Markus 10,2-16

Markus 10,2-16

Von Kindern und Honig | 20. Sonntag nach Trinitatis | 22.10.23 | Mk 10,2-16 | Barbara Signer |

Liebe Brüder, liebe Schwestern

Ich habe fast über 30 Jahre lang in einem Chor gesungen. In den späten 80ern führten wir unter unserem neuen dynamischen Dirigenten „Le Laudi“ von Hermann Sutter auf. Die Aufführung gedieh zu einem Highlight: wunderbare Solisten, sphärische Klänge, ein beglücktes Publikum und ein euphorisierter Chor. Und so wurde auch die Nachfeier etwas feucht-fröhlich. Eine kleine Gruppe Unentwegter kehrte zu sehr später Stunde in die Kirche zurück, um eines der Stücke noch einmal zu singen und den Zauber des Moments erneut aufleben zu lassen. Als wir uns gerade auf die Bühne begaben, wollte sich einer im Vorbeigehen am Glockenspiel versuchen. Das Resultat war ein dissonantes Getöse, das uns erschreckte und prompt den ätzenden Kommentar provozierte: „Werdet wie die Kinder!“ Das ist nun zwar ein Zitat aus einer Stelle bei Matthäus (Mt 18,3), aber die Stossrichtung ist dieselbe wie in unserem Predigttext. Oftmals assoziieren wir mit diesem Bibelvers kindisches Verhalten. Der Duden informiert uns, dass damit unangemessenes, für einen Erwachsenen unpassendes, törichtes, albernes und unreifes Verhalten gemeint sei. Ein abwertender Begriff also. Dabei gibt es in der deutschen Sprache auch noch den Ausdruck „kindlich“: Er bedeutet in Art, Wesen, Ausdruck und Aussehen einem Kind gemäss oder zu ihm passend. Ich denke, damit kommen wir dem näher, was Jesus gemeint hat, als er sagte: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen.

Ins Himmelreich kommt man also nur, wenn man wird wie ein Kind. Geht das denn überhaupt? Ich habe als 60-Jährige eigentlich nur noch vage Erinnerungen an meine frühe Kindheit: Expeditionen im Quartier mit Besuchen bei älteren Damen in vornehm-verstaubten Wohnungen fallen mir da ein, Beerenklau im nachbarlichen Garten, unzählige Strumpfhosen, an den Knien zerrissen, und Windjacken, die am Rücken geflickt werden mussten, weil ich zum x-ten Mal unerlaubterweise über einen Gartenzaun geklettert war und mir dabei die Jacke an den eisernen Zacken zerrissen hatte. Sie sehen, schon im zarten Alter von weniger als 6 Jahren war ich alles andere als ein Unschuldslamm. Deshalb frage ich mich auch, ob wir unsere Idealvorstellungen vom Kindsein auf diesen Text projizieren dürfen. Wenn es dabei um Reinheit des Herzens und Unschuld ginge, müsste ich mich in ein Kind zurückverwandeln, an das ich mich überhaupt nicht mehr erinnern kann. Wie könnte ich das? Geht es tatsächlich um unsere Vorstellungen eines Kindes? Und wenn ja, um welche Vorstellungen handelt es sich? Etwa die Rousseaus oder Pestalozzis, oder diejenige moderner Kinderpsychologen?

Was bedeutete es denn zu Jesu Zeiten, ein Kind zu sein? Seine soziale und rechtliche Stellung war äusserst schlecht, sogar im Judentum. Während andere antike Kulturen überzählige, schwache und kranke Kinder ohne moralische Bedenken aussetzten, betrachteten Juden ihre Kinder als Gabe Gottes, als Beweis von Wohlergehen. Dennoch wurden sie als unfertig und nicht urteilsfähig betrachtet. Der griechische Begriff paidìon, der im Urtext verwendet wird, kann auch „Sklave“ bedeuten, was uns einen Hinweis auf die rechtliche Stellung von Kindern im damaligen Umfeld gibt: Sie standen unter der unbegrenzten Autorität ihrer Väter. Kinder waren also im antiken Judentum nicht nur körperlich klein, sondern hatten keine Rechte und waren völlig machtlos.

Diesen Kleinen, Rechtlosen und Ohnmächtigen gehört also das Reich Gottes. Diese Aussage Jesu steht in Spannung zum Anfang unseres Predigttextes. Da geht es oberflächlich gesehen um ein ganz anderes Thema: Die Pharisäer wollen mit Jesus darüber diskutieren, ob Ehescheidung erlaubt ist oder nicht. Es geht ihnen dabei weniger um das menschliche Drama, als vielmehr um Recht und Gesetz. Es geht darum, auszutesten, was noch drin liegt, ohne dass man sich dabei die Hände schmutzig macht. Die damalige Diskussion drehte sich beispielsweise gar nicht mehr darum, ob ein Mann einen Scheidebrief ausstellen durfte oder nicht. Das war unbestritten. Gegenstand der Diskussionen religiöser Lehrer waren die Scheidungsgründe, die von den einen sehr eng und von anderen sehr weit gefasst wurden. Auf diese Diskussion geht Jesus in seiner Antwort gar nicht ein, sondern streicht deutlich heraus, wie Gott das sieht und was daran Menschen gemachte Probleme sind. Er stellt klar, dass man sich hier einfach nicht herauswinden kann, und das ist exakt, was die Pharisäer in diesem Streitgespräch erreichen wollen: sich herauswinden und den eigenen Willen bekommen.

Das ist eine Haltung, die vermutlich den meisten von uns wohl bekannt ist. Mir ist es wichtig, dass wir dabei nicht bestimmte Personengruppen oder Berufsstände im Auge haben. Ich glaube, wir alle haben das schon im ganz normalen Alltag erlebt: Man dreht und wendet die Argumente, verdreht wenn nötig sogar Fakten ein wenig, interpretiert und schlussfolgert, bis es am Ende dann stimmt – für sich selbst. Ja, es ist sogar eine häufig verwendete Redewendung geworden: „Stimmt das so für dich?“ wird man gefragt. Oder „Das stimmt für mich so nicht“, wenn man nicht zufrieden ist. Es geht darum, Recht zu bekommen und das um jeden Preis. Ich habe Leute kennengelernt, die ihre ganz eigene Art der logischen Argumentation entwickelt haben, um stets im Recht zu bleiben. Da war dieser ältere Herr im Parkhaus, der mit seiner Frau zu Fuss zu seinem Wagen unterwegs war, als ich gerade dabei war, rückwärts aus meiner Parklücke herauszufahren. Im letzten Moment sah ich die beiden und hielt an. „Das habe ich mir schon gedacht,“ meinte er zu mir, „dass Sie nicht schauen, wohin sie fahren. Da wären Sie aber gehörig in Schwierigkeiten gekommen, wenn ich nicht aufgepasst hätte.“ Ich war sprachlos und stellte mir seine „Schwierigkeiten“ vor, hätte ich ihn angefahren, wenn er auf sein Vortrittsrecht beharrt und ich tatsächlich nicht aufgepasst hätte. Gerade im Strassenverkehr fällt mir auf, wie oft wir auf unser Recht pochen, statt miteinander Sichtkontakt aufzunehmen und Vorsicht, ja sogar Nachsicht walten zu lassen. Auch sonst kommt es doch im Alltag immer wieder vor, dass wir entweder auf unserem vermeintlichen Recht beharren oder bauernschlau versuchen, die Grenzen des Machbaren auszureizen und andere zu übertölpeln.

Was ist nun Gottes Gegenentwurf zu dieser Rechthaberei? Amen, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen. Bei Kindern geht es nicht ums Rechten. Das habe ich im Religionsunterricht festgestellt. Da kommen tiefe, berechtigte und ganz ernsthafte Fragen, auf die wir gemeinsam Antworten suchen. Es geht nicht um Recht, sondern um Wahrheit. Und dann kommen unsere Schüler plötzlich in ein Alter, in dem wir zu Unterrichtsbeginn erst einmal die Bedingungen aushandeln müssen, unter denen die Kinder überhaupt bereit sind, sich auf den Unterricht einzulassen. Die Zeit der „Unschuld“ ist vorbei, sie haben von uns Erwachsenen gelernt, dass es darum geht, Recht zu bekommen und zu behalten. Plötzlich zählt die Form mehr als der Inhalt. Bei Gott zählt jedoch der Inhalt, nicht die Form: Der Sabbat ist um des Menschen willen geschaffen, nicht der Mensch um des Sabbats willen, lehrt Jesus an anderer Stelle. (Mk 2,27) Oder wie wir heute von Paulus gehört haben: Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig. (2. Kor 3,6)

Auch Matthäus schlägt mit der Bergpredigt in dieselbe Kerbe: Nicht die Gewaltigen und die Kriegsherren oder diejenigen, die auf ihrem Recht beharren, werden das Reich Gottes erben, sondern die Gewaltlosen und Barmherzigen und diejenigen, die reinen Herzens sind und Frieden stiften. Die ganze Bergpredigt ist von Beispielen durchzogen, die aufzeigen, dass es beim Einhalten von Gottes Geboten weniger um die Form geht, als um den Geist, die Gesinnung und die Haltung. Es geht um die Einstellung zum Leben, dem eigenen und dem der anderen. Die Gesinnung soll lebensförderlich sein. Und diese Haltung soll in Art, Wesen und Ausdruck so sein, dass sie zu einem Kind passt, um noch einmal die Definition aus dem Duden anwenden. Sehr schön hat das neulich eine meiner Religionsklassen zum Ausdruck gebracht: Die etwa 10-Jährigen durften im Rahmen einer Unterrichtssequenz zum Thema Schöpfung Honig direkt aus den Bienenwaben kosten. Ich war zur selben Zeit damit beschäftigt, in der Küche der Kirche eine Zwischenverpflegung vorzubereiten. Plötzlich erschienen einige Schüler aufgeregt bei mir in der Küche und luden mich ein, doch zur Gruppe zu stossen und auch von dem Honig zu naschen, da er doch so wahnsinnig gut sei. Ich war sehr gerührt, dass sie an mich gedacht hatten und den Honig mit mir teilen wollten. Ich glaube, das ist ein schönes Beispiel dafür, was Jesus meinte. Und so möchte ich den zentralen Vers unseres Predigttextes etwas abwandeln und sagen. Wer das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, wird hineinkommen in das Land, in dem Milch und Honig fliessen. Amen.

Liedvorschläge

RG 215 Herr, wir warten arm und hungrig

RG 724 Sollt ich meinem Gott nicht singen

RG 76 Wohl denen, die da wandeln

RG 833 Komm in unsere stolze Welt

RG 707 Bei Gott bin ich geborgen, still wie ein Kind

 Eingangsgebet:

Barmherziger Gott,
Du hast uns Weisungen gegeben, die unser Zusammenleben regeln.

Einige dieser Gebote leuchten uns ein –

und doch finden wir es schwierig, sie in unserem Alltag auch zu leben.

Wir sollen einander einfühlsam und rücksichtsvoll begegnen,

in Achtung und Treue miteinander leben,

und merken manchmal doch,

dass wir den Menschen, der uns gegenübersteht, einfach nicht mögen,

dass die Person, mit der wir auskommen sollten, uns immer wieder Anlass zum Ärger gibt

und wir der Unbekannten auf der Strasse lieber aus dem Weg gingen, als ihr auf Augenhöhe zu begegnen.

Jesus Christus, unser Bruder

Gottes Gebote hast du uns ans Herz gelegt,

sie uns in so mannigfaltiger Weise ausgelegt

und uns vorgelebt, wie radikal sie doch gemeint sind.

Du hast uns aufgezeigt,

dass es manchmal nicht reicht, das „Du sollst nicht“ nicht zu tun,

sondern dass wir aufgefordert sind, über unseren Schatten zu springen,

damit wir aktiv werden und handeln.

Gott, sende uns deinen mütterlichen Geist,
damit wir die Kraft erhalten, diesem Weg zu folgen,

damit unsere Ohren und Herzen offen sind für Dein Wort,

damit alles auf guten Boden fallen, wachsen und Frucht bringen kann.

Amen.

Fürbitte

Barmherziger Gott

Wir bitten dich für alle, die unerbittlich am Buchstaben des Gesetzes kleben. Schenke ihnen Einsicht, damit der Geist deiner Weisungen sie belebe.

Wir bitten dich für jene, die versuchen, den Geist deiner Gebote zu leben, und manchmal scheitern. Gib ihnen die Kraft, jeden neuen Tag mit all seinen Möglichkeiten und Hoffnungen zu ergreifen.

Wir rufen zu Dir: RG 63 Sende aus deinen Geist

Jesus Christus, unser Herr und Bruder

Wir bitten dich für alle, die sich selbst im Weg stehen, weil sie glauben, dass sie alles selber bestimmen und selbst machen müssen. Hilf ihnen, das Vertrauen aufzubauen, dass Du mit ihnen gehst und ihre Last tragen willst.

Wir bitten dich für jene, die von anderen verachtet oder gar nicht wahrgenommen werden, weil sie klein, hilflos und ohnmächtig scheinen. Stärke in ihnen das Bewusstsein, dass du sie siehst und sie dein Reich erben werden.

Wir rufen zu Dir: RG 63 Sende aus deinen Geist

Gott, Heiliger Geist, unser mütterlicher Tröster und Fürsprecher

Wir bitten dich für jene, die verzweifelt sind und sich im Stich gelassen fühlen. Sei ihnen nahe und schenke ihnen Trost.

Wir bitten dich für alle, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, anderen in ihrer spirituellen oder materiellen Not beizustehen. Schenke ihn Kraft und erfrische ihre Seele durch dein Nahesein.

Wir rufen zu Dir: RG 63 Sende aus deinen Geist

Dreieiniger Gott

Wir bitten dich für alle, die unter jeglicher Art von Gewalt, Krieg und Unterdrückung leiden, ohne die Chance auf ein würdevolles und gelingendes Leben. Schenke ihnen Frieden und Lebensbedingungen, in denen sie sich entfalten können.

Wir bitten dich aber auch für alle jene, die Gewalt befehlen und ausüben. Sei barmherzig und giesse deinen Geist in ihre Herzen aus, damit ihre Augen aufgehen und sie von ihrem Weg umkehren.

Wir rufen zu Dir: RG 63 Sende aus deinen Geist.

Amen.

Pfrn. Barbara Signer

St. Gallen / Walzenhausen

E-Mail: barbara.monika.signer@protonmail.ch

Barbara Signer, geb. 1963, Pfarrerin in der Evang.-reformierten Kantonalkirche beider Appenzell. 30-jährige Tätigkeit als Englischlehrerin in der beruflichen Weiterbildung, seit 2021 Pfarrerin in Walzenhausen AR, Schweiz.

de_DEDeutsch