Menschen sind nicht egoistisch

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Menschen sind nicht egoistisch

Das Zusammenleben erfordert Regeln und Verbote. Das Leben braucht Grenzen,
um sich entfalten zu können, ohne destruktiv zu werden. Deshalb
sind Verbote im Grunde gut. Es ist gut, daß wir nicht einander
umbringen wegen einer bösen Bemerkung oder einer zugefügten
Wunde. Das Verbot beschützt uns also. Es schützt uns vor dem
Destruktiven in uns selbst und in anderen. Aber Verbote und Regeln können
auch lebenzerstörend sein. Denn im Sog der vielen Verbote und Regeln
folgt das Verurteilen. Das moralische Verdikt und Urteil.

Das moralische Urteil, wenn ein Mensch sich vergangen hat. Und wenn
das geschieht, werden Verbote und Gesetze lebensbegrenzend und nicht,
wie es eigentlich vorgesehen war, lebensbefreiend.

Viele Verbote bewirken viele Übertretungen, und viele Übertretungen
führen zu Verurteilungen. Sie führen zur Verurteilung
derer, die anders sind, oder derer, deren Leben nicht richtig gelingt.
Ich denke, ich brauche hier keine Beispiele dafür anzuführen,
denn die Zeitungen sind voll von Beispielen dafür.

Wo Regeln und Verbote ein Schutz sein sollten, der das Leben frei macht,
werden sie zu Verschlossenheit, man schließt sich in das ein, was
man selbst ist. Ja man beschützt sich selbst, indem man andere ausschließt.

Eben dies geschieht in der Erzählung von der Frau am Brunnen. Sie
ist eine Fremde im Land und hat ein recht ungeordnetes Leben mit
vielen verschiedenen Männern hinter sich. – Das geht zu weit! Nicht
genug, daß sie eine Fremde ist, dann kann sie auch noch nicht einmal
ein anständiges Leben unter den Bürgern der Stadt leben! Das
geht zu weit. Deshalb ist sie allein am Brunnen. Denn keiner will mit
ihr zusammen sein. Sie hat die Regeln und Gesetze der Gemeinschaft verletzt
und ist deshalb ausgeschlossen worden. Sie ist ausgestoßen worden.

Die Leute distanzieren sich von ihr und wollen nichts mehr mit ihr zu
tun haben, deshalb sind ihre Möglichkeiten für ein gutes Leben
verpaßt. Denn seinen Ruf verliert ein Mensch nur ein Mal. Ja, man
kann sagen, daß sie sowohl ein Paria im eigenen Umfeld und im Lande
geworden ist, in dem sie sich niedergelassen hat, denn sie hat die geschriebenen
und ungeschriebenen Regeln für die Lebensführung in beiden
Umfeldern verletzt.

Am Brunnen begegnet sie Jesus. Er bricht ihre Isolation, indem er ihr
etwas Wasser reicht. Das Wasser, das das Leben in sich trägt, wenn
es den Durst löscht und man seine Felder begießen kann. Aber
es handelt sich nicht nur um H2O. Denn es geschieht etwas hier. Es ist,
als entstünde ein Ausweg heraus aus dem Destruktiven, in dem sie
sich befindet, zurück in das, was Leben trägt, als Jesus mit
ihr spricht.

Jesus kannte die Wahrheit über sie sehr wohl, er kannte ihr Leben,
aber er reichte ihr dennoch die Hand. Wie oft tun wir das? Wie oft wagen
wir es, über Mauern der Verurteilung und der Angst zu springen,
die wir zwischen uns aufbauen? Wir kennen alle die Worte der Bergpredigt
von den Verfolgten, die selig sind, und daß wir unsere Feinde lieben
sollen. Aber es ist schwer, das Fremde zu lieben, das zu lieben, was
wir nicht verstehen. Und vielleicht hängt das damit zusammen, daß wir
nur das Liebenswerte lieben.

Bei Gott ist das anders. Er liebt nicht nur das Liebenswerte, sondern
genauso oft, das, was noch nicht liebenswert ist, etwas, was wir noch
nicht sind, sondern was in uns geschaffen werden kann, wenn wir seiner
Liebe glauben. Deshalb konnte Luther von den Sündern sagen: „So
werden die Sünder schön, weil sie geliebt werden, die werden
nicht geliebt, weil sie schön sind“.

Darin liegt viel Anfang und Leben, zu wissen, daß ich geliebt
bin – nicht für das, was ich tue, sondern trotz dem, was ich tue.
Und das Mädchen wird geadelt, wie wir alle im Glauben geadelt werden,
wie der König, dessen Geburt wir gerade gefeiert haben, weil wir
stets eine Chance erhalten, uns wieder zu erheben.

Davon handelt das ganze Evangelium. Daß es keine Verstoßenen
gibt, daß es keine Verkehrten gibt, nur Könige, richtige,
liebe Menschen. Denn es gibt immer auch eine andere Geschichte. Und das
stellt unsere ganze moralische Auffassung auf den Kopf vom dem, was richtig
ist und verkehrt, wichtig und unwichtig. Denn die letzten werden die
ersten sein, und das ist so anstößig und so schwer. Denn wir
Menschen wollen so gerne alles in Systeme, Regeln und Gesetze fassen,
in richtig und falsch, so daß wir schließlich glauben, es
ginge im Leben nur darum. Daß wir so, wie wir uns in gesellschaftlicher
Hinsicht eingerichtet haben, uns auch in menschlicher Hinsicht arrangieren
sollen.

Wir sind karg mit unserer Vergebung, wir sind sparsam mit unserer Liebe.
Aber jetzt, wo wir in der Heiligendreikönigszeit sind und im buchstäblichen
Sinne mit der Weihnachtsbotschaft einhergehen, da sollen wir an das größte
Gebot im Gesetz denken, Gott zu lieben und seinen Nächsten wie sich
selbst.

Denn Gott ist freigiebig. In seiner Liebe. In seiner Vergebung. Und
davon leben wir, und aus dieser Freigiebigkeit sollen wir unseren Nächsten
lieben – unabhängig von Rasse und Hautfarbe, sozialem Stand oder
Religion. Eine Begegnung mit einem anderen Menschen wird erst dann würdig
und gleichberechtigt, wenn wir das können. So einfach ist das.

Und dann können wir auch ein wenig uns selbst vergessen, vielleicht
auch ein wenig die Zeitungen – damit die Vorurteile, die Enttäuschungen,
die Bitterkeit und die Verurteilung, dein Eingeschlossenheit in Regeln
etwas verschwinden – und statt dessen etwas von der Freigiebigkeit Gottes
in uns und unter uns lebendig wird.

Denn wir leben von der Liebe Gottes, aber auch von der Vergebung, die
wir einander zuteil werden lassen. Amen.

Pastorin Kristine Stricker Hestbech
Møllevej
1
Kongsted
DK-4683 Rønnede
Tlf.: ++ 45 – 56 71 11 56
E-mail: kshe@km.dk

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