Matthäus 27, 33-54

Matthäus 27, 33-54

Seelsorge kreuznah| Karfreitag | 29.03.24 | Mt 27, 33-54 | Verena Salvisberg |

Liebe Gemeinde

Viele Akteure tummeln sich in dieser vom Evangelisten Matthäus beschriebenen Karfreitagsszene. Da sind jene, die Jesus ein bitteres Getränk reichen. Oder die Männer, die das Los werfen, um seine Kleider aufzuteilen. Einige sitzen da und halten Wache. Anderen ist es wichtig, dass geschrieben steht, worin seine Schuld besteht: König der Juden. Welche Anmassung!

Zwei Räuber werden gekreuzigt, links und rechts. Auch sie verhöhnen den Mann in der Mitte.

Andere gehen vorbei, schütteln den Kopf: Den Tempel niederreissen und in drei Tagen wiederaufbauen? Wie vermessen!

Da sind die Hohepriester und Schriftgelehrte. Sie sagen: Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht helfen. Einige stehen dort und warten: Lasst uns mal sehen, was passiert.

Ein geschäftiges Treiben rund um das Kreuz.

Und der Gekreuzigte? Der sterbende Mensch?

Mit ihm wird gemacht. Über ihn wird gespottet.

Er wird verhöhnt. Er wird behandelt, als sei er schon tot.

In meinen ersten Jahren als Pfarrerin fand ich mich oft in ähnlichen Szenen wieder. Ich wurde gerufen. Es eilt. Die Mutter liegt im Sterben. Der Vater kann nicht von dieser Welt lassen. Der Bruder ist sterbenskrank. Du musst kommen. Rund um den Menschen auf dem Totenbett war oft viel Betrieb. Menschen gingen aus und ein. Die medizinische oder palliative Pflege musste verrichtet werden. Nicht selten wussten Angehörige, was jetzt gut wäre für den Sterbenden. Beten. Singen. Belastendes beichten. Einen Segen sprechen. Einmal habe ich erlebt, wie eine junge Pflegerin bei einer uralten Frau – sie lag ganz offensichtlich im Sterben – anhand von einer Liste abzuklären versuchte, was sie am nächsten Morgen zu frühstücken wünsche. Butter und Brötchen oder Müesli?, welche Konfitüre?, Milchkaffee oder lieber Tee? Wie absurd! Mit den Menschen wurde gemacht, sie wurden behandelt, sie lagen da, geplagt von den Vorstellungen und Erwartungen der Umgebung.

Ich spürte als junge Pfarrerin eine grosse Scheu vor diesen Situationen. Da war bei mir ein grosser Respekt vor dem Tod und vor dem, was unmittelbar vorher kam. Ich litt unter dem Betrieb und dass ich ein Teil davon sein sollte. Was konnte ich überhaupt tun als Seelsorgerin? Was war mein Auftrag?

Besonders herausfordernd wurde es für mich in dem einen Jahr, als innerhalb von wenigen Wochen ein ehemaliger Konfirmand im Schwimmbad ertrank, eine engagierte Freiwillige unheilbar erkrankte und einer der regelmässigen Gottesdienstbesucher im Spital auf seinen Tod wartete.

Es ging nicht anders: Ich musste mich stellen. Meinen Fragen. Meiner Ohnmacht. Dem Tod.

Was war mein Auftrag? Was konnte ich tun?

Einfach eine weitere Akteurin sein in dem Karfreitagsgeschehen?

Der Konfirmand lag im Technikraum des Schwimmbads auf dem Boden. Der Amtsarzt hatte gerade den Totenschein ausgestellt. Jemand hatte mich angerufen, es sei etwas Schlimmes passiert, ich müsse kommen. Der Arzt sagte zu mir: «Wenn man jetzt genug Glauben hätte, könnte man ihn lebendig machen». In meinen Ohren klang das höhnisch, so wie «Andere hat er gerettet, sich selbst kann er nicht retten…».

Die freiwillige Mitarbeiterin bat mich zum Gespräch, nachdem sie die Diagnose der tödlichen Krankheit erfahren hatte. Wie konnte ich sie unterstützen, ihr beistehen oder helfen?

Sie besuchte Heilungsgottesdienste und hegte die grosse Hoffnung auf ein Wunder. Sollte ich ihr diese Hoffnung ausreden? Was war mein Auftrag in dem Ganzen?

Und schliesslich der treue Gottesdienstbesucher. Ihm war der Glauben abhandengekommen. Die frommen Sprüche blieben mir im Hals stecken.

Diese Wochen mit den drei Krankheits- und Todesfällen, die mich persönlich betrafen und die die Frage nach meinem Auftrag dringlich stellten, forderten mich sehr. Ich las, ich hörte Musik, um irgendwie klarzukommen.

Was mir wirklich half war dieser Holzschnitt der ungarischen Künstlerin Dávid Mária Kiss[1], den ich Ihnen heute mitgebracht habe:

Mitten in dem Betrieb rund um den Tod diese eine Szene:

Zwei Füsse

die Wundmale lassen den Gekreuzigten erkennen

das Holz des Kreuzes

ein verhülltes Gesicht

eine Hand.

Ein schlichtes Bild. Eine Geschichte. Jemand ist nicht davongelaufen. Vor dem Leiden. Vor dem Tod.

Es gibt nichts zu tun. Auch nichts zu sagen. Das ist schwer.

Könnten Sie das? Sterben und Tod, Leiden – ein schwieriges Thema. Eines, dem wir gerne ausweichen.

Dorothee Sölle schreibt in ihrem postum erschienenen Buch «Mystik und Tod»:

Wir sind nicht mehr nur Erdulder unseres Geschicks…Die Menschen sind Täter geworden. Sie haben gelernt, …Krankheiten zu vertreiben, das Leben zu verlängern. Sie haben gelernt, Macher des eigenen Lebens und Schicksals zu sein. Diese reine Täterschaft bringt ihr eigenes Unglück mit sich. Es verkümmern die Begabungen der Menschen, die mit dem Leiden, dem Annehmen, dem Dulden, dem Ertragen zusammenhängen, ihre Fähigkeiten, das Leben anzunehmen, Grenzen zuzugeben… Wer nur gelernt hat, im Aktionsmodus zu leben, wer sich selber nur als Macher gerechtfertigt sieht, kann nicht mit Situationen umgehen, in denen er nichts mehr machen kann und in denen er als Täter an seine Grenzen stösst… Darum stirbt es sich so schwer bei uns.[2]

Diese grundsätzlichen Überlegungen drücken sich aus in alltäglichen Begebenheiten, die wir wohl alle kennen. Am schwierigsten ist die Kommunikation, wenn irgendwie eine Krankheit oder der Tod im Spiel ist. Angefangen bei der Frage nach dem Befinden? Wie geht’s? Eigentlich muss jedes Mal zwischen den beiden Gesprächspartnern austariert werden, ob es um Smalltalk geht oder mehr.

Oder wie kann man einer flüchtigen Bekannten, deren Mann kürzlich verstorben ist, sein aufrichtiges Beileid ausdrücken? Reicht die Floskel vom Kondolieren? Oder verstecke ich mich doch lieber schnell hinter dem nächsten Gestell im Laden, um die peinliche Begegnung zu vermeiden?

Was, wenn jemand unheilbar krank ist? Kann ich ihm meine gesunde Gegenwart zumuten? Worüber sprechen wir? Über die Krankheit, den Tod? Oder vermeiden wir das Thema, in dem wir über alles Mögliche plaudern? Mit wem kann man überhaupt über den Tod sprechen?

Es ist schwer. Und doch sind wir immer wieder gefordert, uns damit auseinanderzusetzen. Und wir versuchen es auch immer wieder. Versuchen auch immer wieder das Aushalten. Versuchen das Nahesein. Niemand soll allein sein müssen in der Verzweiflung, in der Krankheit, im Leiden, im Tod!

Ein paar Stunden vor seinem Tod sagt Jesus zu seinen Freunden: Meine Seele ist zu Tode betrübt, bleibt hier und wacht! Meine Seele ist zu Tode betrübt. Haben Sie jemanden, dem sie diesen Satz sagen könnten? Wären Sie fähig, diesen Satz zu hören? Mir fallen sofort Strategien ein. Zu Tode betrübt? Das darf nicht sein. Wie könnte man diesen Menschen aufmuntern? Vielleicht etwas unternehmen? Etwas Ablenkung täte ihm gut.

Es könnte aber sein, dass es in diesem Moment nichts zu tun gibt, auch nichts zu sagen. Aber das ist schwer. Und weil wir diesen Satz nicht hören können, mögen wir ihn auch nicht aussprechen: Meine Seele ist zu Tode betrübt.

Dieser Satz eines Menschen, der am Ende ist, kann zum Anfang werden. Wenn er ausgesprochen wird und wenn er gehört wird. Zum Anfang des Daseins, des Bleibens, des Nichtdavonlaufens, des Aushaltens bis zuletzt.

Bleibt hier und wacht!

Dieser Bitte Jesu wird nicht entsprochen. Die Jünger im Garten schlafen. Was hätte es nicht alles für Alternativen gegeben!

Sie hätten die Not ihres Freundes wahrnehmen können.

Sie hätten mit Jesus gemeinsam auf das Ende warten können.

Sie hätten zu ihm sprechen können. Worte, die noch gesagt werden mussten. Ihm danken. Fragen stellen. Sich versöhnen.

Sie hätten sich gemeinsam erinnern können an viele gemeinsame Erlebnisse.

Sie hätten ihm die Möglichkeit geben können, über seine Todesangst zu sprechen.

Sie hätten über ihre eigenen Ängste und Hoffnungen sprechen können.

Sie hätten gemeinsam beten können.

Nichts von dem.

Wie traurig!

Menschen, die andere beim Sterben begleiten oder Menschen, die todkrank sind, berichten Erstaunliches. Eine Familie, die ihren Vater begleitet bis zum letzten Atemzug, erzählt in bewegenden Worten von dem Frieden, von dem sie erfasst wurde, in diesen letzten Momenten.

Eine Akteurin zu sein in den Karfreitagsszenen des Lebens. Im Laufe meines Berufslebens habe ich das gelernt. Ich habe gelesen. Ich habe geschaut und gehört. Ich habe Ohnmacht ausgehalten. Ich habe stellvertretend für einen Menschen gebetet: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Und wenn ich heute den Holzschnitt betrachte, der bei mir im Büro hängt, denke ich: Eigentlich ist das das Wesentliche aller Seelsorge, nicht nur am Sterbebett: Aushalten, dass man nichts machen kann.

Und wenn sich in der matthäischen Karfreitagsgeschichte gleich die Ereignisse überstürzen.

Drei Stunden finsterste Finsternis.

Der Schrei.

Der Vorhang im Tempel, der zerreist.

Das Erdbeben.

Die Gräber, die sich öffnen. Die Heiligen, die hervorkommen und in der Stadt vielen erscheinen.

Und ein römischer Hauptmann, der erkennt: Ja, der war wirklich Gottes Sohn.

Wenn diese sich überstürzen Ereignisse alles nochmal in ein anderes Licht rücken, eine Bedeutung hinzufügen, die über den Tod hinausweist, bleibt mir für mich doch am wichtigsten dieses Bild:

Zwei Füsse, das Holz des Kreuzes, ein verhülltes Gesicht, eine Hand.

Ein Bild grösster Innigkeit.  Ganz hinein gegeben in die Dunkelheit lehnt jemand – eine Frau? –  den Kopf an den Kreuzesstamm. Sanft berührt ihre Hand das Holz, an dem Jesus hängt.

Die gaffenden Zuschauer, die Gleichgültigen am Wegesrand, die brutalen Soldaten, sie alle sind aus diesem Bild verbannt. Sie haben keinen Zutritt zu diesem Raum, der von Trauer und Liebe erfüllt ist.

Eine traute es sich zu: Sterbebegleitung. Bleiben, sich der Dunkelheit aussetzen, den Schmerz teilen, den Todesschrei aushalten. Und bleiben. Karfreitag, das heisst nicht davonzulaufen vor dem Leiden und vor dem Tod, dem der anderen und unserem eigenen.

Es gibt nichts zu tun. Auch nichts zu sagen.

Das ist schwer. Immer noch.

Seelsorge kreuznah.

Amen

Pfrn. Verena Salvisberg

Merligen

verenasalvisberg@bluewin.ch

Verena Salvisberg Lantsch, geb. 1965, Regionalpfarrerin seit 1. August 2022, vorher Gemeindepfarrerin in Laufenburg und Frick und Roggwil

[1] Vera Krause, Ancilla Röttger OSC: KreuzWeg mit Bildern von Dávid Mária Kiss. Verlag Katholische Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2007.

[2] Sölle, Dorothee: Endlichkeit und Ewiges Leben. Zur Mystik des Todes. 2002, S.11.

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