Nicht ausweichen, sondern vertrauen…

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Nicht ausweichen, sondern vertrauen…

Predigt zu Jer 1,4-10 | am 9. August 2020 (9. Sonntag nach Trinitatis) | Christuskirche Oftersheim | verfasst von Sibylle Rolf |

Liebe Gemeinde,

 

In den letzten Monaten und Wochen habe ich manchmal das Gefühl gehabt, meine Kräfte werden über Gebühr beansprucht. Corona. Der Lockdown und die Zeit danach. So viel Unsicherheit. So viel Sorge, Angst und Verzicht. Wir werden im Leben nicht immer gefragt, ob wir haben wollen, was uns zufällt. Und manches ist zu viel. Das hat nicht nur mit Corona zu tun. Es gibt solche Zeiten immer wieder im Leben, in denen ich denke: Manchmal würde ich lieber ausweichen.

 

Auch er wäre gerne ausgewichen. Ein Mann aus einer ganz anderen Zeit. Einer, der über Gebühr beansprucht wurde. Ein Prophet wider Willen. Jeremia, ein Priestersohn im 7. Jahrhundert vor Christus. Gegen seinen Willen und über seine Kraft hinaus wird er von Gott berufen. Das Südreich Israels, Juda, in dem er lebt, ist eingekeilt zwischen den Großmächten seiner Zeit: Assyrer, Babylonier, Ägypter. Die Verantwortlichen verlieren den Kopf, schließen falsche Bündnisse und lassen ihr Vertrauen auf Gott fahren. Jeremia mahnt und wirbt: wendet euch zu Gott zurück. Vertraut auf ihn, und er wird euch helfen. Die Menschen hören nicht auf ihn.

So wird sein Leben selbst zum Zeichen. Jeremia bleibt unverheiratet und kinderlos, um auf den Niedergang des Volkes hinzuweisen. Er trägt ein Joch durch die Straßen, um zu zeigen, wie sich das Volk unter die Herrschaft der Babylonier erniedrigt. Die Menschen glauben ihm nicht. Sie schieben ihre Angst auf ihn und werfen ihn in eine Zisterne. Der Schlamm hält seine Füße fest, erst in letzter Minute wird er gerettet. Jeremia bleibt Gott treu. Er findet den Mut, seinen eigenen Weg zu gehen. Er weicht nicht aus. Dafür wird ihm nicht gedankt, im Gegenteil. Menschen ertragen es in der Regel nicht, wenn einer die Wahrheit sagt. Als alles beginnt, ist er noch jung, 23 Jahre alt. Ob er den Weg noch einmal gehen würde? Niemand weiß es. Es ist gut, wenn beim Losgehen manche Schritte noch im Verborgenen liegen. Jeremias Berufungsgeschichte ist unser heutiger Predigttext.

 

Jeremia 1,4-10

4 Und des HERRN Wort geschah zu mir: 5 Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker. 6 Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. 7 Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. 8 Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR. 9 Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. 10 Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.

 

Ehe ich dich im Mutterleib bereitete… schon vor der Geburt berufen… ist das letzte Wort über ein Leben schon gesprochen, bevor ein Mensch sein erstes Wort denkt oder spricht? Verfolgt Gott seinen Plan ziel- und detailgenau und hat alles vorher bestimmt? Jeremia legt zumindest nahe, dass im letzten nicht ich die Weichen meines Lebens stelle. Meine Eltern auch nicht. Gott legt in mein Leben Begabungen hinein, Charakterzüge und Fähigkeiten. Er hält mein Werden und Vergehen in seiner Hand. In seiner Hand, die größer ist als alles, was ich meinem Leben hinzufügen oder wegnehmen kann. Herr, ich bin zu jung, ich kann das nicht, antwortet Jeremia. Vielleicht eine Ausrede. – Aber was hätte ich geantwortet? Wie leicht fällen Menschen ein Urteil über einen anderen: der kann das nicht. Dem fehlt die Kompetenz, die Geschicklichkeit, die Klugheit oder die Redebegabung. Oder: schau doch seine Eltern an. Aus dem kann nichts werden. – Und wie leicht machen Menschen sich ein solches Urteil zu eigen. Ich kann das nicht, bin nicht klug, nicht redegewandt, nicht geschickt genug, habe keine Erfahrung und nicht die nötige Ausbildung. Und dann gehen wir ohne Zutrauen durchs Leben, scheitern schon vor dem Versuch.

Gott hat das erste und das letzte Wort über Jeremias Leben und über jedes Leben. Besser Gott als irgendein anderer. Und Gott traut Jeremia etwas zu. Mehr als der sich selbst zugetraut hätte. Und mehr als Jeremia meint tragen zu können. Am Anfang des Weges steht Gottes Zutrauen. Sage nicht „ich bin zu jung“, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen, was ich dir gebiete.

Zutrauen ist gut, um einen Weg zu beginnen. Aber du sollst… Ich will lieber wollen als sollen… Auf der anderen Seite: Jeremia wäre seinen Weg wohl nie aus freien Stücken gegangen, so wie wir manche Wege nur gehen, weil wir sie gehen müssen, nicht weil wir sie uns ausgesucht haben. Jeremia wollte nicht. Um nichts in der Welt. Er hat Angst vor dem, was vor ihm liegt. Vor dem, was andere ihm antun könnten. Und seine Geschichte zeigt, dass seine Angst nicht unberechtigt ist. Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn er Nein gesagt hätte? Vermutlich wären ihm Schmerzen erspart geblieben. Es wäre weniger anstrengend gewesen, vielleicht auch weniger einsam. Er hätte weniger Tränen weinen müssen. Aber es wäre nicht sein Leben gewesen. Er wäre vor seinem Leben geflohen, hätte an seinem Leben vorbei gelebt. Er hätte die Tiefe seines eigenen Lebens verfehlt. Hätte manches Schwere nicht erleben müssen, aber auch Gottes Nähe und Schutz nicht für sich selbst gespürt. Jeremia ahnt vielleicht: du hast immer eine Wahl, so jung du auch sein magst. Mag auch noch so vieles von anderen vorab entschieden sein. Du hast immer die Wahl, dein eigenes Leben zu ergreifen und zu leben, dich zu zeigen, oder dich nach dem zu richten, was andere von dir erwarten. Es ist schwer, sich für sein eigenes Leben zu entscheiden. Es tut weh und macht mitunter einsam. Du fällst auch immer wieder auf die Erwartungen der anderen zurück. Aber es ist dein Leben – und Gott wird dieses Leben begleiten und behüten. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten.

Welch eine Zusage. Ich bin bei dir, spricht dein Gott.

Wenn Du Deinen Weg durchs Leben gehst – ich bin bei Dir.

Wenn es Dir gut geht – ich bin bei Dir.

Wenn Dir Tränen den Blick verschleiern und Du vor Trauer nicht mehr weißt, wie Du den Tag durchstehen sollst – ich bin bei Dir.

Wenn Du glücklich einen Menschen in die Arme schließt, der Dir alles bedeutet – ich bin bei Dir.

Wenn Du traurig Abschied nehmen musst von einem Menschen, der Dir alles bedeutet hat – ich bin bei Dir.

Wenn Du vor dem Spiegel stehst und Dir selber nicht in die Augen schauen magst – ich bin bei Dir.

Wenn Du das Gefühl hast, von der Welt und von Gott verlassen zu sein – ich bin bei Dir.

Er ist dabei. Welch ein Geschenk. Und erst dann kommt sein Auftrag. Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.Genauso hätte er auch sagen können: ich bin bei dir bei allem, was das Leben dir gibt und nimmt. Bei allem, was du erlebst und erleidest. Jeremia hat Angst. Und im Rückblick hat ihm das Leben mehr genommen als gegeben. Auf vieles hat er verzichten müssen. Und doch steht über seinem Leben die Zusage: ich bin bei dir. Und er hat, als Prophet wider Willen, sein eigenes Leben geführt. In aller Widerständigkeit. Der Auftrag war groß. Vielleicht zu groß. Aber er hat ihn für sich selbst angenommen und sich begleitet erfahren. Ich glaube, das ist groß und viel, was man über ein Leben sagen kann. Und sein Buch, das Buch Jeremia in unserer Bibel, erzählt davon, wie er alles aus Gottes Hand genommen hat. Amen.

 

Pfrin. apl. Prof. Dr. Sibylle Rolf

Kirchengemeinde Oftersheim

sibylle.rolf@kbz.ekiba.de

 

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