Offenbarung 21,1-7

Offenbarung 21,1-7

Der Himmel, der kommt | Ewigkeits- / Totensonntag | 20.11.2022 | Off 21,1-7 | Luise Stribrny de Estrada |

Gnade sei mit euch und Friede

von dem, der da ist und der da war

und der da kommt.

Amen.

„Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ So hören wir beim Seher Johannes. Ich denke bei diesen Worten an eine unserer Verstorbenen. Als 14-Jährige musste sie ihre Heimat in Westpreußen verlassen und auf die Flucht gehen. Sie war kein kleines Kind mehr, sie sah mit wachen, erschreckten Augen die Gehängten an den Bäumen, wahrscheinlich Deserteure. Sie hörte die Schreie der Frauen, die von den Soldaten vergewaltigt wurden. Ihr und ihrer Familie gelang es gerade noch, auf ein Schiff zu kommen und über die Ostsee in den Westen zu fliehen. Auch ihr Schiff hätte bombardiert werden können und untergehen wie die Gustlov. Sie wurden gerettet, waren aber lange in einem Lager in Dänemark eingesperrt, bis sie endlich freigelassen wurden und nach Lübeck kamen. – Einmal sprachen wir in der Gemeinde über die Bitte im Vaterunser „Unser tägliches Brot gib uns heute“: Da erzählte sie, was für ein Geschenk jedes Brot war, das sie im Lager bekamen und wie sie es gar nicht erwarten konnte, hineinzubeißen. Ein Brot war und blieb etwas Besonderes für sie und sie konnte bis zum Schluss kein Brot wegwerfen, weil es kostbar war.

„Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“

Ich werde zu einer alten Frau gerufen, die im Sterben liegt. Sie quält sich und kann nicht loslassen. Ihre Tochter und ihr Schwiegersohn sind bei ihr und kümmern sich liebevoll um sie. Die Tochter hat dafür gesorgt, dass ihre Mutter nicht ins Heim musste, sie pflegt sie seit Jahren. Als ich da bin, spreche ich ein Gebet für die Sterbende. Ich habe ein Öl mitgebracht, das gut riecht, damit zeichne ich ihr ein Kreuz auf den Handrücken. Ich gebe ihr ein Kreuz aus Olivenholz in die Hand, einen Handschmeichler, den sie fest umschließt. Ich verabschiede mich, und die Tochter sagt zu mir: „Jetzt ist sie ruhiger“. In den folgenden Stunden denke ich oft an die Sterbende und bete, dass sie gehen kann. Am nächsten Tag ruft mich die Tochter an: „Sie hat es geschafft.“ In der Nacht hat ihre Mutter ganz leise ihre Seele ausgehaucht und ist hinüber gegangen in Gottes andere Welt. Es war zuletzt leicht geworden zu sterben. Natürlich ist trotzdem die Trauer groß und die Tränen fließen.

„Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“

Ich kann mir eine Welt ohne Leid, Schmerz und Tod nicht vorstellen. All das gehört so sehr zu unserem Leben dazu, ebenso die Angst vor dem Leid und der Versuch, es zu vermeiden. Der Seher Johannes sagt uns im Auftrag Gottes, dass all das ein Ende haben wird. Wir haben das vorhin als Erste Lesung gehört. Und er malt ein großes Bild, besser gesagt Bilder, fast könnte man sich einen Film vorstellen, von dem, was einmal sein wird: Gott wird bei uns wohnen. Er wird uns nah sein, in einer Hütte oder sogar in einem Zelt wohnen, wo wir ihn jederzeit besuchen können. Er wird unter uns umhergehen und auch dann, wenn wir ihn nicht sehen, nur durch eine dünne Wand von uns getrennt sein. Wir können ihn sehen und berühren. Er wird unsere Tränen abwischen: Die Tränen der Tochter, die um ihre Mutter trauert; die Tränen der alten Frau, die nicht schlafen kann, weil sie an das denken muss, was sie im Krieg erlebt hat; die Tränen des Mannes, der seine Frau nicht mehr erreicht, weil sie nach einem Schlaganfall nicht mehr ansprechbar ist. „Gott wird abwischen alle Tränen von unseren Augen“.

Es geht weiter mit der Bilderflut: „Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.“ Da ist einer, der lebendiges Wasser hat, Wasser, das ins Leben fließt, das uns lebendig macht. Wasser, das unseren Durst für immer stillt, so dass wir nicht mehr zu trinken brauchen. Sind wir durstig? Möchten wir dieses Wasser haben? Das muss jede und jeder für sich entscheiden. Aber da ist einer, der sich anbietet: Ich habe lebendiges Wasser, kommt und trinkt davon. Eure Seelen werden geheilt. Ihr schließt auch an das an, was lebendig macht.

„Ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn, meine Tochter sein.“ Ich stelle mir vor, dass ich Gott nahe sein werde, dass ich ein vertrautes Verhältnis mit ihm haben werde. Nicht alle von uns verbinden mit einem Vater etwas Gutes, für sie taugt dieses Bild nichts, sie sollen es beiseitelegen. Aber wer eine gute Beziehung zu seinem Vater hat oder hatte, der kann damit etwas anfangen, Gott als Vater zu haben und sein Kind zu sein. Es ist ein enge Beziehung, in der wir uns viel erzählen, über dieselben Dinge lachen und zusammen Bäume ausreißen. So ähnlich wird es sein mit Gott.

Für mich bleibt der zentrale Satz „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ Gott sieht sehr genau auf unsere Wirklichkeit und auf das, was uns traurig macht, woran wir leiden, was uns traumatisiert. Immer, wenn wir von einem Lebensweg, einem Schicksal hören, klingen viele andere mit: Bei der Frau, die im Zweiten Weltkrieg geflohen ist, klingen die Wege der Menschen an, die in der Ukraine auf der Flucht sind, von denen viele auch zu uns kommen. Es klingen auch die Wege der Menschen mit, die aus Afrika über das Mittelmeer fliehen. Bei der Sterbenden denken wir daran, wie unsere Lieben gestorben sind, leicht oder schwer, alleine oder mit einem von uns. Wie war es am Schluss? Daran erinnern wir uns noch einmal.

Aber das Leben geht weiter. Die Bilder vom Schluss verlieren ganz langsam an Schärfe. Wir stoßen uns nicht mehr an allen Kanten wund. Nicht jede Erinnerung an den oder die Verstorbene treibt uns die Tränen in die Augen. Es wird ein bisschen besser. Wir können uns wieder über etwas freuen, wir können sogar lächeln. Und nach und nach kommen auch die anderen Bilder an die Oberfläche aus ihrem ganzen, langen Leben: Wie sie auf dem Hochzeitsbild ihren Mann anstrahlt – und er sie. Wie sie im offenen Wagen sitzt, um die Haare ein Tuch geschlungen. Wie sie den Kinderwagen mit ihrem Erstgeborenen schiebt. Wie sie im Schrebergarten Erdbeeren erntet. Wie sind in Wanderkluft vor einem Schild steht, das den Weg zum Brocken weist. Wie sie auf ihrer Goldenen Hochzeit ihren Gästen zuprostet. Wie sie zufrieden auf einer Bank in der Sonne sitzt und auf das Meer schaut. Das Ende überdeckt nicht mehr alles. Da war auch viel Gutes in ihrem Leben, an das ich mich gerne erinnere. Und es gibt ein Gefühl von Dankbarkeit: Wie schön, dass sie das alles hat erleben dürfen. Wie gut, dass sie verschont worden ist vor so viel Schlimmem, was ihr hätte passieren können. Danke, Gott, für das Geschenk ihres Lebens – und danke, dass ich sie habe kennenlernen dürfen!

„Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“

Einige Tränen wischt Gott uns schon hier ab. Einiges Leid beendet er bald. Aber das sind nur kleine Anfänge. Am Ende der Zeit, wenn er wiederkommt, wird er allen Schmerz wegnehmen und selbst der Tod wird nicht mehr sein. Wann das sein wird? Wir wissen es nicht. Wir können nur glauben, dass es irgendwann geschehen wird, weil Gott uns Menschen, seine Töchter und Söhne, liebt.

Hören wir die Worte des Hoffnungsliedes, das wir am Anfang des Gottesdienstes gesungen haben:

Der Himmel, der kommt,

grüßt schon die Erde, die ist,

wenn die Liebe das Leben verändert.

Amen.


Liedvorschläge:

Der Himmel, der ist                  EG 153

Morgenglanz der Ewigkeit        EG 450

Jesus, meine Zuversicht             EG 526

Von guten Mächten                  EG 65

Jesus lebt, mit ihm auch ich      EG115


Pastorin Luise Stribrny de Estrada

Am Pohl 13

23566 Lübeck

E-Mail: pastorin.stribrny@gmx.de


Luise Stribrny de Estrada, geb. 1965, Pastorin der Nordkirche. Seit 2009 tätig an der St. Philippuskirche in Lübeck, inzwischen Pastorin der fusionierten Gemeinde Marli-Brandenbaum. Vorher EKD-entsandte Pfarrerin der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Mexiko.

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