Lukas 7,36-50

Lukas 7,36-50

11. So. n. Trinitatis | 20.08.23 | Lk 7,36-50 | Bert Hitzegrad |

Gnade mit uns und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen

Natürlich kam er zu spät. Polternd und lärmend betrat er die Kirche. Die Köpfe der kleinen Schar flogen herum Richtung Ausgang, um zu sehen, wer es wagte, den Gottesdienst zu stören. Ein Raunen ging durch die Gemeinde. Ungepflegt, ungewaschen, in viel zu weiter Kleidung, offenbar aus der Kleiderkammer, schlurfte er langsam voran.  Auch wenn er noch weit hinten in der Kirche war, man ahnte den Geruch, der langsam den Raum füllen würde. Eine Mischung aus Schweiß, Alkohol und kaltem Rauch konkurrierte mit dem Deo- und Seifengeruch der Gottesdienstbesucher im Sonntagsstaat.

Er hatte es also wahr gemacht. Sein Vorname war Karl, „Karl mit K wie Knast“ so sagte er. Am Abend zuvor klingelte er an der Tür des Pfarrhauses und bat um Hilfe. Er lebe seit Tagen auf der Straße, so berichtete er. Nach 5 Jahren im Gefängnis sei er nun endlich frei, aber wusste doch nicht wohin. Das Zimmer im Männerwohnheim, das man ihm zugewiesen hatte, hatte er gleich wieder verlassen. Er wollte nie wieder in einer Zelle gesperrt werden …. Damals hatte er seinen Job verloren und stand plötzlich ohne Geld da. Beim Zigarettenholen in der Tankstelle passierte es dann. Mit drei Schachteln Zigaretten verließ er den Shop ohne zu bezahlen. Der Tankwart wollte ihn aufhalten. Er wehrte sich, warf den Angreifer zu Boden. Der fiel offenbar so unglücklich auf den Kopf, dass er mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht werden musste, wo er bald danach verstarb. Passanten hatten Karl festgehalten und der Polizei übergeben. Von einem auf den anderen Moment hat er nicht nur seine Arbeit verloren, sondern auch sein Leben und seine Unschuld. Er hatte einen Menschen getötet. Das alles erzählt er dem  Pfarrer an der Türschwelle. Es fiel ihm nicht leicht, Worte zu finden, die Tat von damals zu beschreiben. Schließlich fragte er, wann Sonntag der Gottesdienst ist.

Er hat einen Schlafsack bekommen und etwas zu essen. Wo er übernachtete, das wusste niemand, aber es kann kein Hotel gewesen sein. Und nun war er da. Er hatte es also wahr gemacht. Die Gemeinde schaute Hilfe suchend zum Pastor. Könnte der nicht etwas sagen – so etwas wie „geschlossene Gesellschaft, Sie stören, Sie passen nicht in unsere Wohlfühlgemeinschaft, ein ungebetener Gast ….“ Nein, er sagte nichts von all dem. Er schlug die Bibel auf, suchte offenbar eine Textstelle. Es dauerte einen Augenblick bis er sie fand, dann schaute er auf und ein Lächeln flog über sein Gesicht.2 „Jesus vergibt Sünden!  Er schaut nicht auf das Äußere, sondern ins Herz. Und wo er Liebe findet, Sehnsucht und Hunger nach Gott, Vertrauen auf seine Nähe …, dort schenkt er Frieden.

„Hört wie Jesus eine  sogenannte Prostituierte in seiner Nähe zulässt. Er tut es als ein Beispiel dafür, dass jeder zu ihm, zu Gott kommen darf. Ich stelle Euch die Personen vor, die zu dieser Geschichte gehören.

Eine Sünderin wie Lukas sie nennt:

Ihre Sünde ist es, dass sie ihren Körper an Männer verkauft. Männer, die diese Frau benutzen für ihre Lust, für ihre Befriedigung. Männer, die ihre Frauen betrügen, die den Ort der Ehe verlassen, um ihre Sexualität auszuleben. Männer, die den Namen der Prostituierten noch nicht einmal kennen – sie ist einfach eine Sünderin. Wenn jemand fragt, wie sie ins dieses Gewerbe hineingekommen ist, zuckt sie mit den Schultern;  fragt man, ob sie genug davon hat, von Männern gebraucht und missbraucht zu werden, schließt sie die Augen.

Niemand fragt sie, ob sie auch dazu gehören möchte zu dieser Gemeinschaft der Guten, der so Anständigen, der so Gerechten Gottes.

Zu dieser Gesellschaft, zu diesen Gerechten gehört:

 Simon, ein Pharisäer.

Er ist einer, der sein Leben streng nach den Geboten ausrichtet, einer, der weiß, dass sein Glaube der einzige, der einzige und wahre ist … Er lädt in sein Haus ein, gebetene Gäste für interessante Begegnungen und tiefgreifende Gespräche. Selbstverständlich gibt es auch etwas zu essen und zu trinken, er kann es sich leisten, er hat ja von allem genug, er steht auf Gottes Seite, er weiß: „Ich bin gesegnet!“

Er lädt Jesus ein –  will er ihn testen, will er wissen, wer er wirklich ist? Will er prüfen, ob sie auf einer Linie sind in ihrem Glauben, in ihrem Vertrauen. Und da platzt die Sünderin hinein in die Szene. Vielleicht hat sie von Jesus gehört, vielleicht ist sie ihm schon begegnet. Mit Sicherheit weiß sie, wer er ist = anders als andere Männer: seine Liebe ist nicht verletzend, sondern heilend und stärkend. Er fordert nicht, sondern fördert das Vertrauen, dass Gott doch der Barmherzige ist, dass er in den Schatten dieser Welt doch ein Licht entfacht, dass er Frieden bringt, wo Seelen aufgewühlt sind, wo Menschen sich verletzen, wo große und kleine Katastrophen dem Leben seinen Sinn absprechen. Sie, die Sünderin, zu der sonst die Männer kommen; sie, die Liebhaberin für eine Stunde, wagt es, die Männerrunde zu unterbrechen. Ein ungebetener Gast. Ein Skandal: Jesus und die Prostituierte. Er, der Sohn Gottes in schlechter Gesellschaft. Lässt er es zu?

Nun hören wir die Erzählung von dem Abend im Haus des Simons, wie der Evangelist Lukas sie aufgeschrieben hat (Lk 7,36-59):

Jesu Salbung durch die Sünderin

36 Es bat ihn aber einer der Pharisäer, bei ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch.

37 Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, dass er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl

38 und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küsste seine Füße und salbte sie mit Salböl.

39 Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüsste er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin.

40 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es!

41 Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig.

42 Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er’s beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben?

43 Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt.

44 Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet.

45 Du hast mir keinen Kuss gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen.

46 Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt.

47 Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig.

48 Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben.

49 Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt?

50 Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!

Und Gott segne dieses sein Wort  an uns und lass es auch durch uns zu einem Segen werden.

Es sollte wohl ein entspannter Abend werden mit guten Gesprächen, mit Köstlichkeiten für den Gaumen, vielleicht aber auch mit der Klärung von Positionen, Ringen und Diskutieren um den wahren Glauben. Man reicht sich das Brot, probiert die Oliven, schenkt Wein nach und man ist sich einig, dass das höchste Gebot, Gott zu lieben und den Nächsten wie sich selbst, die gemeinsame Basis ist. Da kommt sie hinein – die Frau, die Lukas eine „Sünderin“ nennt. Die Frau, die sich für die Liebe verkauft, die Frau, die nicht redet, sondern handelt, sinnlich, liebevoll, intim, skandalös – eine Sünderin, von der man sich fernhalten muss. Doch Jesus geht nicht auf Abstand, er lässt es zu, er kann genießen, die Tränen auf den Füßen, das Kitzeln der Haare, die die Haut trocknen, die Küsse, die seine vom Wandern müden Füße beleben; das Salböl, teuer erstanden mit dem Geld der Liebesdienste, ein Bekenntnis zu seiner Königswürde. Sie zeigt ihm ihre Liebe und ihren Glauben ohne ein Wort, nur in ihrer Zuwendung. Nur mit der Zärtlichkeit ihrer Berührung zeigt sie, wer er ist. Für Simon eine treffliche Chance nun zu erfahren, ob er ein wahrer Prophet ist und diese Frau durchschaut, sie und ihr unreines, unmoralisches und verwerfliches Leben.

Jesus lässt sie gewähren und macht die unerwartete Situation zu einem Lehrstück: Er erzählt das Gleichnis von zwei Schuldnern mit einer riesigen Schuldenlast: 50 000 der eine, der andere nur ein Zehntel von dem: 5000. Beide können nicht bezahlen. Doch da wird ihnen ihre Schuld erlassen. Die Frage, die Jesus seinem Gastgeber stellt, ist eigentlich eine rhetorische: „Wer von ihnen, wer von den beiden Schuldnern wird den Gläubiger am meisten lieben?“

Mit der Auflösung der Frage, wer wen am meisten liebt, begründet er die Zuwendung der Frau, aber auch, dass jeder Schuld im Reisegepäck auf seinem Lebensweg hat. Ob Simon verstanden hat, dass auch er nicht perfekt im Glauben ist, dass auch er „Sünder“ ist? Doch er versteckt die Schatten des Lebens hinter der Maske des makellosen Glaubens. Die Frau ist weitaus ehrlicher. Sie kommt mit dem, was auf ihr lastet: Sie kommt mit der Traurigkeit, die ihre Augen mit Tränen füllt; sie kommt mit Demut und kniet zu Jesu Füßen; und sie schenkt sich, schenkt sich und ihr teures Öl, um den zu salben, der ihr lieb und teuer ist. „Dir sind deine Sünden vergeben,“ spricht Jesus Christus und provoziert damit weitere Fragen: Ist er nun ein Prophet, ist er ein von einer Hure Gesalbter, ist er der Messias aller, die sehnsüchtig auf Erlösung warten ….?

Die Frau darf Gottes Frieden spüren.

Wird er sie verändern? Wird sie ihre kleine Welt verändern können, herauskommen aus den Zwängen? Wird sie eine der ersten Jüngerinnen an Jesu Seite sein? Spekulation gibt es viele. So viele wie die Tränen, die sie vergossen hat.

„Dein Glaube hat Dir geholfen, geh hin in Frieden!“ Die Gemeinde steht im Kreis vorn am Altar. Sie haben Brot und Traubensaft erhalten, als eine Gemeinschaft haben sie das Abendmahl gefeiert – in  der Gemeinschaft untereinander und mit Gott. Sie durften diese Liebe schmecken und spüren, die Jesus denen schenkt, die glauben und vertrauen.

Auch Karl mit K wie Knast ist dabei. Die ganze Zeit hat er eine frostige Atmosphäre im Gottesdienst gespürt. „Was macht der Penner hier?“ schienen die Blicke zu fragen. „Was hat er auf dem Kerbholz? Was will der Sünder hier bei uns? Uns stören in unserer Sonntagsruhe?“ Als der Pastor einlud mit Jesu Worten „Kommt her alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will Euch erquicken!“, war er der erste, der vorn am Abendmahlstisch stand. Niemand sonst kam nach vorn. Bis der  Pastor noch einmal sagte: „Alle, die ihr mühselig und beladen seid!“ Da kamen sie. Und der eine oder andere Blick traf ihn – freundlich und aufmunternd. Frieden! Frieden hüllte ihn ein, wie in einen wärmenden Mantel.

Und dieser Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben. Amen.

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Verfasser:

Pastor Bert Hitzegrad
Claus-Meyn-Str. 11
21781 Cadenberge
Mail:
bhitzegrad@aol.com

Der Verfasser ist Pfarrer in der Landeskirche Hannovers und betreut zwei Gemeinden im nördlichen Niedersachsen – dicht an Elbe und Nordsee.

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