Lukas 7, 36-50

Lukas 7, 36-50

Vergebung für schweigende Sünder und Sünderinnen Lk 7,36–50 | Jonas Jochumsen |

 Der Erzählstil des Sonntagstextes aus dem Lukasevangelium hat etwas Unerfreuliches an sich. Ein Pharisäer lädt Jesus ein, mit ihm in einer Stadt zu speisen, in der sich eine namenlose Frau aufhält, die in Sünde lebt.

Nicht inmitten des pulsierenden Flügelschlags des Lebens, sondern inmitten des bedrückenden Bereichs der Sünde lebt diese Frau, hören wir. Durch die Perspektive, die der Evangelist dabei über seine Erzählung legt, kennen wir die Frau nur als eine Sünderin. Ihre Person ist verschleiert, verborgen durch eine erzählerische Anonymität; als fände man die Existenz der Frau nur hinter der Welt des Bibeltextes und nicht in der Welt, von der der Evangelist erzählt. Diese narrative Weise, die Frau zu verstecken, wirkt nicht nur ein wenig, sondern im Gegensatz sehr verfremdend.

Für den Evangelisten ist es anscheinend wichtiger, dass wir den Status der Frau als Sünderin erfahren, als dass wir ihren Namen, wo sie lebt und was ihr einzigartiges Leben kennzeichnet, erfahren.

So Warum denn ist der Erzählstil entfremdend? Meine beste Antwort lautet: Weil es ein einzigartiges Leben ist, das die Frau führt, auch wenn der Evangelist ein Schweigen über sie bewahrt. Das Leben eines Menschen, der sich für seine Fehler schämt und der in seiner Verzweiflung weit vom Glauben an Christus entfernt ist, ist einzigartig und wird das immer sein.

Die Einzigartigkeit des sündigen Lebens erfahren wir in den übrigen Texten des Evangeliums. Wenn die Jünger Jesu zum Glauben und zur Nachfolge aufgerufen werden, hören wir von ihren internen Familienbeziehungen, ihrer Arbeit und ihren menschlichen Beziehungen in einer heidnischen und jüdischen Welt. Die 12 Jünger entpuppen sich einer nach dem anderen als einzigartige Sünder, als Menschen, die an der Autorität Christi zweifeln. So verhält es sich allerdings nicht mit der heutigen Sünderin im Haus des Pharisäers. Der Evangelist hebt ihre dekadente Natur und ihre verwerfliche Tendenz hervor, sich von Gott abzuwenden, anstatt die ganze Person zu betrachten; ihr Gesicht, ihren Verstand und ihren persönlichen Weg auf der Erde.

Sowohl sprachlich als auch historisch ist Prostitution die gängige Interpretation dessen, was es für eine Frau bedeutet, ein Leben unter der Macht der Sünde zu leben. Und in der Bibelexegese wird viel darüber spekuliert, ob es sich bei der Frau möglicherweise um Maria Magdalena handeln könnte. Doch ob die Frau ihr Geld mit dem Verkauf erotischer Dienstleistungen verdient oder ob es sich um Maria Magdalena handelt, sind letztendlich zwei Interpretationen der anonymen Person der Frau, die eher ein Versuch zu sein scheinen, die klaffende Lücke im Text zu füllen, als den provokativen Erzählstil des Textes in den Vordergrund stellen zu mögen.

Wir fragen uns deshalb nochmals: Woher kommt also die Empörung, wenn wir von der demütigen und schweigenden Suche der Frau nach Jesus Christus hören? Es kann ja kaum ein Zweifel daran bestehen, dass sie trotz ihres beschämenden Status die Protagonistin des Textes ist. Sie wird nicht zum Abendessen des Pharisäers eingeladen. Nichtsdestoweniger widersetzt sie sich ganz ungeniert den üblichen Konventionen des Essens und der Gastfreundschaft im Altertum. Sie nimmt fast gewaltsam den Raum ein, der ihr nicht gegeben wird. Es ist, als ob sie etwas auf dem Herzen hat, von dem sie uns unbedingt erzählen möchte; etwas, das sie loswerden will, eine Art Erleichterung. Eine Erleichterung von ihrer Sündhaftigkeit. Sie wird in der Handlung lebendig, stürmt ins Haus herein, wirft ihr Haar heftig nach allen Seiten, legt sich mit ihrem Alabasterkrug auf den Boden, weint Tränen zu Füßen des Herrn und wischt sie sodann mit ihrem langen, schweren Haar ab. In Ermangelung verbaler Silben greift sie auf Gesten zurück. Sie handelt. Sie gibt sich bedingungslos hin. Und genau das ist der Grund, warum sich die Fragen nach der Empörung stellen. In ihrer Hingabe spricht sie ohne Worte. Ohne verbale Silben spricht sie laut durch ihren Akt der Liebe.

Das Provokative an der Erzählweise des Textes ist also das, was verschwiegen wird, während der Fokus auf die Fehler und Unzulänglichkeiten der Frau gerichtet wird. Dort, wo der Text stumm ist, klingt die Sündhaftigkeit der Frau nach. Das Schweigen wird zu einem Zeichen der Sündhaftigkeit, zu einem Zeichen der Unzulänglichkeit des Menschen in einer Welt, die dem Menschen sonst zu Füßen liegt. Im Text stillt die Stille der Frau. Im Haus des Pharisäers ist die Frau zum Schweigen verurteilt, zum Eingesperrtsein und Verstecken.

Statt das Wort zu ergreifen und die Kette des Schweigens durchzubrechen, wird sie zum Gegenstand einer großen Diskussion zwischen Jesus und dem Pharisäer. Sie wird gezwungen, sich anzuhören, was die beiden Männer über sie zu sagen haben. Passiv muss sie erleben, wie jeder von ihnen über ihren Kopf hinweg redet. Wie entfremdend muss eine solche Diskussion doch sein? Es ist – im ursprünglichen Wortsinn des Wortes – peinlich zu sehen, wie der Pharisäer und Jesus ihre Anwesenheit im Haus missachten. Genauso wenn Eltern von ihrem Kind in der dritten Person sprechen, während das Kind selbst im Raum anwesend ist. Es wirkt so gequält, wenn Menschen die Anwesenheit anderen Menschen marginalisieren; wenn Menschen die Gleichheit des anderen nicht anerkennen. Es ist eine Verstellung des Menschlichen, der menschlichen Offenheit in der Welt, wenn Menschen Schweigen auferlegt wird.

Und jedoch liegt in der Stille, die auf der Sünderin lastet, eine geistige Befreiung. Denn trotz der Umstände kann das Schweigen ihr Tun der Liebe nicht besiegen. Und das ist beruhigend zu wissen. Die harte Mauer des Schweigens kann sie nicht davon abhalten, sich dem Herrn zu widmen. Obwohl sie schweigt, fühlt sie sich zu Christus hingezogen, zum Glauben an seine Güte. Es ist, als würde auch Christus in einer stummen Sprache sprechen, als würde er sie leise anrufen, worauf sie mit der Leidenschaft ihres Herzens und nicht mit den mächtigen Worten ihres Mundes antwortet.

Der eine Abgrund ruft den anderen, sagt ein biblischer Spruch. Man könnte auch sagen: Die Stille des einen Abgrunds ruft die Stille des anderen Abgrunds herbei. Das ist jedenfalls der Sinn des Spruchs: Aus dem Schweigen erwächst ein neues Schweigen, eine neue Sprache des Glaubens, die zu einer kostbaren Intimität mit einem anderen Menschen werden kann. Der Glaube der Sünderin entsteht somit aus dem Nichts, aus der stillen Schuld. Und wir sehen bei ihr, wie sich die Bewegung des Glaubens durch den Gegenstand, den sie in der Hand hält, anschaulich entfaltet wird: Mit ihrem Alabasterkrug voller Öl bekennt sie ihren Glauben.

Ein Alabasterkrug ist ein wundersames Ding. Das Material des Gefäßes ähnelt brüchigem Gips. In seiner einfachen Form ist er farblos, fast durchsichtig, mit einem weißlich-kalkigen Schimmer. Seine Transparenz lässt das Volumen und die Fülle seines Inhalts erahnen; die Fülle des schweren Öls, mit dem Christus gesalbt ist.

Ein solches Gefäß muss zerstört werden, bevor sein Inhalt entleert werden kann. Es muss zu Grunde gehen, zu tausend Splittern auf dem Boden zerfallen. Es muss ein Behälter ohne Boden werden. Auch die Sünde ist einem Fass ohne Boden ähnlich, das den Menschen in tausend Stücke zerreißt. Sowohl der Alabasterkrug als auch die Sündhaftigkeit der Frau müssen zerbrechen.

In der Hingabe, die sie zeigt, ist sie so durchsichtig wie der Alabasterkrug. Sie hat nichts zu verbergen, gibt allerdings alles preis. Die Fülle ihrer Person wird entleert. Ihre Sündhaftigkeit wird wie der Alabasterkrug durch Christus zerbrochen. Ihr Liebesakt mag uns aber sehr überwältigend erscheinen, doch es ist, als ob der Alabasterkrug uns die Einfachheit ihres Handelns vor Augen führt. Denn ihre Tränen haben die gleiche Wirkung wie das Öl im Krug: Sie verursachen Befreiung und Ehrfurcht.

Mit ihrem Alabasterkrug bricht die Sünderin aus ihrer stummen Anonymität aus und wird zu einer Person. Die Salbung bedeutet die Anerkennung Jesu als Christus. Durch die Salbung tritt sie als eine Person vor. Sie wird zu einer Person durch Christus. Das volle Volumen der Salbung sagt ebenso viel über den transparenten Charakter des Glaubens der Sünderin aus wie darüber, wer der Herr Christus ist.

Und ist das nicht eben, was uns das Evangelium zu sagen hat? dass wir, wie der Alabasterkrug und die Sünderin, vor Gott und voreinander durchsichtig und lebendig werden sollen, damit wir aus der von der Sünde vorgetäuschten menschlichen Offenheit und Verschlossenheit ausbrechen können; damit wir vor dem Gott, der uns gnädig von der stummen Macht der Sünde befreit, Personen und ganze Menschen werden. Amen.

Predigt am 25. August 2022 in Vartov, Kopenhagen.

Übersetzt aus dem Dänischen ins Deutsche von Jonas Jochumsen.

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