Markus 10,35-45

Markus 10,35-45

Die Macht des Dienens | 03.04.2022 | Mk 10,35-45 | Barbara Signer |

Schon vor mehreren Jahren geriet ich beim Zappen in einen Dokumentarfilm. Er zeigte die Lebensweise der Ureinwohner eines Landes mit üppiger Urwaldvegetation. Ich muss ehrlich gestehen, ich habe heute keine Ahnung mehr, wo dieses Volk lebte oder wie es hiess. Was mir in Erinnerung blieb, war jedoch, wie dieser Stamm als Gesellschaft funktionierte. Er lebte in kleinen Dörfern organisiert verstreut im ganzen Urwald. Das Besondere daran war, dass die Frauen mit den Kindern ihr ganzes Leben an ihrem angestammten Ort verbrachten, während die Männer ihr Heimatdorf verlassen mussten, sobald sie erwachsenen waren. Sie begaben sich auf Wanderschaft, bis sie in einem anderen Dorf eine Frau gefunden hatten und sich dort niederliessen. Obwohl diese Menschen noch nie irgendeinen Kontakt mit unserer modernen Zivilisation hatten, machten sie einen äusserst zufriedenen Eindruck. Niemand darbte, alle hatten, was sie zum Leben brauchten und bildeten eine fröhliche Gemeinschaft. „Aha!“, dachte ich und rieb mir innerlich zufrieden die Hände, „Das Matriarchat hat also doch etwas mit paradiesischen Zuständen zu tun.“

Was ich aber noch viel bemerkenswerter fand, war die Herrschaftsstruktur dieser dörflichen Gemeinschaften. Das Oberhaupt jeden Dorfes war eine Frau, und glücklich der Mann, der sie heiratete – würde man zumindest annehmen. Der Ehemann dieser Dorfvorsteherin wurde tatsächlich auch der Chef im Dorf, sozusagen der Gemeindepräsident. Ich weiss nicht, was für eine Art Mensch da vor Ihrem inneren Auge auftaucht, wenn Sie die Bezeichnung „Gemeindepräsident“ hören. In Filmen und Fernsehserien wird so ein Gemeindepräsident oft als etwas poltrige, bauernschlaue Charaktere dargestellt, die ständig andere herumkommandieret, Vetternwirtschaft betreibt oder sonst etwas mauschelt. Nicht so der Dorfchef im Urwald: Von ihm wurde mit grösster Selbstverständlichkeit erwartet, dass er seine ganze Arbeitskraft und seine ganze Person in den Dienst der Gemeinschaft stellte. Und zwar nicht als Anführer, sondern als Einer, der selbst Hand anlegte. Ich weiss noch, dass mir der Mann leid tat, weil er viel der schweisstreibenden Arbeit für die Dorfgemeinschaft allein oder mit wenig Unterstützung erledigte, während andere gemütlich zusammenhockten und plauderten. Und bei dieser Gelegenheit kam mir damals dieses Jesus-Wort aus unserem heutigen Predigttext in den Sinn: Wer unter euch gross sein will, sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, sei der Knecht aller. (Mk 10,43-44)

Was dieses Jesus-Wort auch bedeuten kann, ging mir ausgerechnet bei meinem Militärdienst auf. Wenn man als Rekrut und Soldat von Unteroffizieren und Offizieren ständig herumgeschäucht wird, träumt man natürlich davon, auch selber mal die Befehle zu erteilen. In der Unteroffiziersschule wurde mir dann schlagartig klar, dass ich bei meiner Arbeits- und Befehlsplanung nicht nur die Befehle meiner Vorgesetzten umsetzen musste, sondern dass es dabei auch ständig das körperliche und geistige Befinden meiner Untergebenen mit einzukalkulieren galt. Die richtige Ausrüstung musste mitgenommen werden, Verletzungs- und Unfallgefahr eingeschätzt, Zwischenverpflegung und Tee bestellt, allenfalls sogar Transport und Unterkunft besorgt werden. Zwar hatte ich erwartet, dass das besser wird, sobald ich rangmässig aufgestiegen bin, aber da hatte ich mich getäuscht. Sogar auf Stufe Stab – und dort erst recht – wurden wir ständig ermahnt, auf keinen Fall die Situation der Wehrdienstleistenden an der Basis zu vergessen.

Auch in den verschiedenen Kirchgemeinden habe ich schon erlebt, wie dieses Jesus-Wort umgesetzt wird – oder eben auch nicht. Es gab Pfarrer und Kirchenvorsteherschaften, die hauptsächlich damit beschäftigt waren, den Mesmer oder die Mesmerin herumzuscheuchen. Aber ich habe auch Kirchenvorsteherschaften erlebt, die wirklich motiviert waren und eben tatsächlich selber Hand anlegen. Und das mit einer Selbstverständlichkeit, die mich sehr beeindruckt hat, und eben auch ohne dafür grosse Dankesreden zu erwarten. In solchen Kirchgemeinden macht die Zusammenarbeit Freude und motiviert durch das Vorbild hoffentlich auch die sogenannt normalen Gemeindeglieder zum einen oder anderen Dienst an der Gemeinschaft.

Doch gerade aus dieser Erfahrung heraus, hat mich der Dokumentarfilm, den ich vorhin erwähnte, auch schockiert. Er zeichnete nämlich auch sehr detailliert nach, wie die gesellschaftlichen Strukturen dieser Dorfgemeinschaft zerstört wurden und zwar ausgerechnet durch das Auftauchen von christlichen Missionaren. Sie verteilten erst Kleidung, Nahrungsmittel, und Dinge, die wir Gegenstände des täglichen Bedarfs nennen. Das hatte unter Anderem auch zur Folge, dass sich das Wertesystem der Ureinwohner änderte. Jeder wollte ein T-Shirt oder eine Hose oder Babynahrung aus der Büchse. Anhand von verschiedenen Dorfgemeinschaften, die sich in unterschiedlichen Stadien der Missionierung und damit der „Entwicklung“ befanden, zeigte der Film auf, wie nach und nach Frauen unterdrückt wurden, die dörflichen Gemeinschaften zerfielen und die entwurzelten Menschen als obdachlose Trunkenbolde auf irgendwelchen Müllhalden oder Slums endeten. Meine anfängliche Faszination wich Entsetzen und Fassungslosigkeit.

Und ich finde, es sollte uns wirklich zu denken geben. Nicht nur, was diese Ureinwohner betrifft, sondern auch und vor allem unsere eigene (Kirchen)Kultur. Der Predigttext zeigt uns ja auf, dass die verhängnisvollen Mechanismen tatsächlich in unserer Kultur unterschwellig vorhanden sind. Wie sonst könnten da zwei Jünger, die Jesus nun drei Jahre lang begleitet, seine Predigten und Erklärungen gehört und seine Wundertaten miterlebt hatten, auf die Idee kommen, sich die beiden Ehrenplätze an der Seite des Herrschers im Königreich Gottes zu wünschen? Obwohl Jesus bereits drei Mal sein Leiden in Jerusalem angekündigt hatte, gaben sie sich offenbar immer noch der Vorstellung hin, dass Jesus in Jerusalem zum König gemacht wird und sie an dieser weltlichen Herrschaft teilhaben werden. Allein die Tatsache, dass sie von Jesus zuerst eine Carte Blanche für die Gewährung ihres Wunsches erbitten, zeigt auf, wie hoch sie ihren eigenen Rang unter den Jüngern einschätzen. Der Unmut, der diese Forderung unter den anderen Jüngern auslöst, zeigt auf, dass sie ebenso diesem Irrtum unterliegen, dass es um weltliche Herrschaft und damit um Rang und Einfluss geht. Am Palmsonntag werden wir dann in der Lesung aus dem Evangelium hören, dass auch die Bevölkerung ganz klar erwartetet, dass Jesus als Messias in Jerusalem zum König gekrönt wird.

Wenn schon die Menschen, die Jesus damals am nächsten standen, solche Erwartungen hegten und solchen Machtträumen nachhingen, wie sollten wir dagegen gefeit sein? Sehr oft fängt es ja schon in der Familie an. Kinder haben häufig schnell den Dreh raus, was sie tun, wie sie sich verhalten müssen, um andere Kinder oder sogar Erwachsenen zu manipulieren, damit sie das bekommen, wonach ihnen der Sinn steht. Später findet dies seine natürliche Fortsetzung: Es geht darum, wer in der erweiterten Familie das Sagen hat, wer in der Schule oder am Arbeitsplatz bestimmen darf, wer über politischen Einfluss in der Gemeinde oder auf nationaler Ebene verfügt. All das sind psychologische und gesellschaftliche Mechanismen, die quasi automatisch dazu führen, dass wir andere verletzen, selber verletzt werden und als Reaktion darauf, gleich wieder andere verletzen, die schwächer sind als wir. Und das eben nur, weil wir es können.

Das kann schon im ganz Kleinen geschehen. Was gehen mich die Plastikverseuchung der Meere an oder die Tatsache, dass eine Kuh wegen einer weggeworfenen Aludose verenden kann? Ich lass doch meinen Abfall gleich dort fallen, wo ich stehe. Was geht es mich an, wenn Tiere in der industriellen Fleischproduktion leiden? Hauptsache, ich kann das Fleisch, das bei mir Zuhause auf den Teller kommt, so billig wie möglich einkaufen. Was geht es mich an, dass irgendwo in Asien Frauen und Kinder unter fürchterlichen Arbeitsbedingungen zu einem Hungerlohn arbeiten? Hauptsache, ich kann meine Markenjeans möglichst billig kaufen. Das sind nur wenige Beispiele für die Kelche, die andere trinken müssen, damit wir die Freiheit haben, das zu tun, was wir gerade wollen – oder in anderen Worten: damit wir die Macht gebrauchen können, die uns gegeben ist. Ich bin sicher, Sie können diese Aufzählung mit Ihren eigenen Erfahrungen und Beobachtungen beliebig erweitern.

Wenn es uns aber schon im Kleinen schwerfällt, die Macht und die Möglichkeiten, die uns gegeben sind, in den Dienst der anderen zu stellen, wie sollen da Politiker mit ihrer Machtfülle zurechtkommen? Ein besonders grausames und zerstörerisches Beispiel von Machtmissbrauch und Manipulation haben wir ja im Moment vor Augen, wenn wir die Bilder der Ruinen in der Ukraine sehen, die noch vor einem Monat blühende Städte waren. So schnell kann es gehen. Und deshalb ist es so wichtig, dass wir Jesu Rat beherzigen: Ihr wisst, die als Herrscher der Völker gelten, unterdrücken sie, und ihre Grossen setzen ihre Macht gegen sie ein. Unter euch aber sei es nicht so, sondern [in der Familie, in der Gemeinde, im Staat soll gelten]: Wer unter euch gross sein will, sei euer Diener, und wer unter euch der Erste sein will, sei der Knecht aller. (Mk 10,42-44) Amen.

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VDM Barbara Signer

St. Gallen / Walzenhausen

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Barbara Signer, geb. 1963, Verweserin in der Evang.-reformierten Kantonalkirche beider Appenzell. 30-jährige Tätigkeit als Englischlehrerin in der beruflichen Weiterbildung, seit 2021 Pfarrerin in Walzenhausen AR.

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