Markus 12,1–12

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Markus 12,1–12

Gottes Vergeltung | Reminiscere | 5.3.2023 | Mk 12,1–12 | Dietz Lange |

121Und er fing an, zu ihnen in Gleichnissen zu reden: Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes. 2Und er sandte, als die Zeit kam, einen Knecht zu den Weingärtnern, damit er von den Weingärtnern seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs nähme. 3Da nahmen sie ihn, schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen fort. 4Abermals sandte er zu ihnen einen andern Knecht; dem schlugen sie auf den Kopf und schmähten ihn. 5Und er sandte einen andern, den töteten sie; und viele andere: die einen schlugen sie, die andern töteten sie. 6Da hatte er noch einen, den geliebten Sohn; den sandte er als Letzten zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. 7Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! 8Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. 9Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben. 10Habt ihr denn nicht dieses Schriftwort gelesen (Ps 118,22-23): »Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. 11Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen«? 12Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er auf sie hin dies Gleichnis gesagt hatte. Und sie ließen ihn und gingen davon.

(Lutherbibel 2017)

Liebe Gemeinde!

Viele von Ihnen werden dieses Gleichnis kennen. Es ist eines der bekanntesten – und zugleich eines, das in der Geschichte des Abendlandes unendlich viel Leid verursacht hat. Es hat nämlich immer wieder dazu gedient, Hass von Christen gegen Juden zu schüren und Pogrome und Mordaktionen gegen die Juden zu rechtfertigen. Wie kann das sein, wo Jesus doch selbst Jude war und seine ersten Jünger und alle seine Zuhörer und Zuhörerinnen auch? Wie passt das zu der durchgehenden Linie in seinen Reden, in denen es doch um die grenzenlose Liebe zu allen Menschen geht, sogar zu denen, die uns übelwollen? Haben die christlichen Kirchen durch die Jahrhunderte hindurch unser Gleichnis total missverstanden?

Schauen wir genau hin. Das Gleichnis knüpft zunächst an eine ganz alte Geschichte aus dem Buch des Propheten Jesaja an. Die handelt von einem Weingutsbesitzer. Dieser erwartet von seinem Weinberg gute Trauben, bekommt aber saure. Mit dem Weingutsbesitzer ist Gott gemeint, mit dem Weinberg das Volk Israel. Der Besitzer reagiert auf seine Enttäuschung, indem er den Weinberg und alle zugehörigen Einrichtungen zerstören lässt. Damit kündigt der Prophet Gottes Gericht über das Volk für seinen Ungehorsam an, so wie es alttestamentliche Propheten auch sonst getan haben. Aber Israel bleibt doch immer noch Gottes eigenes Volk.

Dieses Bild vom Weinberg greift das Gleichnis von den bösen Winzern auf. Aber es verändert es auch. Jetzt bringt der Weinberg gute Trauben. Vor allem aber ist er jetzt Pächtern anvertraut. Diese Pächter stehen für die Volksmasse der Juden. Zu ihnen schickt der Eigentümer zur Erntezeit Boten – dabei ist an die Propheten des Alten Testaments gedacht. Diese sollten seinen Anteil an dem Ertrag holen, aber die Pächter verweigern ihm das. Ihre Auseinandersetzungen mit den Boten steigern sich dramatisch von Jahr zu Jahr: Der Erste muss unverrichteter Dinge wieder abziehen, der Zweite wird verprügelt, der Dritte auf den Kopf geschlagen. Als Letzten schickt der Weingutsbesitzer seinen Sohn – gemeint ist: Gott schickt Jesus in die Welt –, weil er denkt, die Pächter würden sich nicht trauen ihm etwas anzutun. Aber ganz im Gegenteil: sie töten ihn, um sich den Weinberg dann selbst anzueignen. Daraufhin verjagt und vernichtet der Besitzer die Pächter. Den Weinberg verpachtet er an andere. Israel soll demnach jetzt nicht mehr Gottes Volk sein.

Die frühen Christen haben das in der Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 erfüllt gesehen. Damit soll Gott „die Juden“ dafür bestraft haben, dass sie Jesus getötet hätten. Spätere Christen wollten diese Bestrafung selber fortsetzen, indem sie die Juden aus ihren Häusern vertrieben und umbrachten. Da scheint also ein Gleichnis Jesu mindestens indirekt mit den Verbrechen gegen die Juden zusammenzuhängen, die sich durch die ganze abendländische Geschichte hindurchziehen. Lässt sich dieser verhängnisvolle Knoten noch auflösen?

Darauf gibt es zwei Antworten. Die erste Antwort ist ziemlich einfach. Das Gleichnis lässt Jesus noch zu Lebzeiten auf seinen eigenen Tod zurückblicken: die Pächter haben den Sohn Gottes getötet, das ist schon passiert. Und es schließt mit Worten aus einem alten Psalm: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.“ Das bedeutet: Jesu Tod ist nicht das Ende gewesen, Gott hat ihn auferweckt und damit seine Herrschaft unwiderruflich befestigt. Also blickte Jesus mitten im Leben auch auf seine eigene Auferstehung zurück? Das kann doch nicht sein. Man kann das nur so erklären, dass die frühe christliche Gemeinde dieses Gleichnis Jesus in den Mund gelegt hat. Wenn es also in dem Gleichnis heißt, die Pächter, also die jüdische Volksmasse, sei am Tod Jesu schuld, dann geht das auf das Konto der alten Kirche. Jesus hat auch nie gesagt, dass Gott das Volk Israel für immer verstoßen werde, sondern er hat es eindringlich zur Buße aufgerufen.

Damit haben wir das zweite Problem vor uns, das uns dieses Gleichnis bereitet: Wie steht es faktisch mit der Behauptung, die Juden seien am Tod Jesu schuld? Sie ist in dieser Form schlicht falsch. Wir wissen, dass die Kreuzigung keine jüdische, sondern eine römische Strafe war. So steht es auch sonst in den Evangelien. Es war der römische Prokurator Pilatus, der Jesus kreuzigen ließ. Allerdings war die damalige jüdische Religionsbehörde in die Sache verwickelt. Ein kleiner Kreis von Pharisäern und Schriftgelehrten, von religiösen Beamten, hat Jesus bei Pilatus angeschwärzt und ihn beschuldigt, eine Revolution anzuzetteln. Vermutlich hatten sie Angst, beim Volk Einfluss zu verlieren. Aus diesem kleinen Kreis hat das Gleichnis „die Juden“ gemacht. Man versteht das, wenn man bedenkt, dass Juden in den ersten Jahren nach Jesu Tod die Christen als Abtrünnige bekämpften und verfolgten. Selbst Paulus war ja als junger Mann daran beteiligt. Aus Angst entstand dann das Pauschalurteil über „die Juden“, so wie wir heute gern „die Russen“ für den Krieg in der Ukraine beschuldigen. Natürlich ist die erste christliche Gemeinde durch ihre Schuldzuweisung nicht etwa für die Judenverfolgungen der folgenden Geschichte verantwortlich. Aber sie hat eine gefährliche Weiche gestellt.

Heute hat sich der Wind völlig gedreht. Nach dem furchtbaren fabrikmäßigen Mord an Millionen Juden im Dritten Reich herrscht eine begreifliche Scheu davor, irgendetwas Jüdisches zu kritisieren. Selbst sachliche Kritik an der gegenwärtigen Siedlungspolitik der israelischen Regierung begegnet in Deutschland einem Sturm der Entrüstung, obwohl selbst viele Israelis sich dazu wesentlich schärfer äußern. Auf unser Gleichnis bezogen: Heute nehmen manche Leute selbst die jüdischen Religionsbeamten von damals in Schutz: Sie hätten auf Grund ihrer Erwartung eines politischen Befreiers gar nicht anders handeln können. Hätten sie sich aber vor einer so schwerwiegenden Entscheidung nicht besser über die Jesusbewegung informieren müssen?

So viel zum Streit darüber, wer damals am Tod Jesu schuld war. Weil dieser Streit unsere Kirche bis heute bewegt und weil unser Gleichnis ihn unmittelbar aufrührt, war dazu ein Klärungsversuch nötig. Aber nun können wir dabei nicht stehen bleiben. Sonst geriete uns völlig aus dem Blick, was das Gleichnis denn uns heute angeht. Es ist ein so wohliges Gefühl, über die Schuld anderer Menschen zu debattieren, noch dazu über Menschen längst vergangener Zeit. Da stehen wir so schön im Schatten, weil es uns ja selbst nicht betrifft. Aber in seiner uns fremd gewordenen Form enthält das Gleichnis doch eine entscheidende Wahrheit, der wir uns nicht entziehen können. Paul Gerhardt hat sie in seinem berühmten Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“ so ausgedrückt: „Nun, was du Herr, erduldet, ist alles meine Last. Ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast. Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat! Gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad!“

Das erscheint uns modernen Menschen freilich auf den ersten Blick erst recht abwegig zu sein. Wie soll das zugehen? Wir waren doch damals gar nicht dabei! Aber mit dieser Reaktion machen wir es uns zu leicht. Wir dürfen nicht vergessen, dass Jesus als Bote Gottes auftrat, dass er in all seinem Reden und Handeln ganz von Gott erfüllt war. Darum geht sein Leben und Sterben alle Menschen an, auch uns Spätere. Ebenso umgekehrt, wenn Jesus gesagt hat: „Was ihr einem von meinen geringsten Brüdern antut, das tut ihr mir an“, dann gilt das auch uns.

Bei Jesu Brüdern fallen uns heute zuerst die Juden ein, die im Dritten Reich ermordet wurden. Wir heute Lebenden gehören zwar nicht mehr zur Täter-Generation, doch als deutsches Volk tragen wir Mitverantwortung, ob wir wollen oder nicht. Aber Jesu Brüder und Schwestern, das sind auch all die Menschen, mit denen wir täglich umgehen. Wann und wo habe ich selbst Jesus verraten, bin ich seiner Sache untreu geworden? Wann habe ich einen Menschen bewusst oder unbewusst verletzt? Wie oft habe ich sogar die lebendige Verbindung zu Gott selbst vernachlässigt oder angesichts einer Gotteslästerung meinen Mund gehalten? Wollte Gott uns nach Verdienst bestrafen, dann käme keiner von uns ungeschoren davon.

Aber nun blitzt ganz am Schluss des Gleichnisses ein Licht auf, das mit einem Schlag die ganze dunkle Szene erhellt. Es bringt nach der finsteren Ankündigung von Gottes Gericht eine völlig überraschende Wende. Das Licht geht von dem Psalmvers aus, an den ich vorhin schon erinnert habe: „Der verworfene Stein ist zum Eckstein geworden.“ Damit will das Gleichnis sagen: Jesus ist mehr als bloß ein letzter Prophet Israels. Er ist zum Eckstein geworden, zum Schlussstein von Gottes Zuwendung zu uns Menschen. Ein Schlussstein ist der wichtigste Stein in einem Gewölbe, der es als Ganzes zusammenhält und vor dem Einsturz bewahrt. Jesus hat also den Riss zwischen Gott und uns Menschen gekittet. Er hat allen, die sich zu ihrer Schuld bekennen, Gottes Vergebung zugesprochen. Dafür hat er sein Leben gegeben. Unsere Entfremdung von Gott, unser Hass und unsere Verachtung anderer Menschen bleiben eine ernste Sache. Aber wir dürfen Gott mit den Worten Jesu bitten: „Vergib uns unsere Schuld“. Und wir dürfen uns darauf verlassen, dass das Gewölbe seiner Güte über uns halten wird.

 Amen.


Prof. em. Dr. Dietz Lange

Insterburger Weg 1

D-37083 Göttingen

E-Mail: dietzclange@online.de


Dietz Lange, geb. am 2.4.1933, war von 1977–1998 Professor für Systematische Theologie in Göttingen und von 1988–2023 ehrenamtlicher Prediger an St. Marien ebendort.

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