Matthäus 5, 17 (18-20)

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Matthäus 5, 17 (18-20)

Paar-Tanz | 10. So. nach Trinitatis | 21.08.2022 | Matthäus 5, 17 (18-20) | Jochen Riepe|

I

Ob das geht: Daß einer abhebt und doch nicht den Halt verliert? Daß er gebunden ist und doch sich bewegt? Daß er offen ist, aber nicht leer? ‚Ihr sollt nicht meinen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen‘.

‚… das Gesetz und die Propheten‘: Als König David die Lade mit den Tafeln der Zehn Gebote heimholte, sang er vor Freude: ‚Ich will vor dem Herrn tanzen‘ (2. Sam.6, 21). Heute ist Israelsonntag.

II

Tanzen … Das Paar bewegt sich elegant und leichtfüßig auf einer Fläche im Stuhlkreis. Sie halten einander bei Händen und Armen und setzen heiter ihre Schritte. Die Musik umfängt das wunderbar, und das Publikum würde am liebsten aufstehen und es den beiden gleichtun. Wer den karibischen Tanz nicht kennt, wird überrascht: Die eben noch in vertrauter Weise Verbundenen öffnen die geschlossene Haltung, lösen sich, gehen soz. auf Abstand und geben einander frei – ‚Promenade/New Yorker‘, ruft einer- und immer noch lächeln sie, um schließlich sich erneut zu finden und  bei den Händen zu nehmen. ‚Tanztee‘, nicht wahr, das war die Welt von uns Alten, ‚die Welt von gestern‘.

III

Ja, ‚die Alten‘ (5,21) … Das Wort Jesu aus der Bergpredigt  ist alles andere als leichtfüßig. Manche halten es für eines der schwierigsten im Matthäusevangelium.  Gegen die Vorwürfe seiner Gegner betont es Jesu  Verwurzelung in den Traditionen Israels und in den Geboten des Gottes, der mit Israel einen Bund schloß: ‚Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen‘. Jesus lebte in keiner geschichtslosen Scheinwelt ‚über den Wolken‘. Er war ein Jude, er lebte, betete wie ein Jude. Sein Volk blieb der erste Adressat seiner Verkündigung. Als junger Mann war er seinen Eltern ‚untertan‘ (Lk 2, 51) und erlernte ein Handwerk. Er wußte die zehn Gebote auswendig, las aus der Schriftrolle in der Synagoge und legte aus, was ‚Gesetz und Propheten‘ überlieferten: ‚Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist…‘ (Mi 6,8).

Mit den Jahren ist mir dies sehr nahegerückt: In einem Bund stehen, der Partnerschaft Gottes teilhaftig sein, aus dieser Bindung treu sich nähren (Jer 15,16); eine Geschichte haben, eine Heimat, wissen, wo man hingehört, ja, das ist ein Menschenrecht. ‚Es ist ein Verbrechen, einen Menschen zu entwurzeln‘, meinte Simone Weil.

IV

Natürlich, ich höre schon die Einwände der Weltoffenen und fliegenden Kosmopoliten: Ist das nicht ein enges, konservatives Verständnis des Lebens Jesu und paßt gar nicht zu seinem Anspruch, das Kommen des Reiches Gottes ‚allen Völkern‘(28,19) zu verkünden und die Überlieferung Israels zu ‚erfüllen‘. ‚Erfüllen‘ ist ja mehr als gehorchen und weitergeben. Hört man da nicht auch ein ‚zum Ziel, bringen‘, ja, ein Lösen und Vollenden und Überwinden, und hat solche Sätze vor Augen, die Jesu Freiheit betonen, ja, die ihn, aus königlicher Linie stammend (1,1-17), wie David als Tänzer darstellen, der den Reigen anführt, mit uns abhebt und zum Vater ‚emporzieht‘ (Joh 12,32)? ‚Ein neues Gebot gebe ich euch‘, heißt es bei Johannes.

Jesus kannte gewiß nicht diesen kubanischen Tanz, aber der Zug in ‚fernes Land‘ (Lk 15,13), riskante Grenzüberschreitungen: ‚ den Alten wurde gesagtIch aber sage euch‘ (5,22), kannte er sehr wohl.  ‚Promenade‘ heißt die Tanzfigur, spazieren gehen, ‚lustwandeln‘, ja, ‚herumlaufen‘, und das kann man ja nicht nur auf der Tanzfläche, sondern auch im Umgang mit der Herkunft, mit den Regeln der Väter und den Mahnungen der Mütter: das tanzende Wort. Auch unter Bundesgenossen und in Paar-beziehungen gilt: Abstand ist lebensrettend, weil er Festgefahrenes und Entstelltes sehen und das Wesentliche vom Unwesentlichen unterscheiden läßt. Der Satz der Philosophin geht weiter: ‚ … es ist aber eine Errungenschaft, sich selbst zu entwurzeln‘.

V

Das lächelnde Paar. In meiner ‚vor-achtundsechziger‘ Tanzstunde  ging es zwar nicht so autoritär wie im alten Lübeck zu: ‚Alle haben es verstanden, nur Sie nicht‘, blamiert der Lehrer Francois Knaak  Tonio Kröger in Thomas Manns Erzählung. Aber Peinlichkeiten waren auszuhalten: Erhitzte Gesichter, pickelgeplagte Schieber, stürzende Elevinnen auf dem glatten Parkett. Wie spießig das alles! Wie aufregend aber, als dann dieser Tanz geprobt wurde, in dem die Öffnung zum Figurenspiel  gehört – Promenade – und das einander Wiederfinden sich zwanglos ergibt. Fröhliches Wechseln: Bindung und Öffnung, Annäherung, Abstand, Halten und Loslassen  – das geht miteinander und verweist tänzerisch auf ein ‚güldenes Band‘, das wohl bindet, aber nicht ‚schlingt‘ oder gar würgt.

Es gibt Zeiten, da wir die Wurzeln der Herkunft im Zorn oder Selbstmitleid kappen. Im Leiden an den Altvorderen, aber auch im Eifer um die Aufmerksamkeit ‚der Leute‘ (6,1) und einen Platz im ‚Wichtigkeitslicht‘ (U. Tellkamp) verwerfen viele das Überlieferte, die Sätze der Eltern, den ‚Gott der Väter‘, die gewaltsame Geschichte des ‚weißen Mannes‘. Einst wollten Teile der Kirche die Verbindung zu Israel lösen und das Alte Testament aus der Bibel verbannen. Der kalte Schöpfergott sei nicht der liebende Gott Jesu. Heute  erleben wir eine Lust der Zertrümmerung, angefangen bei den Straßennamen, über Denkmäler bis hin zu den Erzählungen von Gott und den Menschen. ‚Social warriors‘… sie ‚rocken‘ und entwickeln freie, wilde, anzügliche Weisen der Bewegung  mit einer Musik, die wehtun soll. Tanztee, Walzer, Paartanz, o, je!?

VI

Gewiß gibt es im Handeln Jesu faszinierende ‚rockige‘ Elemente. Er erteilt den Ansprüchen seiner Familie eine barsche Abfuhr. Er gewährt den ‚verlorenen Söhnen und Töchtern‘ Tischgemeinschaft und spricht Schuldiggewordenen  Vergebung zu. Er geißelt die, die  gut und gesetzestreu scheinen, in Wahrheit ihren Interessen folgen (23,5) und die Menschen mit unzähligen Vorschriften ‚plagen‘(11,28). Aber eben:  dieses Rockige wurde nicht zum Tanzzwang in ‚roten Schuhen‘. Es war eingebettet in das ‚güldene‘ Urvertrauen: Der Gott des Bundes ist ein fürsorglicher Vater, dessen Weisungen das Leben seines Volkes wollen. ‚Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen‘. Ja, ich kann die Lehren ‚der Alten‘, ihr Wünschen und ‚Sehnen‘(eg 12.2) mitnehmen in die Zukunft des Reiches Gottes, von ihnen lernen und sie überbieten, in beidem bleiben sie Zeugen dieser Wirklichkeit.

Erfüllen‘ … ich höre in diesem Wort ein weises und mündiges Verständnis der Voraussetzungen unseres Lebens, unserer Familien- und auch der Geschichte unseres Volkes. Wir können in der Kraft des Geistes die oft sperrigen Vorgaben annehmen – gleichsam Gottes ‚Sonne über ihnen aufgehen‘ (5,45) lassen.  ‚Die Alten‘, sie waren Menschen aus Fleisch und Blut wie wir, und ihr Hoffen, ihre Trauer, ihre Schuld, ihre kritische Stimme, dies gehört zu uns im ‚Guten und Bösen‘. Darum liegt in der wahrlich radikalen, eben königlichen, Bergpredigt etwas Gelassenes, der endlosen Sorge absagendes, ‚Lust an der Weisung des Herrn‘ (Ps 1,2). Wir dürfen die Weisungen ‚murmeln‘, prüfen, vor allem aber: uns aufstören und mit unseren Handlungen konfrontieren lassen. Jedes Gebot sucht doch den Schalom, die Gerechtigkeit Gottes und des Menschen und muß gleichsam ‚wachgeküßt‘ oder ‚wachgetanzt‘ werden. Das ‚nahe Wort‘ (Dtn 30,14) ist ja eine auslegungsbedürftige Gabe  (Neh 8,8).

Martin Luther hielt es entsprechend für möglich, ‚neue Dekaloge‘ zu schreiben: ‘Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten‘, haben wir als achtes Gebot gelernt. Sollten jüdische und christliche Gemeinden  zur Verteidigung des Grundrechts auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit es nicht aktualisieren: ‚Du sollst nicht den verunglimpfen, ‚melden‘ oder ausgrenzen, der anders denkt als die Mehrheit oder als du selbst!‘

VII

Der tanzende König David. Der tanzende Davidssohn (1,1). Anscheinend können beide zusammen halten, was für uns oft auseinanderfällt. Freudig-verwurzelt hoben sie ab, abgehoben verloren sie nicht den Boden. Im Tanz ist beides verbunden und findet seine Balance.

Der kubanische ‚Cha-Cha-Cha‘ ist dafür ein schönes Beispiel: In der Konvention eines Tanzkurses lernten wir etwas über die Formgebung des Lebens. Im Wechsel von geschlossenen und offenen Figuren prägt sich ein, wie beides einander hält und ein Lebens-Paar bildet. Körpergedächtnis.  Wir können eine Bindung öffnen, ‚promenieren‘ und dürfen sie doch wieder aufnehmen und neu gestalten. Offen, aber nicht leer. Das ist soz. Reich-Gottes- Praxis  tanzpädagogisch angeleitet und eingeübt. Jesu Leben ist insofern eine ‚Aufforderung zum Tanz‘. Vom ‚höchsten Gebot‘ erfüllt, der Liebe zu Gott, zum Nächsten und sich selbst, eröffnete er den Reigen, der die Überlieferungen Israels, ‚das Gesetz und die Propheten‘ aufnahm und in Freiheit verantwortete.

VIII

Ich will vor dem Herrn tanzen‘, aus Dank für und Freude an Gottes Gebot.

Am Israelsonntag sei das Bild gestattet: Christen und Juden, ein Paar mit einer langen, oft unseligen, ja gewaltsamen Geschichte, das aber gelernt hat: Wir haben einander auf die Füße getreten (und schlimmer!), wir sind gestolpert, wir wollten den Solotanz, heute wissen wir: ‘Seite an Seite‘ (Zeph 3,9) im Gebet zu dem Gott Israels, dem Vater Jesu, und geformt von seinem ‚herrlich Recht‘(eg 289.2) können wir einander halten und zugleich dem anderen seinePromenade, sein ‚Abheben‘ gönnen.

 

(Gebet nach der Predigt): Lieber Vater im Himmel, Lob sei dir und Dank für die Gabe der Weisung. Laß uns mit Israel hören auf dein Wort. Laß uns mit Israel lesen in den Schriften. Laß uns mit Israel handeln, ernst und gelassen, in der Freiheit deines Geistes; auf daß wir wachsen wie ein ‚Baum, gepflanzt an Wasserbächen, der seine Frucht bringt zu seiner Zeit, und seine Blätter verwelken nicht, und alles, was er tut, gerät ihm wohl‘.

 

Lieder: eg 289,1.2 (Nun lob mein Seel den Herren) / eg 617 (Kommt herbei )  / Lord of the dance (Mein Liederbuch 1, 1991, D 25)   https://www.youtube.com/watch?v=lxMiSG_vFiM  (J. Rutter arr.) /  eg 398 (In dir ist Freude… Vorschläge zur Sing-und Tanzform bei: M.G. Schneider, G. Vicktor (Hgg.), Alte Choräle- neu erlebt, 1993, S.111f).

 

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Lit.: U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus 1-7, EKK NT I,1,3. Aufl.1993, S. 230ff  / M. Konradt, A. Euler, Studien zum Matthäusevangelium, 2016, S. 146ff (Davids Sohn und Herr) /Th. Mann, Tonio Kröger (1903), 1967  / H. Chr. Andersen, Die roten Schuhe in: Andersens Märchen, 1957 / M. Luther, Die Thesen zu den Disputationen gegen die Antinomer ( WA 39 I, S. 344ff ) / G. Wenz, Christus. Jesus und die Anfänge der Christologie, 2011, S. 236ff /   https://www.nzz.ch/meinung/corona-herbst-politik-muss-sich-bei-ungeimpften-entschuldigen-ld.1696164

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