Markus 12,1-12

Markus 12,1-12

Reminiszere | 2. Sonntag in der Passionszeit | 05.03.2023 | Mk 12,1-12 | Ralph Kunz |

Mein Grossvater war Bauer im St. Galler Rheintal. Der Betrieb gehörte allerdings nicht ihm, sondern der Gemeinde Eichberg; der Hof war Teil des «Bürgerheims» – eine gemeinnützige Einrichtung. Mein Grossvater war Pächter – wie die Weingärtner im Gleichnis. Das Vieh, das Mostobst und das wenige Ackerland warfen allerdings nicht viel ab. Es waren damals in den 1920er und 1930er Jahren, als er den Betrieb übernahm, schwierige Zeiten. Eine Option war auszuwandern. Ein Appenzeller Cousin, Konrad, war Melker in Wisconsin. Er schrieb meinem Grossvater einen Brief, in dem es hiess: «Emil, komm herüber, hier ist das Paradies.» Was tun? Meine Grosseltern wurden sich nicht einig. Sie standen vor der schwierigsten Entscheidung ihres Lebens. Also beschlossen sie, die Bibel zu fragen. Sie schlugen «blind» das Buch auf und lasen das, was auf der Seite stand, als «Losung». Ein riskantes Verfahren! Ich würde es niemanden empfehlen. Bei meinen Grosseltern hat es funktioniert. Sie sind bei Jeremia 29 gelandet: «Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte … Suchet der Stadt Bestes – so geht’s euch auch wohl.»

Aufgrund dieser Losung blieben meine Grosseltern Pächter im Rheintal. Sie hatten fünf Töchter und es gingen ihnen gut – wenn auch in sehr bescheidenem Rahmen. Und doch war ein «Rest» Unzufriedenheit. Mein Grossvater hätte gerne einen eigenen Hof erworben. Aber das vermochte er nicht. In Amerika wäre das vielleicht möglich geworden. Und dieses «Vielleicht» nagte an ihm. Wie auch immer. Die jüngste Tochter war meine Mutter und ich bin froh, blieb mein Grossvater Pächter im Rheintal. Sonst wäre ich nicht da. Oder wäre ein Ami. Ich bin froh, haben meine Grosseltern das 29. Kapitel Jeremia aufgeschlagen, Bei Jeremia gäbe es auch Texte, die eher zur Flucht raten. Zum Beispiel das Lied vom Weinberg (Jes 7,1-5).
Im Lied vom Weinberg beklagt sich Gott über sein treuloses Volk – in der Rolle eines Weinbauers, der viel in seinen Rebberg investiert, eine Mauer gezogen und einen Turm gebaut hat, um gefrässige Räuber abzuwehren. Aber die Reben haben dennoch schlechte Trauben hervorgebracht. Also beschliesst der frustrierte Bauer seinen Weinberg dem Erdboden gleichzumachen. Für jüdische Ohren hat das Lied vom verwüsteten Weinberg einen bitteren Klang. Es ist eine Gerichtsansage und rührt an das Trauma der Diaspora. Diese Deutung hat sich ihnen eingeprägt: «Der Weinberg Gottes aber ist das Haus Israel und die Menschen Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch.»
Auch Jesus erzählte seinen Zuhörern ein Gleichnis. Wir haben es gehört. Und sogleich wird klar, dass der Meister der Parabel mit dem alten Lied spielt – aber seinen Bildgehalt variiert. In der Jesusversion hat der Besitzer des Weinbergs Pächter eingesetzt. Er selbst ist nicht anwesend. Er zählt auf die Treue seiner Stellvertreter. Sie dürfen Gewinn erwirtschaften, aber sollen für den Herrn reservieren, was ihm zusteht, weil der Weinberg nicht ihnen gehört. Von Zeit zu Zeit schickt der Besitzer Knechte, um seinen Anteil einzufordern. Aber die Pächter wollen keine Pacht zahlen. Sie begehen Vertragsbruch. Im Jesusgleichnis sind also nicht die Trauben, sondern die Verwalter schlecht. Sie betrügen den Besitzer plündern den Weinberg und werden kriminell. Höhepunkt respektive Tiefpunkt im jesuanischem Weinbergdrama ist der Mord am Sohn des Besitzers. Auch vor diesem letzten grossen Frevel schrecken die Pächter nicht zurück. Sie bringen den Sohn um, weil sie die Chance wittern, das Erbe an sich zu reissen. Sie fühlen sich als die Herren des Weinbergs, nicht als Pächter.
An dieser Stelle unterbricht Jesus die Erzählung; er wechselt die Ebenen und spricht die Zuhörenden an: «Wie wird der Weinbergbesitzer reagieren?» Jeremias Lied im Hintergrund sorgt dafür, dass seinen Zuhörern klar ist, was gemeint ist, worauf das Ganze hinauslauft. Jesus zieht den erwartbaren Schluss, den diese Geschichte haben wird. Dem Besitzer reicht es. Er wird die bösen Verwalter richten und töten.
Ist das die Pointe der Parabel?
Ja und Nein. Wir lesen von Jesus, der eine Geschichte erzählt, in einer Geschichte über Jesus, die der Evangelist erzählt. Das ganze Szenario ist doppelbödig, mehrschichtig, wenn man Jeremia mithört, der 700 Jahre vor Jesus seinen Hörern das Weinberglied gesungen hat. Das alte Gerichtslied ist wie ein Schatten, der auf das erwartbare Ende Jesu fällt. Jesu Zuhörer verstehen die Parabel und merken sehr wohl, welchen Part Jesus ihnen zuschanzt. Sie haben die Rolle der treulosen Pächter inne. Sie werden den Sohn töten – denjenigen, der sich erdreistet, in die Rolle des Erben zu schlüpfen. Das Einzige, was sie davon abhält, sogleich zur Tat zu schreiten, ist der Umstand, dass Jesus in der Gunst des Volkes steht. Noch.
Aus der Reminiszenz wird Präsenz. So erzählt es uns Markus. Wir sind in der Story von Jesus noch nicht beim Tiefpunkt angekommen, am dramatischen Kipppunkt, an dem der Sohn getötet wird. Noch ist die Sache offen. Noch hat es nicht geblitzt. Noch wird um das Erbe gestritten. Noch hätten alle, die sich an das erinnern, was in den alten Tagen mit den Propheten geschehen ist, die Chance, den Sohn zu schonen, auf seine Worte zu hören, seiner Einladung zu folgen. Denn ER hat allen, die im Weinberg arbeiten, eine Botschaft des Besitzers zu sagen.  Denn Jesus ist ein Poet, ein Sänger, der neue Lieder singt und hoffnungsvolle Geschichten erzählt. «Der Herr kommt nach Hause, aber nicht um zu richten, sondern um zu befreien. Tut Busse.» (Mk 1,1ff)

Wer Ohren hat zu hören, hört das Evangelium. Jetzt ist es Zeit, umzukehren und sich daran zu erinnern, dass Gott immer wieder geworben hat, immer wieder barmherzig war und noch einmal und noch einmal seine Propheten geschickt hat, um seine Pacht ein einzufordern. Und diese Pacht ist der Glaube, ist Euer Herz. Reminizere – erinnert euch an Gottes Erbarmen.
Das ist die Pointe. Dass sich die Hörer als Pächter erkennen, die freudig ihren Teil aus der Überfülle zurückgeben, die sie bekommen haben, dem Gutsherrn dienen, ihm für seine Güte danken, weil er gnädig und barmherzig ist. So gesehen ist auch die dunkle Weinbergerinnerung in der grösseren Erzählung des Evangeliums ein Angebot an alle, die Ohren haben zu hören. Welches Ende gibst Du der Geschichte? Auf welche Seite schlägst Du Dich? Gehörst Du zu denen, die sich freuen, wenn der Sohn kommt? Warum fällt es Dir so schwer, diese einfache Botschaft zu hören und danach zu leben?
Die Geschichte, die Jesus in seiner Geschichte erzählt, gibt eine Antwort. Die Antwort steckt in der Verschachtelung. Sie töteten damals die Propheten und sie töten jetzt den Sohn. So war es im alten Israel, so ist es im Gleichnis und darauf wird es am Ende mit Jesus hinauslaufen. Wir erkennen in dieser Verschachtelung das Evangelium. Was so gut beginnt und so hoffnungsvoll klingt, stösst auf Ablehnung und geht doch weiter. Aber warum dieser Widerstand?
Naiv gefragt: Ginge es nicht einfacher? Direkter? Wir sehen die Figur des Messias im Sohn, die Figur der Propheten in den Knechten und die Figur der verstockten Menschen in den Pächtern, die nicht hören wollten.  Und über allen die Figur des Besitzers – ein Schatten Gottes. Abwesend. Könnte der Herr des Weinbergs das Drama nicht verhindern, indem er endlich selbst auftaucht und Ordnung schafft? Muss der «geliebte Sohn» umgebracht werden?
Markus stellt es in seinem Evangelium so dar, dass Jesus selbst die Frage beantwortet, verhüllt in Gleichnissen und unverhüllt in seiner Lehre und in Streitgesprächen. In Kapitel 8,31 heisst es: «Und er fing an, sie zu lehren: Der Menschensohn muss vieles leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohen Priestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen.»
Die Antwortet lautet also: Ja, es musste so kommen. Aber wir bekommen nur die Geschichten erzählt Im Markusevangelium wird die Frage, warum der Messias leiden musste, nicht mit einem «Dogma» beantwortet, sondern als «Story» erzählt. Der Gewinn: Ich kann als Leser des Evangeliums mit ihm, dem Sohn, der getötet wird, mitgehen. Ich kann ihm nachfolgen. Ich bin bei ihm, wenn er seine Jünger bittet: «Bleibet hier und wachet mit mir.»

Und sie schlafen, aber ich lese weiter, ich bleibe bei, wenn er ganz allein zu Gott im Garten Getsemani fleht: «Dein Wille geschehe.» Und ich höre ihn mit dem Psalm 22 beten: «Warum hast Du mich verlassen, Gott?»

Aber noch ist nicht Karfreitag. Darum will ich am zweiten Sonntag, am Anfang der Passionszeit noch einmal nachhaken: Weshalb hat Gott das Risiko auf sich genommen, seinen Sohn in diese Welt zu schicken? Hätte er nicht eine weniger gefährliche Strategie fahren können? Wäre die Sache anders gelaufen, wenn einer gekommen wäre, mit weniger radikalen Ideen? Einer, der nicht so provokativ und so parteiisch aufgetreten wäre? Statt einem rebellischen Reich-Gottes-Aktivist ein Weisheitslehrer, der meditiert und keiner Seele etwas zu leide tut? Ein graubärtiger Heiler, der Allversöhnung predigt und alle segnet, die ihm über den Weg laufen, der alt und glücklich stirbt und seinen Nachkommen ein Buch hinterlässt, in dem jeder seine Regeln nachlesen kann? Ein Evangelium ohne Kreuz, ohne Schande, ohne Spott? Ohne Gewalt, ohne Komplikationen, mit einem Weinberg ohne faule Trauben und bösartigen Pächtern? Warum musste der Messias sterben? Weil alle, die seineGeschichte hören, vor die Entscheidung gestellt werden, ob sie ihm, Jesus glauben, was er von Gott erzählt. Weil durch seinen Tod alle zu Pächtern werden. Denn der Verrat, die Untreue, das Verbrechen ist nicht die Untat der Bösewichte, auf die wir mit den Fingern zeigen könnten.
Es sind nicht die «Anderen», die den Sohn töteten, es waren nicht die Juden – um an eine diabolische Verblendung des Christentums zu erinnern. Das Weinbergdrama ist keine Familienangelegenheit unter Israeliten. Es waren auch nicht die Atheisten oder die Kommunisten oder die dummen Könige, auch nicht die fehlbaren Päpste oder die fanatischen Sektierer, die den Sohn umgebracht haben.
Alle Schuldzuweisungen gehören zur Fantasie eines unkomplizierten Evangeliums. Das komplizierte entlarvt uns. Unsere Illusion, dass wir die Schuldigen benennen und uns zu Unschuldigen erklären können. Dass wir die verbrecherischen Pächter erkennen und sie richten dürfen und uns selbst die Rolle zuweisen, der allein dem Herrn der Geschichte zukommt. Nein. Es der Sinn der Passionszeit, dass wir die Gelegenheit bekommen, unseren Part im Drama zu erkennen,  die Mitschuld anzuerkennen, um dann die richtigen Schlüsse zu ziehen. Oder mit einem alten Wort, das viele nicht mögen: Busse zu tun.
Busse, Umkehr ist aber nur möglich, weil die Geschichte eine überraschende Wende genommen hat. Denn wir verkünden seinen Tod und preisen seine Auferstehung. Und die Verbrecher werden nicht bestraft. Der Sohn bittet den Vater: «Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.» (Lk 23,34) Erinnere Dich Deines Erbarmens (Ps 25,6)

Dieselbe Pointe hat das Psalmwort, das Jesus seinen Hörer an den Kopf wirft: «Die Bauleute haben den Stein verworfen, der den Bau vollenden soll. Sie haben seinen Wert nicht erkannt. Sie haben ihren Gott des Erbarmens nicht begriffen. Haben sich zum Bösen reizen lassen. Denn sie wussten nicht, was sie getan haben – und haben so, unwillentlich und unwissentlich, der Geschichte eine Wende zum Guten gegeben. Das ist der Faden der Glaubensgeschichte, den wir mit den Fäden der eigenen Geschichte verknüpfen – immer wieder neu.

***

Ich bin Enkel eines Pächters, habe mitbekommen, wie es an der Seele nagen kann, wenn man nicht Besitzer einer «Heimat» ist. Es ist nur ein Erinnerungsfaden, aber er hat sich mit meiner kindlichen Seele verbunden. Ich war gern mit ihm unterwegs – er lehrte mich melken, ich durfte die Kälber tränken, half ihm beim Mostäpfel sammeln. Für mich war es sonnenklar, dass ich den Hof einmal erben und als Bauer den Hof meines Grossvaters dereinst übernehmen werde. Das habe ich ihm dann eines Tages stolz verkündet. Er reagierte nicht, wie ich es mir erhoffte. Ich sehe immer noch den Schatten im Gesicht, höre die Enttäuschung in seiner Stimme. «Ich bin nur Pächter, Ralph – ich kann Dir nichts vererben.»£
Ich habe verstanden und bin nicht Bauer, sondern Pfarrer geworden. Was ich erst später begriffen habe – und ich wollte, ich könnte es meinem Grossvater heute sagen – dass er mir sehr viel mehr als einen Hof hinterlassen hat. Er war ein treuer Pächter! Er war ein sanftmütiger, friedliebender Mensch, ein Ehemann, der seine Frau verehrte und bis in den Tod treu begleitete, seinen Töchtern ein liebender Vater, leidenschaftlicher und fortschrittlicher Bauer, ein engagierter Gemeinderat und ein fantastischer Jasser. Er hat seine Pacht bezah Was für ein wunderbares Erbe!
Was macht es mit Menschen, wenn sie sich als Pächter erkennen? Wie gehen sie damit um, dass sie nicht Besitzer sind und von ihnen eine Pacht erwartet wird? Die menschliche Seele ist kompliziert. Sie wünscht sich eine eigene Heimat. Sie strebt nach Selbständigkeit. Sie entdeckt sich als Geschöpf und schwankt zwischen Dank und Trotz, vertraut auf ihren Schöpfer, sucht seine Nähe und versteckt sich, bockt, wenn er sich naht, hört seinen Ruf und verstockt sich, wenn er in sein Eigentum kommt. Dabei verkennt sie das Erbe, das sie schon bekommen hat. Es ist die unerhörte Möglichkeit, ein Mensch zu sein, der in seiner Familie, seiner Gemeinde und seiner Stadt am Wohl mitarbeitet, der in Treue und Liebe dienen und aus der Fülle des Lebens schöpfen darf. Was wir geben können, macht uns glücklich, was wir teilen dürfen, macht uns reich. Es wäre so einfach. Wir machen das Evangelium kompliziert. Amen

de_DEDeutsch