Matthäus 12,33-37

Matthäus 12,33-37

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Buß- und
Bettag

17. November 1999
Matthäus 12,33-37


Hans Joachim Schliep


Anmerkung zur Predigt

„(33) Nehmt an, ein Baum ist gut, so wird auch seine Frucht gut
sein; oder nehmt an, ein Baum ist faul, so wird auch seine Frucht faul sein.
Denn an der Frucht erkennt man den Baum. (34) Ihr Schlangenbrut, wie könnt
ihr Gutes reden, die ihr böse seid? Wes das Herz voll ist, des geht der
Mund über. (35) Ein guter Mensch bringt Gutes hervor aus dem guten Schatz
eures Herzens; und ein böser Mensch bringt Böses hervor aus seinem
bösen Schatz. (36) Ich sage euch aber, daß die Menschen Rechenschaft
geben müssen am Tage des Gerichts von jedem nichtsnutzigen Wort, das sie
geredet haben. (37) Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus
deinen Worten wirst du verdammt werden.“

Liebe Gemeinde!

(I) Sie erinnern sich: Der Reformationstag war in diesem Jahr ein
besonderes Fest. In Augsburg wurde die „Gemeinsame Erklärung zur
Rechtfertigungslehre“ unterschrieben. Die evangelisch-lutherischen Kirchen und
die römisch-katholische Kirche stellen darin fest, daß sie in
„Grundwahrheiten“ übereinstimmen. Sie verurteilen einander nicht mehr, wie
es im 16. Jahrhundert geschah. Es geht um Kern und Stern des christlichen
Glaubens: Gott sagt Ja zum Menschen, bevor dieser etwas leistet. Und Gott steht
zum Menschen trotz alledem, was er sich leistet. Durch Handeln erreichen wir
unseren Lebenssinn nicht. Unser Leben wird sinnvoll durch das, was wir uns von
Gott schenken lassen. Und wir in unserer Gemeinde haben gemeinsam mit unserer
römisch-katholischen Nachbargemeinde ein richtiges Fest gefeiert – ein
Fest in ökumenischem Geist!

Doch nun das! Nun diese Worte aus dem Matthäus-Evangelium.
Wir wissen ja, daß der Theologe Matthäus andere Akzente setzt als
der Theologe Paulus. Auf einige Widersprüche sind wir gefaßt. Das
geht nun aber doch zu weit, was Jesus hier sagt – und dazu so eiskalt, so
glasklar, so kompromißlos: Guter Baum – gute Frucht, schlechter Baum –
schlechte Frucht, und deine Worte werden zum Maßstab, zur
unausweichlichen Weichenstellung für dein ewiges Glück oder dein
ewiges Unglück! Gnade kommt da nicht vor. Keine Chance, einmal in einem
anderen Licht zu erscheinen. Wozu mühen wir uns dann überhaupt ab,
wenn das Gute ohnehin nur Gutes und das Böse ohnehin nur Böses zeugt?
Wozu haben wir uns dann auch noch mit der Erklärung zur „Rechtfertigung“
gemüht? Zurück, marsch, marsch, in die alte Buß-Praxis – soll
es etwa das heißen?

(II) Es hat, liebe Gemeinde, wenig Sinn, sich an der Härte
dieser Worte Jesu vorbeizumogeln. Sie sind und bleiben anstößig –
für unseren Glauben, für unsere Theologie und vor allem für
unser neuzeitliches Selbstverständnis. Das vor allem stellen sie in Frage:
Was man heutzutage für selbstverständlich hält, was also das
eigene Selbstverständnis ausmacht. Das wird deutlich am Zusammenhang, in
dem Jesus diese Worte spricht: Er hat jemanden geheilt, der besessen war, blind
und stumm. Einer solchen Person ist er mit der Nähe Gottes begegnet.
Vorher hat er jemanden geheilt, der eine verdorrte Hand hatte. Und das am
Sabbat. Am heiligen Tag, an dem Tag, der ganz Gott gehörte. Und das ruft
die Empörung etlicher anderer Leute hervor. Mit scharfen Worten
geißeln sie Jesus, er sei anmaßend gewesen, habe etwas getan, was
nur Sache Gottes selbst sein könne.

Was da auch im einzelnen geschehen sein mag, es geht darum,
daß Menschen, die gerade aus Sicht der Jesus-Kritiker keine guten
Früchte hervorbringen können, die ihr Leben lang gezeichnet sind als
gottes-ferne Mißgeburten, plötzlich als „gute Bäume“ dastehen.
Jesus hat also das Gute, das Gott-Gemäße dieser Menschen erst einmal
freigelegt. Jesus gehört also nicht zu denen, die Menschen auf das
festlegen, was sie aus landläufiger – oder auch besonders frommer – Sicht
nun einmal sind und ein für allemal bleiben werden. Er hat sie zuerst
einmal zu einem neuen Sein und Wirken befreit. Daß diese Gut-Tat, diese
Befreiung nicht anerkannt wird, das macht ihn so zornig. Das führt ihn zu
dem Urteil: Die Leute, die ihn angreifen, sind nicht willens, die guten
Früchte anzuerkennen, die in der Nähe Gottes wachsen und reifen – und
eben daran ist zu erkennen, daß sie nicht willens sind, gute Früchte
hervorzubringen. Wenn sie, wie sie meinen, wirklich die Nähe Gottes
spürten, würden sie ein sabbatliches, ein Freuden-Fest feiern,
daß andere Menschen der Nähe Gottes gewahr geworden sind. Sie haben
sich selbst schon ihr Urteil gesprochen. Da sie von guten Früchten nichts
wissen wollen, bleiben sie ihrer eigenen Logik verhaftet: guter Baum – gute
Früchte, schlechter Baum – schlechte Früchte; eiskalt und glasklar.

Wie oft sprechen wir uns selbst ein Urteil?! So ein Buß- und
Bettag macht Sinn, wenn wir auch einmal darüber nachdenken. Aber nicht, um
uns noch einmal anzuklagen und zu verurteilen. Denken wir vielmehr an die
wichtigen Augenblicke in unserem eigenen Leben, in denen sich uns eine neue
Sicht der Dinge erschloß, in denen wir eine neue Sprache fanden, in denen
unsere Hand wieder zugreifen lernte, weil sich die Sturheit unseres Sinnes und
die Starrheit unseres Herzens auflösten! Wer so über sich selbst
„urteilen“ lernt, wird sich vor Urteilen über andere hüten – wird
sich hüten vor diesen Worten, die treffen wie scharfe Pfeile.

(III) Auf die Sache mit den Worten komme ich gleich noch zu
sprechen. Was ich eben gesagt habe, könnte das neuzeitliche
Selbstverständnis leicht so mißverstehen, als habe Jesus alles
Prüfen, alles Messen an Maßstäben, ja, alles Rechtfertigen als
unzeitgemäß und unchristlich abgetan. So wird ja des öfteren
auch die Botschaft von der Gottesliebe, von der „Rechtfertigung allein aus
Gnaden“ mißverstanden: es komme gar nicht mehr darauf an, wie einer
handle. Ja, man geht noch weiter und wähnt sich in der Tradition Luthers
und der Reformation, die man damit zugleich abzustreifen und für sich zu
den Akten zu legen meint, indem man jede urteilende Instanz leugnet oder
ablehnt.

Im Blick auf eine solche Haltung sind Jesu Worte besonders
anstößig. Denn sie decken eine Wirklichkeit auf, die einfach da ist:
sich rechtfertigen zu müssen, zu urteilen und selbst beurteilt zu werden.
Jesus spricht von der „Rechenschaft“, die abzulegen ist. Und setzen wir uns
nicht ständig unter Rechtfertigungs-Zwang? Ich greife einen Gedanken des
Philosophen Odo Marquard auf, den ich für mich so wende: Indem wir
versuchen, wahre Paradiese der Neuzeit zu schaffen, setzen wir uns unter einen
enormen Gott-Werdungs-Druck, der zu einem erbarmungslosen Rechtfertigungs-Zwang
führt. Wir akzeptieren kaum noch Katastrophen als Natur-Katastrophen. Viel
mehr Katastrophen produzieren wir selber. In allem wird ein menschliches
Versagen vermutet – auch das technische Versagen, machen wir uns da nichts vor,
ist letztlich auf menschliches Versagen zurückzuführen. So sind die
Tagesmeldungen voll von An-Schuldigungen und Ent-Schuldigungen. Wir machen uns
wechselseitig haftbar für sämtliche Mängel, Irrtümer und
Fehlleistungen. Nun wäre es keineswegs im Sinne Jesu, wie wir es aus
Matthäus 12 gehört haben, verlören wir die Folgen unseres
eigenen Handelns aus dem Blick. Es ist ja eben nicht gleichgültig, was wir
tun. Aber indem dabei Gott ganz und gar aus dem Spiel gelassen wird, indem
alles aus Menschen- und nichts aus Gottes Hand genommen wird, fällt auch
alles auf den Menschen zurück, auf uns selbst und niemanden sonst. Es ist
gut, wenn von der Verantwortung des Menschen die Rede ist; das kommt dem nahe,
was Jesus mit „Rechenschaft“ meint. Wo aber nur noch von Verantwortung die Rede
ist, wo Vergebung und Gnade in die Abstellkammer gesteckt werden, weil sie der
Selbständigkeit des Menschen widersprächen – wird dort und dann der
Bogen menschlicher Möglichkeiten nicht ein weiteres Mal überspannt?!
Heute neigen wir Menschen dazu, alle Last der Verantwortung uns selbst
aufzubürden. In der Tat, wird Gott verabschiedet und Christus für
bedeutungslos gehalten, muß der Mensch alle Schuld selbst tragen und sich
ständig vor sich selbst rechtfertigen. Ohne Bezug zu einem zwar
urteilenden, aber um Christi willen nicht ver-urteilenden Gott macht sich der
Mensch selbst einen gnadenlosen Prozeß, indem er als Angeklagter und
Ankläger, als Verteidiger und Richter zugleich auftritt. Kein Wunder, wenn
Schuld als Lebens-Wirklichkeit geleugnet wird, aber überall Schuldige
gesucht werden.

(IV) Und dann rutschen die Worte aus, einmal abgesehen von dem,
was ohnehin unnützes Geschwätz ist, was besser ungesagt bliebe, weil
es zum Geheimnis eines Menschen mit sich selbst oder mit dem Menschen, den ich
liebe, und mit Gott gehört. Dann werden Reden geführt und Urteile
gesprochen, die es in sich haben, die Schwertern gleich einen den Kopf kosten
können. „Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden“ – das
heißt: In dem, was so gesagt und geschrieben wird, ist erkennbar, was an
Rechtfertigungs-Zwang und -Druck unter uns sich abspielt. Ebenso kann im
privaten Umfeld, im Bereich des sehr persönlichen Umgangs die Zunge wie
ein kleines Streichholz sein, daß einen ganzen Wald anzündet. Wer
hat schon nicht einmal großen Schaden nur mit Worten angerichtet?! Es ist
gut, wenn ich mir gerade als Wort-Profi alles dieses immer wieder klar mache!

Zum rechten Umgang mit dem Wort fand ich diese Anekdote: Aufgeregt
und empört wollte jemand dem Sokrates etwas über dessen Freund
erzählen, was dieser gesagt habe. Sokrates ging darauf ein mit einer
Rückfrage: „Hast du das, was du sagen willst über meinen Freund durch
die drei Siebe gesiebt?“ „Welche drei Siebe?“ „Nun, das erste Sieb ist die
Wahrheit. Weißt du genau, daß alles, was du mir erzählen
willst, stimmt?“ „Genau weiß ich das nicht. Ich hab’s aber gehört.“
„Dann“, fuhr Sokrates fort, „hast du es durch das zweite Sieb, das Sieb der
Güte gesiebt?“ „Nein, ich bin empört und zornig. Ich wollte ihn
anklagen und ihm das Handwerk legen.“ „Dann wirst du die ganze Geschichte
mindestens durch das dritte Sieb gesiebt haben, der Notwendigkeit: Ist es also
notwendig, mir das weiter zu erzählen, was du da aufgeschnappt hast?“ „Na
ja, ob es unbedingt notwendig ist, daß du es erfährst…?“ „Wenn es
also weder wahr noch gut noch nützlich ist, was du mir erzählen
willst, dann laß uns die Sache vergessen…“.

Der rechte Umgang mit dem Wort. Worte, die nützlich sind,
hilfreich, aufbauend, befreiend – statt „nichtsnutzig“. Es gibt so ein Wort,
daß die Erfahrung um-schließt und er-schließt, um die es bei
der „Rechtfertigung allein aus Gnaden“ geht, um deretwillen wir das
diesjährige Reformations-Fest mit gutem Grund in besonderer Weise begangen
haben und die in guter Beziehung steht zum heutigen Buß- und Bettag:

„…und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren
Schuldigern…“

Einzig ein solches Wort, eine Bitte, ein Gebet, kann all die
verlorenen und verlogenen, die verurteilenden und die sich selbst verdammenden
Worte retten und heilen. Und dabei denke ich an eine andere Geschichte, die
Jesus erzählt hat von einem Baum, der ohne Früchte blieb: an die von
dem Feigenbaum, der – statt abgehauen zu werden – noch eine Chance erhält,
Früchte hervorzubringen. Der große Gärtner selbst will den
Boden um ihn herum auflockern.

Amen.

Anmerkung:

Dieser Predigt-Entwurf wurde unmittelbar nach Eingang der Bitte
der GPI-Redaktion spontan und in kurzer Frist geschrieben. Ihm liegt lediglich
eine Lektüre von Text und Kontext zugrunde sowie eine schnelle
Einblicknahme in zwei Predigtmeditationen. Dabei habe ich mir vorgestellt, erst
kurz vor dem Gottesdienst zu erfahren, daß ich irgendwo mit einer Predigt
zu Mt 12,33-37 einspringen müßte. Der Text ist eine besondere
Herausforderung für jemanden, der vom Typ her wohl eher ein Prediger der
Liebe und der Freiheit als des Gesetzes und der Ordnung ist. Doch wohlan! Und
bitte: weiterdenken und berichtigen, was nicht ganz stringent gedacht und klar
ausgedrückt ist!

 

Hans Joachim Schliep
Ev.-luth. St. Johannis-Kirchengemeinde
Bemerode
Kirchenzentrum Kronsberg (EXPO-Stadtteil)
Berlageweg 4, 30559
Hannover
Tel./Fax: 0511-52 75 99/9 50 70 85

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Hans-Joachim.Schliep@evlka.de

08.11.1999

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