Resonanz spüren

Resonanz spüren

9. Sonntag nach Trinitatis – 09.08.2020 | Predigt zu Jeremia 1, 4-12 | verfasst von Sabine Handrick |

 

Das Wort Gottes erreichte mich: 

Schon bevor ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich erkannt.

Noch bevor du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich an mich gezogen.

Zum Propheten für die Nationen habe ich dich bestimmt. 

Ich sagte: Ach, Gott, du göttliche Macht!

Ich kann doch nicht reden, ich bin noch so jung. 

Gott antwortete mir: Sag nicht, ich bin noch so jung.

Denn wohin ich dich schicke, dorthin sollst du gehen,

und was ich dir auftrage, das sollst du sagen. 

Habe keine Angst vor ihnen, denn ich bin mit dir, um dich zu retten, so Gottes Spruch.

Dann streckte Gott die Hand aus, berührte meinen Mund und Gott sagte zu mir:

Hiermit lege ich meine Worte in deinen Mund. 

Siehe, heute setze ich dich über die Nationen und über die Königreiche ein, um auszureißen und einzureißen, um zugrunde zu richten und niederzureißen, um aufzurichten und einzupflanzen.

Dann erreichte mich das Wort Gottes: Was siehst du, Jeremia?

Ich antwortete: Einen Mandelzweig sehe ich. 

Gott erwiderte mir: Gut hast du beobachtet, denn ich wache über meinem Wort, um es auszuführen.    

Übersetzung: Bibel in gerechter Sprache

 

Liebe Gemeinde!

Heute nehme ich Euch mit auf eine Spurensuche durch Wort und Zeit, Poesie und Klang. Beginnen möchte ich die Predigt mit einer persönlichen Erinnerung. Sie gehört zu meinen ersten spirituellen Erfahrungen, auf die ich mich besinnen kann.

Und wenn Ihr mir zuhört, mögt Ihr Euch fragen: Kenne ich Ähnliches? Wie war es bei mir? Überfiel mich irgendwann einmal dieses Gefühl des Überwältigt-Seins, ein Staunen, das sich mit Worten kaum ausdrücken lässt?

Ich war 4 bis 6 Jahre alt, älter kaum, denn ich ging noch nicht zur Schule. Ich konnte nicht lesen, was auf den Zetteln stand, die die Anderen in den Händen hielten. Ich sass auf einer Kirchenbank weit oben auf einer der Emporen in dieser riesigen Kirche. Der helle, schlichte Raum war erfüllt vom Chorgesang. Ich konnte alles gut sehen, die Orgel, die Lichter, den ganzen Chor. Die Knabenstimmen strahlten und liessen eine Musik erklingen, die meinen inneren Raum ganz weit machte.

Ich genoss jede Minute und hätte noch viel länger stillsitzen können als jene halbe Stunde, die die Kreuzchor-Vesper ungefähr dauerte. Meine Eltern nahmen mich oft mit zu diesen musikalischen Andachten.

In meiner Erinnerung sehe ich sie vor mir, die kleinen Solisten nur wenig älter als ich. Ihr heller Sopran tönte durch die ganze Kirche. Ob sie oder ich damals wirklich verstanden, wovon sie sangen, sei dahingestellt, aber dieser Musik konnte ich mich nicht entziehen. Ich spürte tief in mir, dass uns eine Wirklichkeit umgibt, die grösser ist als wir, und die unser Verstehen weit übersteigt.

 

Als Jeremia Gott begegnet, ist er ein sehr junger Mann, fast noch ein Kind. Er kann kaum fassen, was ihm da widerfährt. Doch die Antwort, die er bekommt, ist eindeutig: Sag nicht, ich bin noch so jung!

 

Am Beginn des Jeremia-Buches in der hebräischen Bibel findet man die Erinnerung an diese Begegnung zwischen Gott und Jeremia. Jeremia wurde vor ungefähr 2650 Jahren geboren (627-586). Er stammte aus einer Priesterfamilie. Seine Kindheit verbrachte er in der Nähe von Jerusalem.

Er hatte einen treuen Freund, der hiess Baruch und dieser schrieb viele Jahre später auf, was Jeremia einst erlebt hatte.

Wie aber das Wort Gottes zu Jeremia geschah1 , ob er es hörte oder innerlich spürte, ist schwer zu sagen. Aber dass da ein Gegenüber vernehmbar war, dieses ferne und doch nahe DU, das ihn ansprach, wird aus dem biblischen Text deutlich. «Das Wort Gottes erreichte mich.“ übersetzt die Bibel in gerechter Sprache.

Meine Lieben, stellen wir uns diese Begegnung wie einen inneren Dialog vor:

 

Jeremia. Jeremia – Du gehörst zu mir!

Mhhh. Was war das? Wie bitte?

Ja. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein. Ich kenne dich, schon lange. Im Mutterleib schon, bevor Du das Licht der Welt erblicktest, habe ich deine Einzigartigkeit gesehen. Ich habe einen Plan für dich! …. Ich werde dich zu meinem Propheten machen.

O Gott – nein! Such dir einen anderen! Ich bin viel zu jung. Deine Macht – wie soll ich das aushalten?

Hab keine Angst. Ich weiss, du kannst es. Durch dich werden Menschen aus aller Welt viel lernen.

Ich weiss nicht. Wer soll auf mich hören? Mir zittern jetzt schon die Knie. Ich bin dem nicht gewachsen.

Ich bin bei dir, fürchte dich nicht. Ich werde dir beistehen und du wirst wissen, was du sagen sollst. Bald schon wirst du dich auf den Weg machen.

Nein, nein, nein. Ich kann das nicht. Ich bin ein Nichts. Andere wissen viel mehr als ich. Ich kann nicht…

(Psst) Spürst du es…? (ich berühre deinen Mund) Ich werde dir meine Worte in den Mund legen. Mit meinem Geist wirst du sprechen. Du wirst schon sehen!

Und wenn sie nicht auf dich hören, dann bekommen sie es mit mir zu tun!

Dich aber werde ich retten. Vertrau mir.

Danach bleibt die Stimme, die zu ihm sprach, still.

Jeremia schweigt. Sein Herz brennt. Sein Mund fühlt sich taub an. Sein Kopf ist leer. Er verbirgt sein Gesicht in den Händen und versucht, die unglaublichen Gedanken fortzuwischen. Als er die Augen öffnet – sieht er einen blühenden Mandelzweig vor sich.

Siehst du?! …Genau. Du siehst es! Ich werde dafür sorgen, dass es geschieht, wozu ich dich sende… verlier nie die Hoffnung!

 

Liebe Gemeinde, an dieser Stelle blenden wir uns aus. Jeremia kann sich dem Auftrag nicht entziehen. Gott macht ihn zu seinem Propheten und zu seinem Sprachrohr. Ob der will oder nicht – von nun an, wird er Gottes Rufer sein, ein Berufener, der laut und vernehmlich Gottes Wort in die Welt trägt. Er wird seine Stimme erheben und ausrufen, damit alle hören und verstehen.

 

Doch das Gegenteil passiert. Die Menschen sind blind für die Zeichen der Zeit und taub für die Machtworte Gottes. Jeremias Zeitgenossen kehren Gott den Rücken.3 Der Glauben, die einzigartige Beziehung zu Gott, verflüchtigt sich.

Jeremia mahnt: „Ihr könnt noch so viele Opfer im Tempel darbringen, wie ihr wollt. Das ist es nicht, worauf es ankommt.“ Doch er dringt nicht durch. Sie hören nicht auf ihn.

Die Menschen sehen einfach nicht ein, warum sie irgendetwas ändern sollten. Es geht ihnen doch super. Einigermassen friedliche Zeiten und reichliche Ernten bescheren ihnen ein gutes Leben. – Gekonnt blenden sie aus, dass ihr Wohlstand auf Kosten anderer geht und die perfekte Fassade brüchig wird.

Soziales Unrecht schreit zum Himmel, doch niemand hört hin. Nur schulterzuckendes „Was soll‘s?“.

Die Prognosen der Experten sind doch günstig.  Niemand ahnt die aufziehende Gefahr.

„Lächerlich, was dieser Bursche vom Lande von sich gibt. Was will der Provinzler hier?“, höhnen sie.

„Der soll sich raushalten und den Mund halten.“

Jeremia ist kein beliebter Prediger. Zu sehr kratzen seine Worte an den selbstbezogenen Gewissheiten einer wohlversorgten Priesterschaft und rütteln an den Gewohnheiten der Leute.

Auch wenn die Stimmung gegen ihn immer aggressiver wird, Jeremia kann nicht schweigen.

Wenn er vom Wort Gottes ergriffen ist, muss er reden. Er versucht alles Mögliche, um den Menschen die Augen zu öffnen. Zum Beispiel nimmt er einmal einen riesigen Tonkrug und zerschmettert ihn am Boden, um deutlich zu machen: Euer Leben wird zu Bruch gehen, wenn ihr weiter macht wie bisher. Ihr werdet vor einem Trümmerhaufen stehen!

Es kostet ihn beinahe Kopf und Kragen. Eine aufgebrachte Menge will Jeremia umbringen. Er wird gefangen genommen und als er sogar dem König rät, sich der Grossmacht Babylon zu beugen, kommt dies Hochverrat gleich.

 

Liebe Gemeinde, es gäbe noch viel zu berichten über die historische Situation, über die Missstände in einer Gesellschaft, die Gemeinschaft und Solidarität über Bord warf und dem Glauben an Gott nach und nach den Rücken kehrte. Auch die politische Grosswetterlage wäre interessant, um zu sehen, wie ein kleines Land zwischen den Interessen der Grossmächte zerrieben wurde. Im Rückblick ist deutlich, dass die sture Verweigerungshaltung den Niedergang des judäischen Königreiches begünstigte. Die Katastrophe kam. Nebukadnezars Truppen eroberten im Jahr 587 Jerusalem, zerstörten den Tempel und zwangen die Mehrheit des Volkes ins Exil.

Soweit die Geschichte – das mag als Einordnung genügen.

 

Meine Lieben, sind Euch beim Zuhören bisher aktuelle Parallelen durch den Sinn gegangen? …

Wie können wir erkennen, was Gott uns sagen will? Was ist jetzt dran, hier und heute? –

Das ist gerade auch in der gegenwärtigen Krisenzeit nicht einfach zu entscheiden.

Wie gewinnen wir Orientierung inmitten von Pandemie und Infodemie, im Gewirr von Meinungen und Prognosen, im Streit von Wissenschaftlern und Politikern, in den täglichen Auseinandersetzungen um das richtige Handeln?

Woher weiss ich, welcher Statistik ich glauben kann? – Ja, ja – der, die ich selber gefälscht habe… aber im Ernst: Wem schenken wir Vertrauen? – Ich denke, dass es gegenwärtig besonders wichtig ist, genau hinzuschauen und sich in kritischer Unterscheidung zu üben.

 

Stehen nicht auch heute prophetische Menschen auf?

Hören wir den Weckruf der Mahnerinnen und Mahner, die unser schlafendes Bewusstsein wachrütteln? „Leute, die Anzeiger des Klimawandels stehen auf kurz vor 12!

Ändert Euer Verhalten, damit die Menschheit nicht in der Katastrophe landet!“

 

Jeremia hörte einst auch: Siehe, heute setze ich dich … ein, um auszureißen und einzureißen, um zugrunde zu richten und niederzureißen, um aufzurichten und einzupflanzen. (Jer. 1,10)

Seltsame Tätigkeiten. Er ist dazu bestimmt, das Unkraut in den Köpfen zu jäten und die falschen Gedankengebäudezum Einsturz zu bringen. Wenn man meint, man könne sich Gott verfügbar machen und die Welt nach den eigenen Wünschen in den Griff kriegen, wird diese Art von Selbstüberschätzung in sich zusammenfallen.

Und doch gibt es Hoffnung. Gott pflanzt sie uns ins Herz und richtet uns auf: Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt? 4

 

Öffnen wir die Sinne für die Zeichen Gottes.

Heben wir unsere Herzen Gott entgegen.

Lassen wir uns vom Wort Gottes berühren.

Auf welche Weise dies geschieht, ist höchst individuell und immer wieder anders: Laut oder leise, kraftvoll oder schwebend. Gott sucht sich den Weg zu uns und will bei uns Gehör finden.

Verdräng nicht den Schmerz, der dir durch Mark und Bein geht, wenn du Unrecht spürst!

Schweig nicht, wenn dich heiliger Zorn ergreift und sich Gehör verschaffen will!

Und wenn dich Leid überfällt und du dich am liebsten verkriechen möchtest, weil du dich von Gott und der Welt verlassen wähnst. Vertrau: Du bist nicht allein.

Gott ist für uns da. Immer. Es gibt keinen Ort und keine Zeit, wo Gott nicht wäre.5

Es hat überhaupt keinen Sinn, Gott den Rücken zu kehren. Besser, den Kontakt zu halten, das Angesicht Gottes über dir leuchten zu lassen! Gibt es etwas Grösseres als die Macht dessen, der Himmel und Erde gemacht hat und der dir mit Liebe begegnet? 6

Liebe Gemeinde, neben den Propheten gibt es auch immer wieder begnadete Künstler, die etwas in uns anstossen, was über den Moment hinaus in uns nachwirkt.

Rainer Maria Rilke nannte sein Gedicht „Liebes-Lied“. Man kann dabei natürlich an ein Paar denken, an menschliche Liebende.

Bei mir erzeugt es allerdings mehr Resonanz, wenn ich an die Beziehung zwischen Mensch und Gott denke.7

 

Wie soll ich meine Seele halten, daß

sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie

hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas

Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die

nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süßes Lied.

Hört Ihr es, wie der innere Raum sich mit Liebe füllt? Im Zusammenspiel von DU und ich entsteht Musik und es erklingt in uns das Geheimnis von Gottes Wahrheit.

 

Jeremia hatte den Mut, sich zum Instrument Gottes machen zu lassen. Trotz aller Bedenken vertraute er auf Gottes Wort. Seine Zeugnisse werden noch heute in aller Welt gehört.

So bewahrheitet sich auch, dass Gott Jeremia zum Lehrer nicht nur für sein Volk, sondern für die Nationen8bestimmte. Amen

 

Kontexte:

 

Jürgen Rennert: JEREMIA SEIN9

Jeremia sein heißt: Unbarmherzig
Und früh gefordert zu werden. Heißt:
Auszuharren. Heißt: Dazubleiben. Heißt:
Sich nicht einzuschmeicheln, weder
Beim Volk noch beim König. Heißt:
Ja zu sagen zum Joch
Eigner und fremder Geschichte. Heißt:
Gottes Vernunft als politisch
Vernünftig anzuerkennen und zu verteidigen.
Heißt: Wider eigenes Wünschen
Recht behalten zu müssen, seinen Staat
Sich sinnlos auflehnen und
In Dummheit versinken zu sehen. Heißt:
Ohnmächtig werden und noch im Alter
Unfreiwillig auf eine
Unerwünschte Seite geraten. Heißt:
Unerkannt, anonym sterben.

Franz Werfel, Jeremias – Höret die Stimme, Roman, 1956, S. Fischer Verlag

Online verfügbar unter: https://www.projekt-gutenberg.org/werfel/jeremias/titlepage.html

 

Lieder:

 

Ich steh vor dir mit leeren Händen Herr, EG 382,1-3/RG 213

Lobe den Herren den mächtigen König der Ehren, EG 316,1-4/RG 242

Freunde, dass der Mandelzweig, EG 659,1-4

Auf und macht die Herzen weit, EG 454,1-6

 

 

 

 

Anmerkungen

 

1 Jer. 1,4f.: «SEINE Rede geschah zu mir, es sprach: Ehe ich dich bildete im Mutterleib, habe ich dich erkannt, ehe du aus dem Schosse fuhrst, habe ich dich geheiligt, als Künder den Weltenstämmen habe ich dich gegeben.» Die Schrift, Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Gütersloh 2007

2 Zur Unterscheidung der biblischen Funktion des Propheten als Heraus-Sager und nicht Vorher-Sager vgl. Jürgen Ebach, Das Alte Testament als Klangraum des evangelischen Gottesdienstes, Gütersloh, 2017, S. 258

3 Jer.7, 24

4 Freunde, dass der Mandelzweig, EG 659, Schalom Ben-Chorin nach Jer. 1,11.

5 Psalm 139 – Wenn Psalm 139 anstelle des Wochenpsalms 63 im Gottesdienst gebetet wird, ermöglicht dies der Gemeinde, den Nachklang dieser Aussage in der Predigt zu hören.

6Lobe den Herren, der sichtbar dein Leben gesegnet, der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet. Denke daran, was der Allmächtige kann, der dir mit Liebe begegnet.“ EG 316,4/ RG 242,4

7 Wem es technisch möglich ist, folgende Aufnahme in der Predigt einzuspielen, dem empfehle ich die sehr überzeugende Interpretation des Rilke-Gedichts von Ulrich Mühe: https://www.youtube.com/watch?v=537Uv1P8YXs

8 Wie Jürgen Ebach, a.a.O. S. 268f, treffend beschreibt, sind wir diejenigen, die durch die hebräische Bibel mitlernen dürfen und denen der Auftrag des Auferstandenen gilt: „Macht euch auf den Weg und lasst alle Völker mitlernen.“ Mt.28,19a

9 Quelle: http://www.rennert.de/public/seite-29.htm

 

 

 

 

 

Sabine Handrick

Düdingen

pfarramt@refdue.ch

 

Sabine Handrick ist Pfarrerin der Reformierten Kirchgemeinde Düdingen.

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