diffamierten Penner und Verbrecher, er betreute entlassene Strafgefangene.
Andere beschimpften die vergammelte Jugend, er organisierte eine
Selbsthilfegruppe für Drogenabhängige. Sein Gebet war intensiv:
„Lieber Gott, ich danke dir für alle Kraft, die du mir schenkst, danke dir
für meine intakte Familie. Ich weiß, das alles ist nicht mein
Verdienst. Segne alle meine Vorhaben. Ich nur suche allein deine Ehre.“

Als sein Gebet bei Gott ankam, waren sich alle maßgebenden
Kreise im Himmel einig: „Den, Gott, mußt du hören. Wenn es einer
verdient, dann dieser Mann.“ – „Wenn ich das tue, landet er in der Hölle,“
antwortet Gott. Entsetzen macht sich breit in der himmlischenVersammlung. „Wir
wissen, daß du unfaßbar bist, Gott, “ wagt sich ein Engel vor,
„aber so ein Mann ist doch selbst unter Christen selten. Du mußt ihn
segnen.“ Gott sieht die schweigende Versammlung an. „Das ist es ja, daß
ich es tun muß. Aber seht seine Frau und seine Kinder an.“

Die Kinder. Er erscheint ihnen so vorbildlich, daß sie sich
getrieben fühlen, gleich zu werden. Er schimpft nie, aber begegnet ihnen
wie ein lebendiger Vorwurf.
Seine Frau. Er ist so herzensgut, denkt sie,
aber ich traue mich nie, einmal in seiner Nähe etwas für mich zu
beanspruchen.
Und seine Mitarbeiter im Betrieb. Er ist so anständig,
aber ohne Humor, obwohl er unsere Schwächen versteht.

Es wird still in der himmlischen Versammlung. „Seht Ihr, niemand
liebt ihn, den perfekten Mann. Und er selber? Ich kenne seine Seele. Warum
verlangst du so viel von mir, Gott, ist sein geheimer Gedanke. Er haßt
sich und hält es nicht aus im Gefängnis seiner Vorbildlichkeit. Er
möchte erlöst werden vom Zwang zur guten Tat. Er liebt sich nicht.
Darum wird er auch mich nicht lieben können.“

Die Engel sind ganz still geworden. „Dann mußt du ihn erst
recht erhören.“ – „Ja, ich werde es tun, aber sein Widerstand wird
groß sein, bis seine Selbstgerechtigkeit zerbricht.“

Sie eifern für Gott, aber ohne Einsicht, schreibt Paulus. Sie
suchen ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten.

Ich weiß nicht, ob der Mann in der Legende ein Jude oder ein
Christ war. Er könnte beides gewesen sein. Denn die Haltung der
Anständigkeit und Selbstgerechtigkeit lebt in den Menschen unabhängig
von ihrer Konfession oder Religion. Meistens ist es die Lebenskrise oder eine
einbrechende Erfahrung, die auf einen anderen Weg der Gerechtigkeit führt.
Es sind die Brüche, in denen ein Mensch spürt, daß er selbst
sein Leben nicht planen und optimieren kann. Gott liebt uns nicht, weil wir
brav sind, sondern weil er uns geschaffen hat, weil wir leben, atmen, neugierig
sind, lieben und hassen, lachen und weinen. Die Gerechtigkeit Gottes versteht,
wer zu seinen Brüchen steht. Die Gemeinsamkeiten in den Grundfragen der
Existenz wiederentdecken, das ist für die kommende Zeit die vordringliche
Aufgabe von Juden und Christen.

Vielleicht sind ja die beiden Skulpturen im Dom in Bamberg
dafür ein eindeutiges Zeichen. Am Chorumgang im Süden stehen die
beiden mittelalterlichen, in Stein gehauene Frauengestalten: Synagoge und
Ekklesia. Die Synagoge, eine Frauengestalt mit leicht geschwungener
Körperhaltung in leichtem Gewand, in der Hand der gebrochene Aaronsstab,
ihre Augen sind verbunden. Sie sieht nicht. Daneben die Ekklesia, die Kirche,
eine Frau, aufrecht stehend, majestätisch, eine Krone auf dem Kopf,
herrschend, machtvoll, klarer Blick über die Menschen hinweg. Der
Künstler, aber auch die Zeit haben den scheinbaren großen
Unterschied der beiden ausgewogen: Die Gestalt der Synagoge ist viel
hübscher, anmutiger und fraulicher als die Kirche. Die Gestalt der
Ekklesia hatte einmal Kreuz und Kelch in ihren Händen. Aber ihre
Hände sind abgeschlagen.

So müssen beide mir ihren Brüchen leben und sind allein
angewiesen auf die Güte Gottes, der gerecht spricht.

Amen

Homiletische Überlegungen

Paulus müht sich mit Herz und Verstand in seinem Brief nach
Rom um eine Rechtfertigung seiner christlichen Existenz aus den Wurzeln seines
jüdischen Glaubens. Die Perikopenordnung schnippelt aus den drei Kapiteln
seines Briefes einen verwegenen Zuschnitt. Der Prediger muß den ganzen
Gedankenbogen des Apostels zur Kenntnis nehmen und sich für die
Ausarbeitung eines Aspektes entscheiden. Er kann predigen über die
Rechtfertigung, über die Verstockung Israels, über die Kraft der
Thora, über das Verhältnis von Kirche und Synagoge.

Ich entscheide mich für das Thema Israel und die Kirche und
kann darüber nach 2000 Jahren Geschichte nur mit Respekt und großer
Demut reden. Die tiefe Verbundenheit von Juden und Christen durch die
gemeinsame Wurzel will ich betonen. Da aber das Thema im engeren Sinne die
Gemeinde nicht besonders interessieren wird, versuche ich, die im Text
angeschlagene Thematik der Gerechtigkeit vor Gott als ein Thema menschlicher
Existenz über die Grenzen der Konfession hinaus zu entfalten.

Pastor Heinz Behrends
Distelweg 8, 37077 Göttingen
Tel/fax 0551/21222
email:
Heinz.Behrends@Nikolausberg.de


de_DEDeutsch