Lukas 1,46-55

Lukas 1,46-55

Judika | 03.04.22 | Lk 1,46-55 | Anders Kjærsig |

Diese Predigt ist eine Art Erinnerungsgeschichte aus der Perspektive eines Kindes. Vieles ist wahr, genauso viel ist Fiktion. Aber wo die Grenze liegt, weiß ich nicht.

In der ferneren Verwandtschaft, so fern, dass ich mich nicht daran erinnere, sondern nur die Geschichten kenne, wird von einem Maurer namens Johannes erzählt. Ein weltlicher, etwas heruntergekommener Kerl. Man nannte ihn Johannes den Betongießer, in Anspielung auf den Täufer. Man nannte ihn auch den Eremiten oder die Erdratte, den mit dem staubigen weiß gekalkten Haar.

Im Gegensatz zum Täufer, der am Jordan taufte, goss Johannes Beton in der Nähe der Stadt Ikast, eine 2-4-9 Mischung mit nur ein wenig Wasser. Er war bekannt für seine trockenen Mischungen und sein heftiges Temperament. Er war durch und durch Atheist, glaubte an kein himmlisches Wesen. „Der Mensch isst und trinkt und vermehrt sich hier“, sagte er mit einem Zitat des dänischen Dichters Gustav Wied. „Das ist das Schicksal des Menschen“, fuhr er fort mit einem Rülpser und nahm ein Stück Käse mit Rinde und Datumstempel und steckte es ganz in den Mund.

Johannes war spartanisch, aber nicht geizig. Er sah keinen Grund dafür, sein Leben mit materiellem Überfluss zu füllen. Deshalb hatte er nur zwei Kleidungen, eine für den Alltag und eine für Feste. Die waren beide völlig identisch, man konnte also keinen Unterschied sehen. Aber man konnte den Unterschied riechen. Johannes war eins mit dem, was er anhatte. Kleider schaffen Leute, so wusste man immer, wer er war. Um die beiden Kleidungen nicht zu verschleißen, kehrte er jedes zweite Mal die Kehrseite nach außen.

Auf das Essen verwandte er auch keine besondere Mühe. In der Regel kochte er zehn Kilo Kartoffeln auf einmal. Die aß er dann im Laufe der Woche mit etwas Salz und Speck, dazu trank er abgekochtes Wasser. Alkohol rührte er nicht an. Kartenspiel kannte er auch nicht. Nicht weil er moralische Bedenken hatte, sondern weil das Leben für so etwas zu kostbar war. Dafür aber verwandte er viele Stunden darauf, über das Leben nachzudenken, wenn er allein Zuhause war.

Es wird erzählt, dass er bei einem Fest mit einem alten Erweckungsprediger über Bekehrung und Vergebung der Sünden diskutierte. Eine Diskussion, die mit einer zerbrochenen Freundschaft endete, nicht mit dem Missionar, sondern mit Bertel, dem besten Freud von Johannes. Der Erweckungsprediger versuchte vergeblich, Johannes von seiner Sünde zu überzeugen und davon, dass er der Vergebung Gottes bedürfe. Er sprach dauernd von Bekehrung und Gebet, so dass Johannes schließlich von all diesen Worten von Gott und Himmel genug hatte und zur Toilette ging, seine Kleidung zur Kehrseite wendete, zurückkehrte, sofort zum Prediger ging und sagte: „Jetzt habe ich mich bekehrt, was hast du?“

Der Erweckungsprediger bekam einen Schock. Johannes war nun in Fahrt gekommen. Er erzählte mit einem ironischen Blick, dass er als Maurer näher am Wesen Gottes sei als der Prediger. Der Prediger habe es nur im Munde, währen Johannes alles im Körper habe. „Wir sind trotz allem die, die mit unseren bloßen Händen den Sockel gießen“, sagte er und fuhr fort: „Es kann gut sein, dass Gott den Eckstein setzt, aber wir kontrollieren ihn mit dem Lot, und was dich betrifft, du kannst nicht einmal die Axt gebrauchen, die bekanntlich schon am Fuße des Baumes liegt“.

In diesem Augenblick war Bertel genötigt einzugreifen. Er nahm Johannes zur Seite und fragte ihn, warum er sich so aufregte. „Der Prediger ist doch ein freundlicher Mann“, sagt Bertel zu Johannes und fügt hinzu: „Vielleicht ist da ja etwas dran, du weißt, Johannes, dein Eigensinn und deine Kompromisslosigkeit. Das steht dir nicht gut an“.

Johannes blickte verwundert auf Bertel, so wie wenn Gott auf einen Menschen blickt und ihn entweder segnet oder verdammt, und sagte: „Bertel, mein Freund, was fürchtest du? Was erschüttert dich und macht dich so weich! Glaubst du, dass der Missionar dem Heil näher ist als ich? Wir sind beide getauft? Sein Reden von Bekehrung ist ja nichts wert, wenn der Mann nicht einmal die Axt schwingen kann, mit der er andere fällt. Die gefährlichsten Menschen sind die, die Gott verteidigen. Denk daran, Bertel!“ Und Johannes fährt fort:

„Gott soll man nicht verteidigen, ihm soll man widersprechen. Man soll ihm die Kraft rauben und mutig ohne seine Gegenwart leben. Ich zweifle daran, dass Gott die Kinder Abrahams aus einem Haufen Kies erwecken kann. Andererseits besteht kein Zweifel daran, dass das Leben eine Wüstenwanderung ist, trivial und immer dürstend, aber dennoch mit Oasen von Fruchtbarkeit und Freude.  Der Weg, den wir in dieser Wüste gehen sollen, müssen wir selbst wandern, da ist niemand, der ihn für uns bahnt und die Wege gangbar macht“.

Bertel gleicht zum Verwechseln einem, der ein Gespenst gesehen hat. Er steht mit aufgerissenen Augen und sieht Johannes sprachlos an. Er weiß keinen Rat und weiß nicht, was er sagen soll.

„Bertel, hörst du noch immer zu?“ – fragt Johannes und fährt fort: „Der Sinn des Lebens ist nicht an einem anderen Ort, in Gottes Himmel oder Reich, wo man zu Tische sitzt mit allen Jüngern. Das Leben ist nicht in den Schlössern der Könige oder den schönen Illustrierten, auch nicht im Geld, in der Macht und dem Wissen. Das Leben ist hier und jetzt, das verdammte und gesegnete Leben“.

„Erst wenn wir unsere Wüstenwanderung beginnen, merken wir das Leben. Hier erhalten wir Mut und Hoffnung und stehen zu uns selbst als die nackten Menschen, die wir sind. Wir binden uns an den Sand, unser Leben wir von Sand, Stein und Sonne abgeschliffen. Wir beten nicht, wir schwitzen, das ist unsere Natur. Oder besser: Der Schweiß ist unser Gebet. Deshalb, Bertel, und das kann wirken, als widerspreche ich mir selbst, habe ich mehr Respekt vor Jesus von Nazareth als vor Gott selbst. Jesus kannte die Wüstenwanderung und war solidarisch mit der physischen und realen Wirklichkeit, in der erlebte. Ihm folge ich gerne“.

Bertel öffnet vorsichtig den Mund und fragt: „Johannes, wenn das Leben eine Wüstenwanderung ist, ist es dann für uns gewöhnliche Menschen nicht unerträglich? Es mag sein, dass du mit einer solchen Erklärung leben kannst, aber für mich scheint das schwer zu sein“.

Johannes greift ein: „Lieber Bertel, auf dieser Wanderung gibt es viele, die Fatamorganas sehen und anfangen, sich selbst und anderen einzubilden, dass dies nicht das wahre Leben ist. Sie sehen nicht die Wüste vor lauter Blendwerk. Sie glauben an Gott und an Geister und an große Ideologen, aber nicht an den Jesus, der in der Wüste wanderte. Dafür aber dürsten sie und springen von einer Fatamorgana zur anderen in dem Glauben, dass dies Linderung verschaffen kann. Man sucht Zuflucht im Flüchtigen, dem was kommt und geht, dem Neuen und Faszinierenden, aber man wohnt in einem Sandschloss und ist selbst aus Fleisch und Blut geschaffen, um einmal zu Staub und Erde zu werden“.

Bertel und Johannes gingen vielleicht doch als Freunde auseinander. Bertel ging nach Hause zu seiner Frau und seinen Kindern, Johannes ging nach Hause, um die Kleidung zu wechseln. Aber im tiefsten Inneren war Bertel erschüttert. Johannes hatte so abgeklärt und sicher gesprochen. Er war sowohl Christ als auch Atheist. Bertel konnte sich nicht ausrechnen – und das tat ihm weh.

Hatte der Erweckungsprediger vielleicht Recht? War Johannes ein schlimmer Sünder, der sich nicht bekehren wollte? Oder war das Leben wirklich eine Wüstenwanderung, ein Leben im Schatten von Jesus von Nazareth? Amen.

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Pastor Anders Kjærsig

5881 Skårup Fyn

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