Matthäus 9,9-13

Matthäus 9,9-13

Eine zweite Chance | Septuagesimae | 05.02.2023 | Matthäus 9, 9-13 | Luise Stribrny de Estrada |

Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht,

es hat Hoffnung und Zukunft gebracht;

es gibt Trost, es gibt Halt

in Bedrängnis, Not und Ängsten,

ist wie ein Stern in der Dunkelheit.

Amen.

Liebe Schwestern und liebe Brüder!

Eine Szene in der Praxis meiner Physiotherapeutin: Wir unterhalten uns nach der Krankengymnastik noch kurz und stellen fest, dass wir immer die gleichen Leute anziehen. „Um mich herum gibt es lauter Lehrerinnen und Lehrer“, erzähle ich ihr. „Bei mir ist es anders“, antwortet sie, „ich ziehe Esoteriker und Querdenker an.“ Ich bekomme einen Schreck und denkt: „Hoffentlich treffe ich die bei ihr nicht. Mit denen will ich nichts zu tun haben.“

Eine weitere Szene: Ich bin in der Stadt unterwegs. Vor mir läuft ein junger Mann. Er erinnert mich von Größe und Haarschnitt an meinen Neffen, den ich sehr mag. Ich sehe noch einmal hin und registriere: Der junge Mann trägt eine Handschelle. Er ist gefesselt an einen älteren Mann, wohl einen Gefängnisaufseher. Neben dem jungen Mann geht ein Mädchen, wahrscheinlich seine Freundin. „Was kann er getan haben, dass er mit 18,19 schon im Gefängnis ist?“, schießt es mir durch den Kopf. „Vielleicht ein Drogendelikt, ein Einbruch?“ Jedenfalls scheint seine Freundin zu ihm zu stehen. Dann sind die drei um eine Ecke verschwunden, ich gehe in Gedanken versunken weiter.

Wie fest sind meine Urteile?, frage ich mich nach diesen beiden Begegnungen. Gegenüber dem jungen Mann fällt mein Urteil weniger hart aus: Er ist mir sympathisch und ich stelle mir vor, dass er sein Leben wieder in den Griff bekommen kann. Gegenüber den Querdenkern und Esoterikern bin ich unversöhnlicher. – Bin ich bereit, meine Überzeugungen in Frage zu stellen und mich in meinen Urteilen verunsichern zu lassen? Oder beharre ich darauf, dass ich richtig liege und zu denen gehöre, die im Recht sind?

Ich nehme jetzt die Perspektive der anderen, der Außenseiter, ein und spüre dem nach, wie die Menschen um sie herum auf sie reagieren. Ich lande bei Matthäus, dem Zöllner, von dem wir in der Evangeliumslesung gehört haben. Jesus sagt zu ihm „Folge mir nach“, und der Zöllner steht ohne Umschweife auf und folgt ihm. Jesus hat in Matthäus etwas gesehen, was die anderen Menschen nicht bemerkt haben: Für sie war er nur der Zöllner, der Halsabschneider, der sie bestahl, der Freund der verhassten Besatzungsmacht, der Kollaborateur. Jesus nahm etwas anderes wahr: Matthäus war unzufrieden mit seiner Art zu leben, er wollte da raus. Er sehnte sich nach einem anderen Leben. Er wollte sich selbst wieder ins Gesicht sehen können, ohne sich zu schämen. Deshalb ergreift er die Möglichkeit, etwas zu verändern, als Jesus sie ihm bietet, und wird sein Jünger.

Er lädt Jesus und seine Jünger in sein Haus ein, um mit ihnen zu essen. Da kommen noch andere Zöllner dazu, Freunde und Kollegen von Matthäus, und weitere Menschen, die als Sünder gelten. Vielleicht sind es Menschen, die gestohlen haben, Frauen, die sich aus Armut prostituiert haben, oder Menschen, die krank sind. Krankheit galt zur Zeit Jesu als Folge von Sünde. Bestimmt ist die Jüngerin Maria Magdalena dabei, von der es heißt, Jesus habe sieben Dämonen von ihr ausgetrieben. Wir deuten es heute so, dass sie psychisch krank gewesen ist und Jesus sie gesund gemacht hat.

Sie alle sitzen zusammen an einer langen Tafel und lassen es sich gut gehen. Sie essen und trinken, sie führen gute Gespräche miteinander, sie lachen und machen Witze. Es herrscht eine lockere Atmosphäre, alle fühlen sich wohl. Und Jesus ist mittendrin. Er stößt mit denen, die in seiner Nähe sitzen, an, er lässt sich besonders leckere Speisen empfehlen, er scherzt und erzählt Geschichten. Keiner und keine braucht an der Seite zu sitzen, alle gehören dazu. Es ist schon ein bisschen so, wie das Festmahl am Ende der Zeiten bei Gott sein wird. Ein Vorgeschmack auf das Himmelreich.

Alle, die dort miteinander essen, haben die Hoffnung, dass sie wirklich dazu gehören und dass das, was in ihrem Leben falsch gelaufen ist, wieder gut werden kann. Sie hoffen, dass sie bei Jesus eine zweite Chance bekommen und noch einmal neu anfangen dürfen.

Durch Jesus sieht Gott sie an und erkennt, wer sie in ihrem tiefsten Inneren sind: Sie sind und bleiben Gottes Kinder, egal, was sie getan haben oder was ihnen geschehen ist. Gott lässt sie nicht fallen. Er liebt sie und nimmt sie an, so, wie sie sind. In seinen Augen sind sie schön.

Aber das Ganze ist keine heile Welt. Da kommen die Pharisäer und sehen das Festmahl im Haus des Matthäus. Sie fühlen sich provoziert und fragen die Jünger: „Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?“ Zum einen glauben sie, dass Jesus sich damit verunreinigt, zum anderen sind sie eifersüchtig, weil sie es selbst mögen, in der Gesellschaft Jesu zu sein. Die Pharisäer diskutieren gerne mit Jesus über spannende theologische Fragen, sie laden ihn in ihre Häuser ein und essen mit ihm. Jetzt zieht er ihrer Gesellschaft die der Sünder vor. Das ist schwer zu verstehen.

Ich erkenne mich in den Pharisäern wieder: Würde Jesus heute zu den Querdenkern und Esoterikern gehen oder zu den Strafgefangenen, zu den Obdachlosen und Flüchtlingen, anstatt mit uns in unserer Gemeinde ein leckeres Essen zu teilen, wäre ich auch eingeschnappt und würde mich fragen: „Warum tut er das? Hier bei uns in der Gemeinde sind doch viele nette Leute, die sich auf ihn gefreut haben, warum bleibt er nicht bei uns?“

Aber vielleicht ist die Zuordnung gar nicht so einfach, gar nicht so klar. Sind wir wirklich nette Menschen, die die idealen Gesprächspartner für Jesus sind? Stimmt die heile Oberfläche? Mir fällt eine Frau aus unserer Gemeinde ein, die mir erzählt: Mein Enkel wächst im Osten auf. Dort ist er in Kontakt mit Rechten gekommen. Jetzt läuft er herum wie sie und ich bekomme immer einen Schreck, wenn ich ihn sehe und denke: Fast wie ein Neonazi sieht er aus. – Eine Mutter aus dem Kindergarten erzählt: Meine Schwester ist ganz merkwürdig drauf. Erst hat sie allen gesagt, nach ihrer psychischen Erkrankung ginge es ihr wieder super, aber jetzt hat sich herausgestellt, dass sie Drogen nimmt. Sie ist völlig abgerutscht. – Die glatte Oberfläche trügt. Wir alle kennen Menschen, die nicht in die Gesellschaft hineinpassen, die unsere Vorstellungen vom Leben, wie es sein sollte, in Frage stellen oder sogar konterkarieren. Und auch wir selbst führen kein ideales Leben, sondern kommen im Laufe unseres Weges zu Kanten und Risse.

Jesus antwortet auf die Frage der Pharisäer „Warum isst du mit den Sündern?“ mit den Worten „Die Kranken brauchen den Arzt, nicht die Starken oder: nicht die Gesunden“. Wohin gehören wir? Zu den Gesunden oder zu den Kranken? Wahrscheinlich ändert sich das in verschiedenen Phasen unseres Lebens: Oft sind wir gesund und stark, und können unser Leben so leben, wie wir wollen. Aber dazwischen gibt es Phasen der Krankheit; in denen wir auf Verständnis, Unterstützung und Schutz angewiesen sind. Dann brauchen wir den Arzt, auch den Arzt Jesus. Dann ist es gut, auf die Stimme Gottes zu hören, der sagt:

Ich sehe dich. Es kann wieder gut werden. Dein Leben ist nicht auserzählt.

Du bekommst eine neue Chance.

Geh deinen Weg unter meinem Segen.

Amen.

Pastorin Luise Stribrny de Estrada

Lübeck

E-Mail: pastorin.stribrny@gmx.de

Luise Stribrny de Estrada, geb. 1965, Pastorin der evangelischen Nordkirche. Von 2001 bis 2009 Pastorin der deutschsprachigen Gemeinde in Mexiko. Seit 2009 tätig in der Lübecker Gemeinde St.Philippus, die vor einem Jahr mit den Nachbarn zur Gemeinde Marli-Brandenbaum fusioniert ist.

de_DEDeutsch