Noch einmal: Es geht…

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Noch einmal: Es geht…

Noch einmal: Es geht um den Menschen | Predigt zu Lukas 1,45-55 (dänische Perikopenordnung, in Dänemark wird dieser Sonntag als Mariae Verkündigung gefeiert) verfasst von Jens Torkild Bak | aus dem Dänischen übersetzt von Eberhard Harbsmeier |

Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen, singt Maria, nachdem sie sich wenige Tage zuvor dem Erzengel Gabriel gegenüber bereit erklärt hat, das gehorsame Werkzeug für den Willen Gottes zu sein, seinen Sohn Jesus zu gebären. Und warum sollte sich auch nicht bereit sein, das zu tun, wenn es nun so sein soll. Der Gott Israels ist nämlich nicht irgendein Gott, sondern ein Gott, der sich besonders der Schwachen in der Gesellschaft annimmt, er sieht die, welche wie Maria selbst in den Augen der Welt nichts sind, sieht sie und schenkt ihnen Anerkennung und Würde. Indem er sie in seinen Dienst nimmt!

Der Gesang der Maria ist ein Lobgesang auf den Gott, der so ist und so handelt. Und ganz konkret greift dieses Loblied einer neuen Wirklichkeit vor, einer neuen gerechten Weltordnung, die Gott in der Gestalt des Jesus von Nazareth verwirklichen will.

In ihrem Buch: The Givenness of Things kommentiert die amerikanische Autorin und christliche Philosophin Merilynne Robinson sden Lobgesang der Maria mit dieser Betrachtung: Die Bibel preist selten Gott ohne auch unter seinen Eigenschaften seine konstante und zuweilen epochemachende Umwälzung der existierenden Ordnung zu erwähnen, insbesondere verdrehtes Recht oder Macht und Reichtum. Wenn die Gesellschaft eine Form von Ordnung in sich birgt, ist das eine ungerechte Ordnung. Und die Gerechtigkeit Gottes stört diese Ordnung. Was all das jedenfalls beweist, ist dies, dass Gott wahrlich einen Blick hat für die Armen, die Demütigen, die Namenlosen, die Bedrückten und die Beschwerten, und den Blick hatte er in deren ganzen Lebenszeit.

Darin hat Robinson zweifellos Recht. Aber eben deshalb kommt man nicht umhin zu fragen, wo das alles enden soll. Man kommt nicht umhin, darüber nachzudenken, was der Lobgesang der Maria für das christliche Leben und für eine neue Gesellschaftsordnung und eine neue Gerechtigkeit bedeutet, die das Lied verspricht. Oder wie eng das Evangelium, die christliche Botschaft, mit einer bestimmten Auffassung von der Gesellschaft bzw. einer besonderen Sozialpolitik verknüpft ist. Und welche Konsequenzen unser Selbstverständnis als Christen für die konkreten Entscheidungen hat oder haben soll, die wir in Fragen treffen, wo es um die Auffassung vom Menschen geht. Ja es geht überhaupt um die Frage, wie wir einander behandeln. Das ist eine Diskussion, die zuweilen sehr aktuell wird und die nie ganz verschwindet. Im Augenblick stellt sich die Diskussion um die Auffassung vom Menschen so dar: Es geht um die Frage: Ist es vernünftig, die ganze Weltwirtschaft aufs Spiel zu setzen, um uns gegen die Korona-Epidemie zu schützen, wenn die Sterblichkeit unter den Infizierten wahrscheinlich nicht höher ist als 1% und es zudem nur Menschen mit Vorerkrankungen und hierunter besonders ältere Menschen betrifft, die dem Risiko ausgesetzt sind, an dieser Krankheit zu sterben.

Es gibt unterschiedliche Varianten der christlichen Auffassung vom Menschen, und ich will – jetzt einmal ganz abgesehen von der Herausforderung der Korona-Krise – die Auffassung erwähnen, die wohl in Dänemark im letzten Jahrhundert vorherrschend war. Der 1988 verstorbene dänische Kirchenhistoriker P.G. Lindhardt ist wohl noch heute sehr bekannt. Er war einer der einflussreichsten dänischen Theologen. Ein gefeierter Kirchenhistoriker, der neue Wege ging, en brillanter Prediger (viele konnten zwar rein akustisch nicht richtig verstehen, was er sagte, aber man hatte die Möglichkeit, es in den vielen Predigtsammlungen nachzulesen, die regelmäßig erschienen). Ein scharfer Diskutant mit viel Witz, was ihm viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit verschaffte. Ein intellektueller Elefant mit breiter Wirkung in der Öffentlichkeit. Aber auch und nicht zuletzt ein Vertreter der Illusionslosigkeit und des Werteverlusts, um nicht zu sagen des Nihilismus, der die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg geprägte hatte. Diese zeittypische Seite des Phänomens P.G. Lindhardt hat der dänische Pastor und Theologie Niels Grønkjær in seinem Buch „Der neue Mensch“ kurz so beschrieben:

Das einzige, was man aus der Erfahrung lernen kann, ist dies, dass man nichts aus ihr lernen kann! Diese Worte sind oft von P.G. Lindhardt gesagt worden. In seiner nie endenden Illusionslosigkeit verwarf er die Vorstellung, dass der Mensch in einem Bildungsprozess reifen und seine Persönlichkeit entfalten könne. Denn da wurde nichts besser! Lindhardt verwies unermüdlich auf die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg, der die Apelle früherer Zeiten An den guten Willen verstummen ließen, weil diese eher an das Tierische im Menschen appellierten, ja an das Unmenschliche, das der einzige Vorzug der Menschen vor den Tieren ist, die vermutlich keinen Willen haben. Unermüdlich wiederholte Lindhardt seine These: Man sagt, der liebe Gott sehe auf den Willen. Aber eben das sollten wir uns nicht wünschen.

Mit anderen Worten: Das Problem des Menschen ist der Mensch selbst, der nicht gut ist, sagt Lindhardt und mit ihm die Verkündigung seiner Zeit. Denn der Mensch wird nie besser. Folglich wird die Welt auch nicht besser. Nie. Die Verkehrung der herrschenden Weltordnung, die der Lobgesang der Maria verkündet, ist deshalb keine Botschaft von etwas, was geschehen wird, es ist vielmehr eine Botschaft, die als Gericht zu verstehen ist. Ein verstimmendes Gericht über all das, was wir Menschen nicht wollen und nicht tun, weil wir völlig in unserem Egoismus befangen sind. Das einzige, was den christlichen Menschen trösten kann und was er aus der Bibel entnehmen kann, ist die Botschaft von der bedingungslosen Liebe, mit der Gott den Sünder gnädig aufnimmt, das Evangelium von der Vergebung der Sünden in Christus. Aber was für einen Trost oder welchen Rat gibt uns das heute, gerade jetzt?

Lindhardt und die Auffassung vom Menschen in seiner theologischen Generation hatte nicht allein einen unverkennbar lutherischen Anstrich, sie war auch dadurch erfrischend, dass sie ein für alle Mal mit jeglicher Neigung aufräumte, in einer selbstgerechten christlichen Besserwisserei und mit schwärmerischen Vorstellungen von moralischem Wachstum das Reich Gottes auf Erden realisieren zu wollen. Statt zu moralischer Aufrüstung aufzurufen wurde das Motto des christlichen Lebens: Sündige tapfer! Aber! Irgendwann wird die Frage auftauchen, wo die Grenze verläuft zwischen einer solchen realistischen Auffassung vom Menschen und einer zynischen Sicht auf die Gesellschaft – und wann das erste bewusst oder unbewusst dazu verwendet wird, das letztere zu legitimieren.

Jeder Weg hat zwei Abwege, in die man geraten kann. In der Regel. Und es kann für uns gute Lutheraner zu billig sein zu sagen: Der Mensch ist ein Sündensack, da ist kein bisschen Wahrheit oder guter Wille in uns. Wir sind klein und unbedeutend und können nichts Gutes tun. Dennoch sollen wir uns um unser Heil keine Sorgen machen, denn wir haben das Evangelium, in dem uns Gott seine Gnade und Liebe in Christus zusagt. Und dann können wir den Gang der Welt in Ruhe dem Gesetz der harten Realitäten überlassen, dem was Paulus in dem Episteltext dieses Sonntags (1. Kor. 1,21-31) polemisch die „Weisheit dieser Welt“ nennt.

Die Rede vom Evangelium und der Verkündigung des „Wortes“ kann in ihrer automatischsten Form abstrakt werden, allzu leer und billig. Wo ist da eine Botschaft für die Kinder in Syrien, deren Erwartungen an das Leben sich doch nicht von den Erwartungen unserer eigenen Kinder unterscheiden. Oder für die, die darauf angewiesen sind, auf „Putins Müllplatz“ 21 km von Moskau entfernt zu leben. Oder was ist da zu holen für das Leben, das hinter heruntergerollten Gardinen in den Randgebieten Dänemarks gelebt wird, ein Leben, das mit eigener oder ohne eigene Schuld von der übrigen Gesellschaft abgekoppelt ist, die sich auf eine Hochkonjunktur bewegt hat? Oder wieder: Was ist da zu holen für die Millionen Menschen, die sich in diesen Tagen und Wochen Sorgen um ihre Gesundheit machen? Viel natürlich, aber es fehlt eine Verbindung, eine Brücke.

Marilynne Robinson, die ich bereits zitiert habe, zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich nicht auf die negative Sicht auf den Menschen einlässt, die im Protestantismus so verbreitet ist. Die schwerste Frage, die Jesus uns stellt, ist in Wirklichkeit die, ob wir an den Menschen glauben. Schreibt sie, und das ist unglaublich scharf gesehen und gut gesagt. Robinson ist nicht naiv, aber sie ist der Auffassung, dass es die vornehmste Pflicht des Christen ist, trotz des Zustandes der Welt den Blick fest und mutig auf den einzelnen Menschen als Gottes wunderbares Geschöpf zu richten, das unzählige Möglichkeiten gemeinschaftlichen Lebens besitzt. Und sie meint, dass wir von der Geschichte Marias lernen sollen anstatt sie als ein naives Märchen zu verwerfen. Gott glaubte an Maria und nahm sie in seinen Dienst, in den höchsten Dienst sogar, trotz ihres geringen Standes. So sollen wir auch daran denken, uns selbst und einander würdig zu finden im Dienst für alles Gute anstatt in Zynismus und eine um sich greifenden unchristlichen Menschenfurcht zu verfallen. Ich zitiere erneut: Wir wissen ja gut, dass Respekt eine grundlegende Erhebung ist, die wir anbieten können und allzu oft zurückhalten. Aber eben deshalb, aus Respekt vor dem unendlichen Wert eines jeden Menschen, setzen wir für die Rettung jedes Menschen heute so viel ein.

Und in diesem Zusammenhang kann der Lobgesang der Maria ein Echo zum Nachdenken und zur Erbauung sein: Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen … Lasst uns für einander Diener und Dienerin sein, wenn wir gerufen werden! Einen schönen Sonntag! Amen.

 

Dompropst Jens Torkild Bak

DK-6760 Ribe

Email: jtb(at)km.dk

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