Mahner

9. Sonntag nach Trinitatis (9.8.2020) | Predigt zu Jeremia 1,4-10 | verfasst von Dr. Sven Keppler |

I. Letzten Samstag in Berlin. Etwa 20.000 Menschen demonstrieren auf der Straße des 17. Juni. Impfgegner. Corona-Leugner. Selbst ernannte „Querdenker“. Aber auch Rechtsradikale. Reichsbürger. In ihren Augen sind die staatlichen Corona-Maßnahmen eine große Verschwörung. Dagegen wollen sie aufbegehren. Auch, indem sie auf Schutzmaßnahmen verzichten.

Mitten unter ihnen die Journalistin Dunja Hayali. Sie dreht für’s ZDF. Interviewt die Demonstrierenden. Und trägt dabei eine Maske. Sie wird beschimpft und bedrängt. „Schämt euch!“ „Hau ab!“ Und immer wieder: „Lügenpresse, Lügenpresse!“ Die Filmende wird selbst gefilmt und vermutlich in den einschlägigen Netzwerken angeprangert. Auf den Rat ihrer Security bricht sie schließlich den Dreh ab.

Wer die Krisen unserer Zeit benennt, muss mit Feindseligkeit rechnen. Dabei bilden sich erstaunliche Allianzen. Sie reichen von kleinen Leuten bis zu Präsidenten. Corona? Eine kleine Grippe! Klimawandel? Eine Erfindung der Medien! Rechtsradikalismus? Ein Märchen des Establishments – um von dem eigentlichen Problem abzulenken, dass das deutsche Volk angeblich gerade gegen Migranten ausgetauscht werde.

Nach dem Zwischenhoch der Wendezeit ist es heute unübersehbar: Unsere Welt ist in ihren Fundamenten erschüttert. So tief, dass mir die Frage kommt: Kann die Menschheit überhaupt überleben? Oder zerstören wir gerade durch unsere große Zahl und unseren Lebensstil die Grundlagen unseres Daseins? Sorgen wir dafür, dass wir letztlich nur ein beeindruckendes und erschütterndes Gastspiel auf diesem Planeten geben dürfen?

Die Krisen machen Angst. Besonders durch ihre überwältigende Verdichtung: Klimawandel. Vermüllung. Artensterben. Überbevölkerung. Atomare Bedrohung. Globalisierter Kapitalismus. Soziale Spaltung. Armutsmigration. Vormarsch der Autoritären und Rechtspopulisten. Technisierung des gesamten Lebens. Und jetzt auch noch die Corona-Pandemie. All diese Probleme greifen ineinander und bilden ein bedrohliches Netz. Ein Netz, in dem wir uns immer mehr verfangen.

Irgendwie sind wir alle in der Angst verbunden: Linke wie Rechte. Es sind nicht immer dieselben Themen, die Angst machen. Aber es gibt dieses Grundgefühl der Krise. Der radikalen Bedrohtheit unseres Lebens. Man kann es leugnen. Aber trotzdem nagt und bohrt es weiter.

 

II. Das ist keine neue Erfahrung. Der Mann Jeremia machte sie ganz ähnlich schon vor 2.600 Jahren. Seine Mahnungen und sein Schicksal sind überliefert in einem großen Prophetenbuch.

Jeremias Thema ist die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft. Wirtschaftliche Ausbeutung. Fremdenfeindlichkeit. Soziale Ausgrenzung. Jeremia hat erkannt, dass diese Probleme ein globales Ausmaß haben. Er versteht sich nicht nur als Prophet für Israel, sondern für alle Völker. Und er begreift, dass die entscheidenden Motive der Krise alle miteinander vernetzt sind.

Im Mittelpunkt steht für Jeremia eine Krise des Glaubens. Wir folgen falschen Göttern. Opfern ihnen und schaden uns damit selbst. Unser ungerechtes und selbstzerstörerisches Verhalten hat hier seine Wurzel: Wir geben den falschen Göttern Macht über uns.

Jeremia klagt das schonungslos an. Immer wieder. Deutlich und laut. Er wird dafür beschimpft und bekämpft. Man pöbelt ihn genauso an wie Dunja Hayali: „Hau ab!“ Aber er bekommt auch den Widerstand des Establishments zu spüren, der Regierenden und der Priester.

Oft klingt es, als sähe er keinen Ausweg mehr. Als könne er nur noch darauf hinweisen, dass es für eine Umkehr zu spät ist. Manchmal leuchtet jedoch auch eine Hoffnung auf: Wenn wir unser Verhalten grundlegend ändern, dann wird Gott uns einen Neuanfang schenken.

 

III. Wie reagiere ich auf solch einen Mahner? Auf einen, der mich unverblümt angeht. Der mein Verhalten kritisiert. Der mich auf die Konsequenzen hinweist. Er kann Jeremia heißen. Oder Greta Thunberg.

Wie reagiere ich? Ich gebe es zu: Auch in mir regt sich Widerstand. Muss ich wirklich ständig mein Verhalten überprüfen? Was ich esse. Was ich konsumiere. Wie die Dinge hergestellt werden. Wie sie verpackt werden. Muss ich tatsächlich auf Fleisch verzichten? Auf mein Auto? Auf einen Teil meines Einkommens? Muss ich mich auf jede Minderheit wertschätzend einlassen? Ich denke: Ich habe doch schon so viel verändert. Ist es denn nie genug?

Ich spüre auch: Oft mache ich dicht. Ich denke: Welches Recht hat dieser Mensch, mein Verhalten zu beurteilen? Meine Werte. Meinen Glauben. Und stimmt wirklich jede Horrormeldung? Mit welcher Autorität sprechen die Kritiker überhaupt? Redet Jeremia wirklich in Gottes Auftrag? Und müssen wir Christen überhaupt die Umwelt retten? Schließlich weiß das Neue Testament doch um die Endlichkeit dieser Welt!

Aber ich weiß auch: Diese Gedanken bewegen sich an der Oberfläche. Sie entspringen meiner Unlust und meiner Trägheit. In meinen tieferen Schichten regt sich mein Gewissen. Und das sagt mir: Die Mahner haben recht! Ich muss mein Verhalten ändern. Und zwar von Grund auf.

Eigentlich muss ich sogar selbst zum Mahner werden. Aber wie mag es so einem kritischen Geist gehen? Was treibt ihn in die Öffentlichkeit? Woher nimmt so ein Mensch die Kraft? Die Orientierung für den eigenen Standpunkt? Den Mut, gegen Widerstände anzugehen? Das Vertrauen, die eigenen Ängste zu überwinden?

Jeremia gibt uns einen Einblick in die Quelle seines Auftrags. Darum geht es im heutigen Predigttext. Ich lese aus dem ersten Kapitel des Jeremiabuches [lesen: Jer 1,4-10].

 

IV. Ihr Lieben! Dass Jeremia zum Mahner wird, ist ein spirituelles Ereignis! Vielleicht hat er seine Mitmenschen beobachtet. Vielleicht ist er auch von sich aus zu dem Schluss gekommen, dass Vieles verkehrt läuft. Dass es Veränderungen geben muss. Aber er wird sich gesagt haben: „Sollen doch die anderen kämpfen. Ich bin zu jung.“

Selbst im Gebet hat er noch diese Widerstände. Selbst als er sich klar geworden ist, was Gott von ihm erwartet, sagt er: „Ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung.“ Dass er dennoch hervortritt, ist ein spirituelles Ereignis. Er kommt zu der Gewissheit: Gott will, dass ich den Mund aufmache!

Es ist nicht meine zufällige Meinung, die ich den Leuten aufdränge. Sondern was ich zu sagen habe, das entspricht Gottes Willen. Ich soll mich an alle Menschen wenden. Und ich brauche keine Angst zu haben. Denn wenn Gott will, dass ich rede, dann wird er mich auch behüten!

Jeremia weiß, dass er etwas Unerhörtes tun soll. Er soll sich nicht nur an Israel wenden. Sondern was er zu sagen hat, das ist für alle Völker. Und gerade darin weiß er sich von Gott beauftragt: Ich bestelle dich zum Propheten für die Völker.

Und auch was er sagen soll, ist für ihn eine spirituelle Gewissheit. Er muss drohen. Er muss den Menschen Hartes zumuten. Er muss an die Grenze gehen. Aber er soll nicht bei der Verzweiflung stehen bleiben. Bei aller Krise, aller Drohung und allem Gericht steht am Ende die Hoffnung: Du sollst ausreißen und einreißen, zerstören und verderben, bauen und pflanzen.

Wie hat Jeremia Gott gehört? Wie hat der zu ihm geredet? Im Traum? Oder im Gebet? Wir wissen es nicht. Jedenfalls ist Jeremia gewiss, dass Gott ihn anspricht. Wenn einer zum Mahner Gottes wird, ist das ein spirituelles Ereignis. Eine Gewissheit. Und ein Geheimnis zwischen diesem Menschen und Gott.

 

V. Ihr Lieben! Weil das so ist, gilt auch das Umgekehrte: Wenn mich, wenn Euch die Stimme eines Mahners anspricht und bewegt, dann ist das ebenfalls ein spirituelles Ereignis! Natürlich ist es, wenn sich Widerstand regt. Ich will mich nicht infrage stellen lassen. Ich will mein Leben nicht umkrempeln müssen. Ich will so bleiben, wie ich bin.

Warum sollte ich auf den Mahner hören? Wenn einer wie Jeremia sagt: „Gott spricht durch mich. Ich rede in Gottes Auftrag“ – ganz ehrlich, liebe Gemeinde: Natürlich halte ich das für fragwürdig. Wie kommt jemand dazu, Gottes Autorität für sich zu beanspruchen? Wie unseriös!

Aber manchmal geschieht das Außerordentliche. Wenn mich, wenn Euch ein gutes Anliegen erreicht. Wenn wir nicht in Zweifeln oder Einwänden stecken bleiben. Wenn ich begreife: Mein Gegenüber hat recht! Wenn ich spüre: Ja, mein Gewissen sagt dasselbe. Und wenn ich dann auch noch mutig und zuversichtlich werde – dann ist das wirklich ein spirituelles Ereignis.

Dass ich in den Krisen dieser Tage verzweifle, ist nur natürlich. Wenn ich trotzdem Mut bekomme und Lust auf Veränderung zum Guten, dann ist ein anderer Geist am Werk. Und wenn wir dann auch noch gemeinsam anfangen, unseren Teil zu einer besseren Welt beizutragen, dann ist Gottes Kraft in uns wirksam. Denn er gibt nicht nur Jeremia, er gibt auch uns den Auftrag und die Kraft, zu bauen und zu pflanzen. Amen.

 

 

 

 

Pfarrer Dr. Sven Keppler

Versmold

sven.keppler@kk-ekvw.de

 

Sven Keppler, geb. 1968, Pfarrer der Evangelischen Kirche von Westfalen. Seit 2010 Pfarrer in der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Versmold. Autor von Rundfunkandachten im WDR.

 

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