Markus 16,1-8

Markus 16,1-8

Ostersonntag | 09.04.2023 | Mk 16,1-8 (dänische Perikopenordnung) | Marianne Frank Larsen |

Als Hans Barrøy stirbt, verstummt seine Frau. In dem Buch des norwegischen Autors Roy Jacobsen „Die Unsichtbaren“[1] kehrt er zurück zu seiner Insel am Ende des Tages nach einem Ausflug auf dem Festland. Er bringt seine Einkäufe an Land und zieht das Boot herauf, und ehe er nachhause geht, setzt er sich auf die Stufe zum Bootshaus mit seiner Pfeife und raucht, während er nach Norden schaut in des hellrote Licht, das langsam blau wird. Dort finden sie ihn tot, seine Frau und sein großes Mädchen, seine behinderte Schwester und ihr Junge und die beiden kleinen unangepassten Pflegekinder, die sechs Menschen, die von ihm abhängig sind. In den Tagen nach der Beerdigung tun die Tochter und die Schwester und der Neffe alles, was sie können, um die Aufgaben zu bewältigen, die Hans ausgeführt hätte mit den Tieren und der Erde und dem Fisch, um das Dasein auf seiner Insel zusammenzuhalten. Maria nimmt daran nicht teil. Sie sitzt ganz still. Sie erzählen ihr, was sie machen, aber sie reagiert nicht. Sie erwähnen, was sie machen wollen, aber sie öffnet nicht den Mund. Sie fragen, ob Geld da ist zum Einkaufen und was sie vom Kaufmann brauchen, aber sie antwortet nicht. Schließlich holen sie einen Arzt, der nach ihr sehen soll. Er nimmt Maria mit zum Krankenhaus. Als sie nach einigen Monaten auf die Insel zurückkehrt, können sie sie nicht wiedererkennen. Ihr schwarzes Haar ist aschgrau geworden, schreibt der Dichter, und „ihre Haut sieht aus, als hätte sie nie die Sonne gesehen, denn sie gehört einer Leiche im Grab“, steht da. Das ist es, was der Verlust mit einem Menschen tun kann. Maria wird genauso stumm und grau wie Hans.

  Der Philosoph Karl Jaspers kommt zu dem Schluss, dass wir uns in unserer Existenz immer in Situationen befinden, die etwas Verschiedenes von uns verlangen. Und in allen gewöhnlichen Situationen des Alltags tun wir so gut wie wir können das, was wir meinen, dass es die Situation von uns verlangt. Wir verwenden die Phantasie. die Gabe der Einfühlung und die W orte, über die wir nun einmal verfügen, um die Situationen zu bewältigen, in denen wir uns befinden., und da ist so viel, was wir tun können. Aber dann gibt es auch Situationen, sagt Jaspers, wo wir zu kurz kommen. Die nennen wir Grenzsituationen. Das sind die Situationen, wo unsere Worte und unsere Tatkraft an ihre Grenze gelangen, wo es keinen Sinn macht, davon zu reden, dass man irgendetwas bewältigt, denn da ist nichts zu bewältigen. Als sie an diesem Abend Hans Barrøy tot auf der Stufe zum Bootshaus finden, ist das eine Grenzsituation. Das Verstummen seiner Frau in den Tagen und Monaten danach ist der sichtbare Ausdruck dafür, dass ihre Worte und ihre Handlungsfähigkeit ihre Grenze gefunden haben.

Eben in dieser Grenzsituation befinden wir uns im Osterevangelium, wenn wir den Frauen hinaus zum Grab folgen, währen der Morgenhimmel rot ist. Ja, sie kommen mit duftenden Ölen, um die Leiche zu salben., das ist das einzige, was sie noch tun können. Das ist so, wie wenn wir mit Blumen zu unseren Gräbern kommen, das macht eigentlich keinen Unterschied. Das ändert nicht das Geringste an der Situation der Frauen. Sie haben ihn verloren, den sie nicht entbehren können, und sie können nichts dagegen tun. Als er starb und begraben wurde, war die Grenze ihrer Handlungsfähigkeit erreicht. Der Stein, von dem sie reden, während sie gehen, ist der sichtbare Ausdruck für diese Grenze. Ganz so wie die Steine auf unseren Gräbern. Bis hierher und nicht weiter! Bis hierher ging dieses Leben – und nicht weiter. So nahe könnt ihr euren Toten kommen – und nicht weiter. Selbst wenn es den Frauen gelingt, Hilfe zu holen, um den Stein zu entfernen, ändert das nicht das Geringste an der Lage. Die Grenze zwischen dem Toten und den Lebenden kann niemand überwinden.

Als Maria mit aschgrauem Haar nach Barrøy zurückkehrt, beginnt sie langsam zu sprechen. Erst sagt sie nur einzelne Worte, so als übe sie sich, das Boot,  der Leuchtturm, das Pferd, aber dann allmählich erzählt sie zögernd der Tochter, wie der Vater gekleidet war, als sich die beiden begegneten, was er sagte, welche Einfälle er hatte, wie er mit dem Pferd arbeitete, mit dem Sand, dem Räucherofen. Und sie erzählt das einzige, an das sie sich erinnerte, als sie im Krankenhaus war: Dass er darauf bestanden hatte, am Esstisch immer ihr gegenüber zu sitzen, um sie keinen Moment aus den Augen zu verlieren. Das hat hatte er noch vor einem Jahr gesagt. Und so ging es zu, dass Hans Barrøy in den Worten seiner Frau auferstand. Der Tote lebt in den Erinnerungen, die sie in Worte fasst. In denen ist all das Banale und Gleichgültige verschwunden. Die Erzählung macht es ganz klar, dass Hans Barrøy für Maria unersetzlich war. Dass niemand jemals an seine Stelle treten könnte.

   Und wie merkwürdig es auch klingen mag, das ist eine Erfahrung, die mitten in der Trauer Dankbarkeit aufkommen lässt. Dass er für sie unersetzlich ist, und dass sie so unersetzlich für ihn wurde, dass er sie keine einzige Sekunde verlieren würde, dass erweckt Freude und weckt allmählich sowohl den Blick Marias als auch ihre Worte und ihre Handlungsfähigkeit. Trotz der Trauer ist die Erfahrung der Unersetzlichkeit eines anderen Menschen eine freudige Erfahrung, auch wenn es vorbei ist, denn das ist eine Erfahrung von der Güte des Daseins, vielleicht geradezu eine Erfahrung, die einen den anderen Menschen als eine Gabe sehen lässt, die man von einer Macht bekommen hat , die größer ist als die eigene Macht.

Mitten in der Verzweiflung machen die Frauen, die am Ostermorgen zum Grabe hinausgehen, dieselbe freudige Erfahrung. Auch sie haben erfahren, dass dieser bestimmte Mensch für sie unersetzbar geworden ist; auch sie sind sich darüber klar, dass niemand jemals an seine Stelle treten könnte; auch in der Erzählung von ihren Erinnerungen aus Galiläa wird der Tote auferstehen, auch für sie wird es ganz klar werden, dass dieser Mensch als ein Geschenk in ihr Dasein gekommen ist. Einmal, wenn sie erst den Toten gesalbt hätten.

Aber dann ist es nicht so, wie sie geglaubt haben! Der Stein ist beiseite gewälzt. Statt des toten Mannes finden sie einen lebendigen Engel. Seine Botschaft ist, dass nicht nur der Stein entfernt ist. Das ist die Grenze, an die die Frauen gelangt sind. Sie gilt nicht mehr, denn der Tote ist auferstanden. Ja, eigentlich sagt er Engel nach dem griechischen Text, dass er auferweckt ist. Im Passiv. Denn die Sache ist ja die, dass Tote nicht von selbst auferstehen. Wenn der Tote wirklich auferstanden ist, so kann das nur deshalb sein, weil ihn jemand auferweckt und ihm neues Leben gegeben hat, jemand hat die Grenze und das Grab geöffnet und ihn herausgelassen in die Morgenröte. Und dieser Jemand kann nur derselbe Gott sein, der den Frauen den bestimmten unersetzbaren Menschen als ein kostbares Geschenk gegeben hat. Der Gott, der uns für einander schafft, während wir leben, ist derselbe, der nun nach dem Tode seine Schöpfermacht eingesetzt hat, um seinen Menschen zu erwecken und ihm ein Leben zu geben, das keine Grenzen kennt.

Ostern heißt eigentlich Passah, das bedeutet Passage. Das bedeutet Übergang. Das ist der Übergang vom Tod zum Leben. Das ist der der Übergang von der Grenzsituation des Verlusts zur Hoffnung und zum Wiedersehen. Während sich der Schreck der Frauen allmählich gelegt hat, kommt es auch zu dem Übergang vom Verstummen zum Reden und von Trauer zur Freude. Das Wort des Engels im Osterevangelium bietet uns auch eine Passage an. Es ist die Passage von Erfahrung zum Glauben. Der Übergang von der Erfahrung Marias und unserer Erfahrung, dass jemand für uns unersetzbar wird, zu dem Glauben daran, dass der Gott, der uns einander als kostbare Geschenke gibt, während wir leben, uns auch Leben miteinander geben wird, wenn wir tot sind, wie er das am ersten Ostertag tat. Weil wir und unsere Toten für ihn so unersetzbar sind, dass er keine einzige Sekunde ohne sie sein will. Amen.

Pastorin Marianne Frank Larsen

DK 8000 Aarhus C

mfl(at)km.dk 

[1] Die Unsichtbaren. Osburg Verlag, Hamburg 2014.

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