Matthäus 5,17–20

Matthäus 5,17–20

Die Tora als grundlegende, zeitlose Weisung für unser Leben | 10. So. n. Trinitatis | 21.08.2022 | Matthäus 5,17–20 | Thomas Bautz |

Liebe Gemeinde!

Die Bergpredigt dürfte – zumindest in Teilen – zu den bekanntesten Texten des Neuen Testaments gehören; sie ist in verschiedene Abschnitte gegliedert. Der heute vernommene Text beschäftigt sich mit der Tora, dem Identitätszentrum des antiken Judentums. Die Tora ist die von „Gott“ gegebene Lebensordnung für sein erwähltes Volk, die ermöglicht, im Bund mit ihm zu bleiben. Die hebräische Bibel insgesamt kann mitunter als Tora bezeichnet werden, so dass das Gesetz und die Propheten als ein Ausdruck behandelt werden.[1] Außerdem kann sie als Weisheit – auch im Sinne der „Schriften“, der Weisheitsliteratur der hebräischen Bibel – gelten.[2] In diesem Sinn ist die gesamte Tora gemeint,[3] die der Evangelist Matthäus vor Augen hat: „Glaubt ja nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzuheben“, lässt er Jesus sagen, noch bevor er seine Antithesen formuliert: „Ihr habt gehört […] Ich aber sage euch […].“[4]

Wir vermeiden den Ausdruck „Gesetz“ im Kontext der Bergpredigt, weil er Missverständnisse weckt, die jahrhundertelang die Bibelauslegung in eine falsche Richtung gelenkt[5] und das Verhältnis zum Judentum unnötig und stark belastet haben. In der älteren Forschung sieht man das antike Judentum als eine Art „Gesetzesreligion“ oder gar als Religion der „Werkgerechtigkeit“.[6] Polarisierend stellt  man dem Gesetz als dem Menschen auferlegtes Joch das Evangelium als Befreiung bewirkendes neues Leben gegenüber.[7] Erst neuere Forschung schließt sich der These vom Bündnisnomismus an,[8] der ein Leben nach der Weisung (Tora) „Gottes“ mit der Bundestreue verbindet: Die Tora ist die von Gott gegebene Lebensordnung, die befähigt, im Bund mit ihm zu bleiben.[9]

Manche Exegeten sind bemüht, die Bedeutung der Tora für das Judentum sachlich auszuloten, dabei spricht man mitunter nicht vom Umgang mit dem Gesetz (statt Tora) in seiner Eigenheit, sondern von der „Bindung an die Schrift“ von der „Treue gegen ein Buch“. Das Festhalten an den Geschichten von „Gott“ und seinem Volk, das Klammern an die biblische Vergangenheit des alten Bundes bewirke die Loslösung von der Gegenwart und der Verantwortung ihr gegenüber. Vergangene Offenbarungen seien in der Gegenwart ohne Relevanz: „Gott erweckt in der Gegenwart keine Propheten und Könige mehr; er spendet den Geist nicht mehr“ und wird ihn erst wieder in der „Endzeit“ bevollmächtigen. Das Volk würde nicht von „Männern der politischen oder sozialen Tat“ geführt, sondern von Lehrern, die die Schrift erklären.[10]

Abgesehen davon, dass Rudolf Bultmann (1884–1976) übersieht, dass die hebräische Bibel (die Tora) durchaus überzeitliche Aspekte enthält, die also auch für die Gegenwart relevant sind, nimmt sein Verständnis von jüdischer Frömmigkeit im Verhältnis zu ihren Überlieferungen bizarre Züge an;  er irrt sich gewaltig, wenn er meint: „Ein selbständiges geistiges Leben in Wissenschaft und Kunst kann hier nicht entstehen, […] vom Austausch mit dem Kulturleben schneidet sich die [jüdische] Gemeinde […] selbst ab.“ Folglich werde sie isoliert und bliebe ohne eigene Geschichte (geschichtslos).[11]

Man darf, man muss davon ausgehen, dass die Wertschätzung der Tora für Nichtjuden nur schwer, teilweise gar nicht nachvollziehbar ist. Die göttliche Weisung wird empfunden als Labsal für die Seele (wie Honig), als Freudenspender und Wegweiser für das Leben (bes. bei Psalmen und Propheten). Sie ist eine Bürde, aber eher eine „süße“ Last. „Für Juden ist die Torah seit hundert Generationen eine aufregende, leidenschaftliche, aber vor allem liebenswerte Sache, etwas, das man genießen, über das man sich auch freuen kann, mit dem man sogar lachen darf. Denn sie ist Trost in der Not, Hoffnung in der Mutlosigkeit und ein Faustpfand der Zuversicht, wo immer Drangsal […] droht.“[12]

Doch lässt der Hintergrund des gehörten Abschnittes vermuten, dass es Streitigkeiten darüber gibt, dass Teile der Tora wie ein Gesetz im griechischen Sinn des Wortes (Nomos) als provokativ und als Einschränkung persönlicher Freiheit missverstanden werden. Der Nazarener, der Prediger vom Berg, aber besteht auf Einhaltung der Tora als Wegweiser für das Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft in Freiheit, Verantwortung, Ehrfurcht vor dem, was Wissen und Begreifen, Wissenschaft, Technik bei weitem übersteigt. Er will uns anregen, religiösen Überlieferungen und ihrer Weisheit zu vertrauen. Religion, Kunst und Wissenschaft bilden als Kultur der Gesellschaft die tragenden Säulen oder Äste:

„All religions, arts, and sciences are branches of the same tree. All these aspirations are directed toward ennobling man’s life, lifting it from the sphere of mere physical existence and leading the individual towards freedom.”[13]

Orientieren wir uns nur an Naturwissenschaften, Technik, Wirtschaft und Wohlstand, verlieren wir „unglaublich viel: Inspiration, Trost, Gemeinsinn. Wir verlieren die Möglichkeit, Dinge zu entdecken und zu erfahren, die größer [großartiger] sind als wir selbst. Das ist der Sinn ästhetischer Erfahrungen, ohne die wir alle in unserer Vorstellungskraft sehr viel ärmer würden.“[14]

„Die Kunst ist die reine Verwirklichung der Religiosität, der Glaubensfähigkeit, Sehnsucht nach ‚Gott‘ […]. Die Fähigkeit zu glauben, ist unsere erheblichste Eigenschaft, und sie wird nur durch die Kunst angemessen verwirklicht.“[15]

Der kurze Text aus der Bergpredigt bleibt bedeutsam und überzeitlich und sogar höchst aktuell: Er kann dem Verhältnis zu den göttlichen Weisungen wie auch zu unseren Gesetzen eine neue Basis verschaffen. In Israel wird bis heute die Tora wiederholt neu diskutiert, vielfältig interpretiert und ist wandelbar. Sie ist von jeher „kein fest umrissenes und unbewegliches Stück Lehre“; sie „wird ständig – schon in der Bibel – aktualisiert, selbst gegen ihren schriftlich fixierten Text.“[16] Die Autorität bleibt als historisch gewachsene, überlieferte Tora und Basis für jegliche Auslegung; auch Schriftgelehrte sind daran gebunden.[17] Doch „wenn all diese Sinnfülle auf die kalte Vokabel ‚Gesetz‘ reduziert bzw. verarmt wird“, wundert es nicht, „daß die Torah-Treue Jesu (vgl. Mt 5,17ff) und seines Volkes für Generationen von christlichen Theologen zum ‚trockenen Formalismus‘ oder zum ‚unfruchtbaren Legalismus‘ pervertiert worden sind.“[18]

Unsere Gesetze werden – mit Ausnahme des Grundgesetzes (GG) – ambivalent in der Gesellschaft aufgenommen und praktiziert: Bürgerliches Gesetzbuch, Strafrecht, Arbeitsrecht, Vertragsrecht, Steuerrecht, Immobilien- und Mietrecht, Verkehrsrecht, Presserecht, Verwaltungsrecht, Schul- und Erziehungsrecht, Hochschulgesetze und noch andere Rechtsgebiete mit ihren Vorschriften und Verordnungen regeln gesellschaftliches Leben, geben dem sozialen Gefüge eine stabile Basis und tragen zur Funktion von Warenkauf und Verkauf, zum Abwickeln von Geschäften in einem gesetzlich geschützten Rahmen bei.

Die Einhaltung von Gesetzen in der Demokratie ermöglicht ein Höchstmaß an Freiheit, allerdings verbunden mit der Pflicht, Verantwortung zu übernehmen, sich zu engagieren für Menschen, die Schutz und Unterstützung benötigen. Das Rechtssystem ist aber ambivalent; das hat hauptsächlich zwei Gründe: Viele Gesetze sind inzwischen derart komplex, dass Juristen beklagen, sie würden quantitativ immer weniger überschaubar und daher schwieriger auszulegen; sie führen das darauf zurück, dass viele Bürger „alles und jedes“ durch Gesetze geregelt wissen wollen.

Vor diesem Hintergrund relativiert sich die Berechtigung, das Judentum wiederholt wegen seiner Vielzahl an Geboten und Verordnungen zu kritisieren. Außerdem ist zwischen orthodoxem und liberalem Judentum zu unterscheiden.

Mir scheint der wichtige Aspekt der Freiheit im Rahmen der Gesetzgebung und Rechtspraxis ein wenig verloren zu gehen, weil einzelnen, bestimmten Gesetzen manchmal zu viel abverlangt wird. Wir kennen das: Wenn jemand auf sein (vermeintliches) Recht pocht und dieses auch einklagen will; selbst Anwälte sind dann nur bedingt hilfreich, weil sie schließlich ihr gutes Geld durch Mandate verdienen wollen. Die Fälle sind juristisch wie praktisch oft so verzwickt, dass es selbst für Juristen schwierig ist, sich durch das Dickicht zu schlagen und einen gangbaren Weg zu weisen. Dann wird gestritten, „was das Zeug hält“, bis schließlich dem Richter „der schwarze Peter“ zugeschoben wird, dem die häufig schwierige, undankbare Aufgabe der Rechtsprechung zufällt.

Aber kehren wir zurück zum Gesetzesverständnis in der Zeit Jesu. Die erste Gemeinde hält mit großer Treue am Gesetz, d.h. an den Worten Jesu über das Gesetz und an der Forderung Gottes fest, weil „das Bild seines geschichtlichen Wirkens als Lehrer des Gesetzes deutlich in der Erinnerung“ haftet.[19] Der Rabbi Jesus ist natürlich kein Gegner des Gesetzes (der Tora), er akzeptiert es voll und ganz, aber er – wie es bis heute im Rabbinat üblich ist – erklärt, interpretiert es. Wenn er den ursprünglichen Sinn mitunter sprengt oder sein Verhalten der Tora zu widersprechen scheint, widerspricht es nicht seinem innigen Verlangen, darin den „Willen Gottes“ zu finden.[20]

Für die Forschung bleibt „das heute so umstrittene Thema der Torakontinuität und der Torakritik in der Verkündigung Jesu“ eine Schwierigkeit, weil es Teil oder Folge eines größeren Problems darstellt, nämlich der „Spannung zwischen Judenchristentum und Heidenchristentum“.[21] Den Konflikten tritt Paulus besonders im Römerbrief entgegen, indem er „mehr als sonst“ das Gesetz (die Tora) positiv wertet. Jüdische und nichtjüdische[22] Herkunft derer, die zum christlichen Glauben finden, bilden also eine prägende Auffassung und Haltung dem Gesetz, der Tora, gegenüber.[23]

In der ältesten Gemeinde entsteht das Bedürfnis, in Jesus wegen seiner prophetischen Dynamik und weisheitlichen Auslegungskraft die Gestalt des „Menschensohns“ und des Messias zu erahnen. Neue Erkenntnisse und Worte wie der heute vernommene Text über die Gültigkeit der Tora „erwachsen aus solcher Überzeugung, Worte, die in Streitfragen eine Entscheidung“ herbeiführen sollen“:[24] Wähnet doch nicht, meine Aufgabe sei, das Gesetz oder die Propheten [die Tora, die hebräische Bibel] abzuschaffen! Ich bin doch nicht gekommen, irgendetwas abzuschaffen, wohl aber, alles zur Erfüllung zu führen.[25]  Rabbi Jesus möchte der bleibenden, wahren Bedeutung der Tora Geltung verschaffen.[26]  –Die Aktualität der Kontroversen zur Kontinuität der Tora und ihrer Kritik oder ihrer Relativierung zeigt die Literatur.[27]

Lehre und Auftreten oder Lebenswandel des Nazareners haben offenkundig Provokationen bei den oberen Schichten des Volkes, vor allem aber bei den Gesetzeskundigen hervorgerufen. Dabei haben sie bewusst ignoriert, dass Rabbi Jesus nie die Tora als Grundlegung für Frömmigkeit und Theologie missachtet, sondern durch Befragung eine Kunst des Verstehens (Hermeneutik) entwickelt, die es ermöglicht, aus aktuellen Perspektiven Neues in den Texten zu entdecken. Seine Exegese möchte man heute als intertextuell und pragmatisch bezeichnen, weil er es versteht, Texte der Schrift aus dem Sinn ihrer größeren Zusammenhänge (und umgekehrt) zu begreifen, wie Martin Luther der Bibelauslegung den Grundsatz voranstellt: Scriptura Sacra sui ipsius interpres.[28]

Rabbi Jesus sieht sich primär „zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ gesandt (Mt 10,5–6ff) und nur in Ausnahmefällen zu Nichtjuden; seine Mission gibt er an seine Nachfolger weiter. Aus meiner Sicht ist der Nazarener ein Reformer, der mit Religions-, Sozial- und Kulturkritik das Volk wieder an die Grundfeste der Tora heranführt und dabei deren Augenfälligkeit beschreibt, indem er ihre zeitlose Anwendbarkeit in Lebensfragen und für das soziale Miteinander aufzeigt. Zur Freiheit will Rabbi Jesus die Menschen guten Willens befreien (cf. Gal 5,1) und vor Augen führen, nicht die Abkehr von der Tora oder die Auflösung einzelner Gebote anzustreben, weil dies Unfreiheit zur Folge hätte. Vielmehr gilt es, einzelne Inhalte der Tora mit Hilfe besonnener Auslegung zu verwirklichen. Der Nazarener führt dies anhand vieler Beispiele in seiner Lehre und durch sein Verhalten während der Wanderungen mit seinen Jüngern in Palästina aus.

In souveräner Weise begegnet er dem religiösen Kult und relativiert ihn partiell zugunsten einer Mitmenschlichkeit, wie sie der Praxis von Religion und Frömmigkeit seiner Zeit fremd erscheint und vor allem die Gemüter der Schriftgelehrten erhitzt. Die Einhaltung des Schabbats erfährt Grenzen, der Umgang mit Krankheit und Kranken öffnet sich durch seelsorgliche Zuwendung, die Stellung der Frau in der Gesellschaft wird angehoben und gleichberechtigt der Position des Mannes angepasst. Rabbi Jesus sprengt Vorurteile und darauf beruhende soziale Grenzen, indem er Menschen am Rande der Gesellschaft, Ausgestoßene und Verachtete aufnimmt in seine Gemeinschaft.

Der Nazarener fragt nicht nach Frömmigkeit, nicht nach Einhaltung der Gebote (was keineswegs mit deren Auflösung oder Abschaffung gleichzusetzen ist), sondern nach einem Leben in Aufrichtigkeit, Gerechtigkeit und dem Bemühen loszulassen, sich zu lösen von all dem, was uns an einem Leben in Gottesfurcht und in der Liebe zum Mitmenschen hindern kann. Rabbi Jesus versteht es als Leben in einer Gerechtigkeit, die weit über das hinausgehe als die der Schriftgelehrten und Pharisäer: Die Befolgung „grundlegender Regeln und ihrer beispielhaften Konkretisierungen, die alle Konventionen […] übertreffen, führt zur Erkenntnis der vollen Wahrheit und Wirklichkeit […].“ [29]

Aber wie ist ein solches „Projekt“ zu schaffen? Wie kann die Tora heute „zur Erfüllung kommen“? Weiterführende Kriterien finden sich in der Bergpredigt selbst – in den sog. „Seligpreisungen“, ein schreckliches, irreführendes Wort, das eher die Toten als die Lebenden meint, jedenfalls wird das Wort laut Duden ambivalent gebraucht: 1) von allen irdischen Übeln erlöst und des ewigen Lebens, der himmlischen Wonnen teilhaftig, z.B. „sie hat ein seliges Ende gehabt“, „bis an mein seliges Ende“, „Gott hab ihn selig (gebe ihm die ewige Seligkeit); Seligsprechung (kath.); aber auch 2) „einem tiefen Glücksgefühl hingegeben“, „in seligem Nichtstun verharren“, „in seligen Schlummer versinken“.

„Selig“ steht für (griech.) makários; wir übersetzen, traditionsgeschichtlich, philologisch möglich,[30] „glücklich“. Man nennt die sieben Segenssprüche aus der Bergpredigt „Makarismen“, verfremdet,[31] aber konkretisiert lauten sie entsprechend:

Glücklich, die sich nicht so wichtig nehmen, denn sie erleichtern das soziale Miteinander. Glücklich, die leidensfähig sind und trauern können, denn sie erfahren Trost, und sie allein können trösten. Glücklich die Sanftmütigen, die nicht auftrumpfen müssen, denn ihnen eröffnen sich weite Räume, die Platz schaffen für viele. Glücklich, die sich nicht abfinden mit Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Übervorteilung, denn sie finden Befriedigung im Kampf für Gerechtigkeit und den Schutz der Armen und Abgeschobenen. Glücklich, die Mitleid üben gegenüber denen, die durch Krankheit, Behinderung, bittere Armut und Einsamkeit beeinträchtigt sind, denn sie erfahren, wie man ihnen Mitleid erweist.

Glücklich sind, die „reinen Herzens“ sind, denn sie werden „Gott schauen“. Im Judentum ist damit kein „innerer Bereich“ des Menschen gemeint; vielmehr ist „das Zentrum des menschlichen Wollens, Denkens und Fühlens“ angesprochen, sozusagen eine „ganzheitlich verstandene Reinheit“.[32] Glücklich, die sich den eigenen Ängsten stellen, bereit, in den eigenen Abgrund zu schauen, denn sie werden befähigt, hinter die Fassaden ihrer Mitmenschen zu blicken, ohne sie zu verurteilen, ja, ihre Eigenheiten und Macken sogar zu lieben und die Bereitschaft zur Mithilfe entwickelt. Glücklich, wer vor sich selbst bestehen kann, ohne einer Kritik von außen auszuweichen.[33]

Rabbi Jesus – seine Weisheit und sein Handeln – sind für uns Vorbild und Ermutigung; aber bringen wir den Mut auf, ähnlich unkonventionell zu leben? Mit der Bergpredigt lässt sich nicht regieren, behauptete Bismarck. Nun, der Nazarener hatte auch keine genuin politischen Ambitionen; er sagte, sein „Reich“ sei „nicht von dieser Welt“, womit er den Vertreter der römischen Besatzungsmacht, Pilatus, völlig irritierte. Aber er betreibt doch Sozialpolitik mit der Bergpredigt, mit Segenssprüchen, provozierenden Antithesen und Hinführungen zu einer lebendigen Frömmigkeit, bis hin zu einem großartigen Gebet, dem „Unser Vater“, das Gottesverehrung und menschliche Belange wunderbar zusammenfasst – und alles auf der Grundlage des „Gesetzes“ (der Tora), die es dann sehr konkret und glaubwürdig zu erfüllen gilt.

Als Realist akzeptiert der Bergprediger soziale Unterschiede, aber gleichermaßen nivelliert er sie, um die Würde des Einzelnen über gesellschaftliche Positionen zu stellen: Reinigungskraft oder ein hohes politisches Amt – beiden gebührt zuerst Anerkennung und Ehrung als Person; ihre Stellung wird nicht bewertet im Sinn und Widersinn von „hoch“ oder „niedrig“. Jesus überwindet falsche Dualismen wie „außen“ und „innen“. Eine ohnehin oberflächliche Hygiene (Reinigung) ist völlig sekundär gegenüber einer inneren „Reinheit des Herzens“, gegenüber barmherzigem oder gerechtem Handeln. Wo man sich anmaßt, Menschen auszugrenzen, weil ihr Leben einen ganz anderen Verlauf genommen hat, als es bürgerlicher Moral und Erwartung entspricht, hat er keine Berührungsängste und Vorurteile und akzeptiert sie. Rabbi Jesus hat keine Angst vor Krankheiten,[34] zieht keine falschen Schlüsse, indem er hinter einer Krankheit ein frevelhaftes Leben des Kranken vermutet. Er bricht auch mit Vorstellungen von „Besessenheit“ (Dämonismus) und „Teufelsaustreibung“ (Exorzismus).

Er „weiß, was im Menschen ist“, verurteilt aber nicht die menschliche Zwiespältigkeit, den Hang zur Ungerechtigkeit, doppelten Moral, Heuchelei, Egozentrik, Lieblosigkeit, Gewalt u.a. Es scheint, dass Jesu unerhörte, ungewöhnliche Philanthropie (Menschenliebe) der Macht entstammt, die der Tora grundlegend und zeitlos als göttliche Kraft (Dynamis) innewohnt. Mögen wir doch dieser Kraft auch schrittweise für unser Leben und für unsere Gesellschaft teilhaftig werden.

Amen.

Pfarrer Thomas Bautz

Bonn

E-Mail: bautzprivat@gmx.de

Pfarrer „im Unruhestand“

[1] S. Walter Bauer: Wörterbuch zum NT (1971), s.v. Nomos, 1074; cf. Klaus Berger: Die Gesetzesauslegung Jesu. Ihr historischer Hintergrund im Judentum und im AT. Teil I: Markus und Parallelen, WMANT 40 (1972): „Nomos als die geschriebene Tora ist […] ebenso Ausdruck für die Gesamtheit des verpflichtenden Gotteswillens wie […] der Begriff ‚Gesetz und Propheten‘.“ (op.cit., 222).

[2] Cf. bibelwissenschaft.de/stichwort/48920/, Stefan Krauter: Gesetz / Tora (NT), WiBiLex (2013): (3.) Tora / Gesetz im antiken Judentum, S. 2–3.

[3] Cf. Ernst Käsemann: Exegetische Versuche 2 (21965): Die Anfänge christlicher Theologie, 82–104: 85 u. 96; der Autor sieht Ähnlichkeiten mit prophetischer Verkündigung (ad V. 19); Günther Bornkamm et al.: Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium, WMANT 1 (71975): Das Gesetzesverständnis des Matthäus (Gerhard Barth), 54–154: (III.) Die Auslegung des Gesetzes (70–98): (2. c) „Das Gesetz und die Propheten“, 86–88.

[4] Gerhard Lohfink: Wem gilt die Bergpredigt? Beiträge zu einer christlichen Ethik (1988): (IV) Weshalb verlangt die Bergpredigt notwendig eine Kontrastgesellschaft? (5.) Die Bergpredigt und das Gesetz vom Sinai, 110–119: 112–113.

[5] Man kontrastiert z.B. das „Gesetz“ mit „Weisungen Jesu“ und verkennt, dass im Sinne der Tora-Kontinuität beides zusammengehört; gegen Leonhard Goppelt: Theologie des NT, hg.v. Jürgen Roloff (31981): (IV) (§ 46) Die Deutung der Erscheinung Jesu durch Matthäus (5.) Die Erfüllung des Gesetzes (a) Die Problematik, 556f; (b) Das Gesetz und die Weisungen Jesu, 557–561; ähnlich sieht Hans Weder „Diskrepanzen“: Die „Rede der Reden“. Eine Auslegung der Bergpredigt heute (21987): Gesetz und Gerechtigkeit (Mt 5,17–48), S. 90–155: Zur Erfüllung gekommen (Mt 5,17–20), S. 90–98: Diskrepanzen, S. 91–92. Immerhin versteht Weder, dass die „Intention des Gesetzes“ (der Tora), nämlich, Leben zu ermöglichen, durch das „Reden und Tun“ Jesu in der ihm eigenen Lebensintention „durch Jesus zur Vollendung gebracht“, statt aufgelöst wird; op.cit.: Was heißt „erfüllen“?, S. 94–98).

[6] S. Krauter: Gesetz / Tora (NT), WiBiLex (2013), 2–3.

[7] Cf. Joachim Jeremias: Jesus und seine Botschaft (1976): (III.) Die Bergpredigt (D.) Nicht Gesetz, sondern Evangelium, 60.

[8] (Mit Modifikationen) These Ed Parish Sanders’ vom „Covenantal Nomism“; s. Krauter: Gesetz / Tora (NT), WiBiLex (2013), 3; E.P. Sanders: Jesus and Judaism (1987); Sanders: Jewish Law from Jesus to the Mishnah. Five Studies (1990).

[9] Krauter: Gesetz / Tora (NT), WiBiLex (2013), 3.

[10] Rudolf Bultmann: Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen (41976): (2.) Das Judentum (59–108): Synagoge und Gesetz (60–85): Die jüdische Gesetzlichkeit, 60–75: 61.

[11] Bultmann: Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen (41976), 62.

[12] Pinchas Lapide: Ist die Bibel richtig übersetzt? (21987): Fehlübersetzungen und Unübersetzbarkeiten in der hebräischen Bibel (40 – 59): Das Gesetz, 43–45: 44.

[13] Albert Einstein, zit.n. https://www.kulturelleerneuerung.de/. Die Stiftung kulturelle Erneuerung wurde Anfang 2017 von Meinhard Miegel, Mitbegründer des Denkwerks Zukunft und ehemaligen Leiter des IWG BONN e.V. (Institut für Wissenschaft und Gesellschaft), ins Leben gerufen.

[14] Kent Nagano; zit.n. kulturelleerneuerung.de; Nagano (geb. 1951) ist amerikanischer Dirigent mit japanischen Wurzeln mit einem Fable für Klassik, aber auch offen für Modernes.

[15] Gerhard Richter (geb. 1932), zit.n. kulturelleerneuerung.de; seine „Birkenau-Bilder“ sind weniger bekannt: Birkenau. Mit Beiträgen von Helmut Friedel und Georges Didi-Huberman, Katalog Museum Frieda Burda (2016); Benjamin H. D. Buchloh: Gerhard Richters Birkenau-Bilder (2016).

[16] Die Tora als Kanon für Juden und Christen, hg.v. Erich Zenger, HBS 10 (1996): Die Tora Gottes für Israel, die Jünger Jesu und die Völker nach dem Matthäusevangelium (Hubert Frankmölle) (379 – 419):  (2. ) Tora, Halacha und „Wille des Vaters“ im MtEv (382–401): (2.1) Die Tora als Wort JHWHs, des Vaters Jesu, 382–395: 382–383.

[17] Die Bergpredigt. Jüdisches und christliches Glaubensdokument. Eine Synopse der Texte. Mit e. Einl. hg.v. Günther B. Ginzel, Tachless: Zur Sache 3 (1985), 54–56.

[18] Lapide: Ist die Bibel richtig übersetzt? (21987), 45.

[19] Rudolf Bultmann: Jesus (1926; 1964): Jesu Verkündigung: Der Wille Gottes (43 – 92): Der Wille Gottes und das Kommen der Gottesherrschaft, 84 – 92: 87.

[20] Bultmann: Jesus (1964): Jesu Verkündigung: Die Autorität der Schrift, 46–48: 46–47.

[21] Jürgen Becker: Jesus von Nazareth (1996): Methodische Fragen, 1–20: 14.

[22] Man sollte das Wort „Heiden“ vermeiden, weil es heute mit „Ungläubigen“, „Atheisten“, oft herabsetzend gebraucht wird. Demgegenüber ist die Bedeutung von „Heide(n)“ neutral: Altgläubiger (bleibt bei seinem alten Glauben); Pagane, Gentilis, Ethnicus; cf. Der digitale Grimm, http://dwb.uni-trier.de/, Band 10, Spalte 802.

[23] Otto Kuss: Paulus. Die Rolle des Apostels in der theologischen Entwicklung der Urkirche (21976): (V. 6.) Der Brief an alle Geliebten Gottes in Rom, 165–204: 191 (Belegstellen dort); Günther Bornkamm: Paulus (21970): (I.) Leben und Wirken (3.) Erstes missionarisches Wirken, 48–52; (4.) Der Apostelkonvent in Jerusalem, 52–63.

[24] Rudolf Bultmann. Theologie des NT (8., durchges., um Vorwort u. Nachträge wesentl. erw. Aufl., hg.v. Otto Merk 1980): Erster Teil (II.) Das Kerygma der Urgemeinde (§ 7) Die Bedeutung Jesu für den Glauben der Urgemeinde, 45–56: 50.

[25] Cf. Das Neue Testament in der Sprache von heute, übers. v. Friedrich Pfäfflin (31949), S. 14; der Autor war Dekan, verstand seine Übersetzung als „Brücke“, „zu dem, was Luther seinem deutschen Volk gegeben hat.“

[26] Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/1 (1983), 232.

[27] Matt Jackson-McCabe: Jewish Christianity. The Making of the Christianity-Judaism Divide (2020); Martin Hengel: Die Urgemeinde und das Judenchristentum, Geschichte des frühen Christentums 2 (2019); Annette Yoshiko Reed: Jewish-Christianity and the History of Judaism. Collected Essays, Texts and Studies in Ancient Judaism 171 (2018); Dan Jaffé: Les identités en formation. Rabbis, hérésies, premiers chrétiens (2018).

[28] Die Heilige Schrift sei „durch sich selbst glaubwürdig, deutlich und ihr eigener Ausleger“ („per se certissima, apertissima, sui ipsius interpres“); https://de.wikipedia.org/wiki/Sola_scriptura#Luthers_Ansatz. Das Prinzip wird von der evangelischen Kirche aufrecht erhalten – Sola Scriptura. Das reformatorische Schriftprinzip in der säkularen Welt, hg.v. Hans Heinrich Schmid/ Joachim Mehlhausen (1991) –, ist aber seit dem 18. Jh. durch die historisch-kritische Bibelauslegung in eine Krise geraten: Wolfhart Pannenberg: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze (31979): Die Krise des Schriftprinzips (1962), 11–21.

[29] Hans Deidenbach: Zur Psychologie der Bergpredigt (1990): (I.) Voraussetzungen (4.) Das Gesetz und die Propheten, 26–28: 27–28.

[30] Zur Problematik der Übersetzung, s. Weder: Die „Rede der Reden“ (21987): Einzelauslegung von Mt 5,3 – 12: „Selig sind die Armen im Geist“ (Mt, 5,3), S. 45–56: 45–47.

[31] Textbezogene Verfremdungen sind in der praktischen Bibelauslegung gängig und legitim; s. Horst Klaus Berg: Biblische Texte verfremdet. Bd. 1: Grundsätze – Methoden – Arbeitsmöglichkeiten (21988).

[32] Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/1 (1983), 211.

[33] Cf. Eugen Drewermann: Das Matthäusevangelium. Erster Teil: Bilder der Erfüllung (1992), 404–409.

[34] Zur sprachlichen Ausgrenzung Kranker, Susan Sontag: Illness as Metaphor (1978); Krankheit als Metapher (2003), auch zur Stigmatisierung von AIDS-Kranken; cf. den Film Philadelphia (1993) mit Tom Hanks u. Denzel Washington in den Hauptrollen sowie dem besten Originalsong Streets of Philadelphia von Bruce Springsteen.

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