Offenbarung 3,1-6

Offenbarung 3,1-6

Sardes ist Dinkelsbühl | Buß-und Bettag | 16.11.22 | Predigt zu Offb. 3, 1-6 | Uland Spahlinger |

Der Brief an die Gemeinde in Sardes

31»Schreib an den Engel der Gemeinde in Sardes: ›So spricht der, der Macht über die sieben Geister Gottes hat und der die sieben Sterne hält: Ich kenne deine Taten. Ich weiß, dass du in dem Ruf stehst, lebendig zu sein. Aber du bist tot. 2Wach auf! Stärke die, die übrig sind und fast gestorben wären. Denn ich habe festgestellt, dass deine Taten nicht vollkommen waren in den Augen meines Gottes. 3Denk doch daran, wie du meine Botschaft empfangen und gehört hast. Befolge sie wieder und ändere dich. Wenn du nicht aufwachst, werde ich so unerwartet kommen wie ein Dieb. Und du wirst nicht wissen, zu welcher Stunde ich gegen dich vorgehen werde. 4Aber es gibt einige Leute in Sardes, die ihre Kleider nicht schmutzig gemacht haben. Sie werden weiße Gewänder tragen und mit mir zusammen auf dem Weg sein. Denn sie sind es wert. 5Wer siegreich ist und standhaft im Glauben, dem wird ein weißes Gewand angezogen. Niemals werde ich seinen Namen aus dem Buch des Lebens streichen. Vielmehr werde ich mich vor meinem Vater und vor dessen Engeln offen zu ihm bekennen.‹ 6Wer ein Ohr dafür hat, soll gut zuhören, was der Geist Gottes den Gemeinden sagt!« (Offb. 3, 1-6 BasisBibel)
Liebe Gemeinde,

so etwas möchte man nicht hören, oder? Kein schöner, kein freundlicher Brief das! Gut nur, dass der Brief nach Sardes gehen soll! Da muss es ja schlimm zugehen…. Und so weiter.

Vielleicht ist das beim Hören auch Ihr erster Reflex gewesen. Glück gehabt, wir sind ja nicht gemeint. Sie wären damit nicht allein. Viele Ausleger und Prediger haben Zeit und Gedanken darauf verwendet, dieses geheimnisvolle „Sardes“ zu finden, zu beschreiben und abzugrenzen vom eigenen Leben.

Es gab eine solche Stadt in Kleinasien. Aber es lohnt sich nicht, dass wir uns damit aufhalten. Sardes könnte ebensogut „Überall“ heißen. So wie der Reiche in Hugo von Hofmannsthals berühmtem Stück, der hartherzig bleibt angesichts der Not in seiner Umwelt und erst angesichts des bevorstehenden Todes zur Umkehr kommt, „Jedermann“ heißt – vielleicht haben Sie das Stück schon einmal gesehen. Sardes ist „Überall“. Denn der Brief, den wir gehört haben – und der ja erst geschrieben werden soll – ist einer von sieben Briefen, die im Aufbau alle gleich, im Inhalt aber sehr unterschiedlich sind. So wie Menschen sich ähneln, aber doch gleichzeitig ganz unterschiedlich sind. Und noch eines: sieben Briefe – das erinnert an die sieben Tage der Schöpfung: ein Hinweis auf die Vollkommenheit. Das Ganze ist gemeint, die ganze Welt, alle Menschen.

So ist in geheimnisvollen Bildern die ganze Offenbarung aufgebaut. Sie ist einerseits ganz groß, ganz abstrakt – und dann packt sie dich auf der anderen Seite ganz konkret. Wenn Sardes Überall ist, dann ist Sardes auch Berlin-Wilmersdorf oder München-Giesing oder Gütersloh oder Zürich oder Obermichelbach. „Jesus von Nazareth an die Niederrheiner“[1] hat Hanns Dieter Hüsch einen seiner kleinen geistlichen Texte überschrieben. Will sagen: die Anrede ist konkret, sie ist direkt, sie gilt allen und sie gilt heute. „Die Sendschreiben gelten als Gesamtpaket allen Christinnen und Christen“[2] Wir sind es, die die Gedanken und Bilder entschlüsseln müssen. Dem kommen wir nicht aus.

Der Engel der Gemeinde von Sardes bekommt also einen Brief. Aber dieser Engel ist hier nicht Bote Gottes, sondern Repräsentant der Gemeinde. Immer wieder wird die Gemeinde, werden wir auf uns selbst zurückgeworfen. Und das Urteil, das hier über die Gemeinde und ihre Glieder ausgesprochen wird, ist hart: du bist tot. Die Mehrzahl deiner Leute fällt durch bei der Prüfung. Nur wenige kommen durch, haben „ihre Kleider nicht schmutzig gemacht“ (V.4) und werden als rein und würdig betrachtet werden.

Schuld, Fehler, Versagen eingestehen: das ist schwer. Wir winden uns, wir versuchen, abzuwälzen auf andere, wir weichen aus, wir schweigen tot. Aber – das macht der Brief unzweifelhaft deutlich: „Gott durchschaut die eingeübten Abwehrreflexe seit Adam und Eva, die Verteidigungstaktiken der Ertappten, die erlernte Kunst, es nicht gewesen zu sein“[3].

Eigene Schuld einzugestehen ist schwer. Öffentlich gar, vor den Augen und Ohren anderer. Es braucht Einsicht in das, was richtig und was falsch ist; es braucht Mut, eine ganz eigene Art von Zivilcourage. Du setzt dich damit ja der Kritik der Öffentlichkeit aus, nicht erst seit es soziale Netzwerke und shitstorms gibt. Wird dein Schuldeingeständnis akzeptiert werden? Wird es Bestand haben vor den anderen? Wirst du die Worte richtig wählen? Werden deine Handlungen danach den Worten Recht geben? Denn sie werden ja gehört und gewogen – im Privaten wie im Öffentlichen.

Mir sind dazu zwei Beispiele in den Sinn gekommen, ein öffentliches, das sich nach außen wendet, und eins, das die Innenseite berührt.

Zuerst das nach außen gewendete; es passt in die Tage im November mit Friedensdekade und Gedenken der Reichspogromnacht – und mit immer weiter um sich greifenden antisemitischen Gedanken und Handlungen, die sich auch bei uns in Deutschland wieder einhausen.

Die evangelischen Kirchen standen nach Ende des zweiten Weltkriegs vor den Trümmern ihrer Allianz mit den Nazis und dem Anteil, den das „arische Evangelium“ der Deutschen Christen an den Verheerungen hatte, die Herrenwahn, Rassenhass und das ungebremste Morden angerichtet hatten. In der Stuttgarter Schulderklärung vom 18. und 19. Oktober 1945 heißt es: „Der Rat der Evangel. Kirche in Deutschland begrüsst bei seiner Sitzung in Stuttgart Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen.

Wir sind für diesen Besuch um so dankbarer, als wir uns mit unserem Volk nicht nur in einer grossen Gemeinschaft der Leiden wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld. Mit grossem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.

Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden. Gegründet auf die Heilige Schrift, mit ganzem Ernst ausgerichtet auf den alleinigen Herrn der Kirche gehen sie daran, sich von glaubensfremden Einflüssen zu reinigen und sich selber zu ordnen. Wir hoffen zu dem Gott der Gnade und Barmherzigkeit, dass er unsere Kirchen als sein Werkzeug brauchen und ihnen Vollmacht geben wird, sein Wort zu verkündigen und seinem Willen Gehorsam zu schaffen bei uns selbst und bei unserem ganzen Volk. …“[4]

Handschriftlich unterzeichnet ist die Erklärung unter anderem von: Theophil Wurm, Hans Christian Asmussen, Hans Meiser, Hanns Lilje, Rudolf Smend, Gustav Heinemann, Otto Dibelius, Martin Niemöller.

Vielleicht geht es Ihnen ja so wie mir: ich spüre diesem Text ab, wie schwer es den Verfassern gefallen ist, die richtigen Worte zu finden. Wie schwer die Schuld wiegt, die da benannt wird. Was für ein Akt an Einsicht und Umkehr es gewesen sein muss, die Verblendung der Kirche, die Angst, die Feigheit zu erkennen und öffentlich zu machen. Denn: ja, die evangelische Kirche in Deutschland hatte sich durch ihren Pakt mit Hitlers Staat und Ideologie beschmutzt – um das in den Worten unseres Sendschreibens zu sagen. Es gab die wenigen, die widerstanden hatten, die anderen aber waren strammen Schrittes mitmarschiert in die Katastrophe.

Nun waren die Unterzeichner tatsächlich zum großen Teil im Widerstand oder in Opposition zur Nazidiktatur gewesen, aber dennoch: „wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Mit anderen Worten: wir klagen uns an, unserem Auftrag nicht gerecht geworden zu sein. Wir klagen uns an, die Nachfolge Christi versäumt zu haben. Wir klagen uns an, als Kirche nicht mehr Kirche Jesu Christi gewesen zu sein. Wir suchen, das zu benennen und bitten um die Chance auf einen Neuanfang gemeinsam mit der weltweiten Kirche.

Ob wir heute noch so formulieren würden, so bemüht und etwas gestelzt: das möchte ich bezweifeln. Wir reden anders. Was uns aber als Aufgabe bleibt, das ist das ehrliche Bemühen, Schuld zu benennen, wo sie geschehen ist und wo wir sie zu verantworten haben – und um Vergebung zu bitten. Es tut nicht gut, Vergebung zu predigen, aber der Vergebungsbitte auszuweichen. Die Öffentlichkeit hat ein feines Gespür für Ehrlichkeit. Und lässt völlig zu Recht Unehrlichkeit und taktierendes Ausweichen nicht durchgehen – die Art und Weise, in der manche Kirchenvertreter mit ihrer Verantwortung im Zusammenhang mit Gewalt, vor allem auch sexualisierter Gewalt umgehen, stößt zu Recht auf Abscheu und Entsetzen.

Nun vollzieht sich Öffentlichkeit immer in einem vorläufigen Raum. Und wie schwer es ist, im vorläufigen Raum richtig von falsch zu unterscheiden: das wissen wir sehr gut. Ohne das Böse, das Falsche, die Schuld relativieren zu wollen: es ist wirklich nicht immer leicht, die richtigen Worte und die richtigen Beurteilungen zu finden.

Aber es ist ja nicht nur die Öffentlichkeit, die uns als Kirchen beobachtet.

Die Instanz, die das Sendschreiben uns vor Augen führt, hat nichts Relatives mehr, nichts Vorläufiges: Das Schreiben – so der Zusammenhang – kommt von Gott selbst.  Gott klagt hier an. Gott macht die Rechnung auf. Gott ruft zur Umkehr, zur Auferstehung aus dem Tod. Und da ist es dann mit einem allgemeinen Text nicht mehr getan. Da wird die Gemeinde zur Einkehr gerufen, zur Umkehr, da werden Männer wie Frauen, Junge wie Alte direkt angesprochen: Wendet euch wieder hin zu Gott. Lasst euch von seiner Weisung leiten. Sucht den Kontakt, das Gespräch. Lasst euch ansprechen und antwortet. Sprecht Gott an – er wird auf die eine oder andere Weise Antwort geben. Das ist es, was Buße bedeutet: das Gespräch mit Gott suchen. Nicht umsonst heißt der heutige Tag „Buß- und Bettag“, „denn das Gebet ist die protestantische Grundform der Buße“[5].

Zweites Beispiel. Es gibt in unserem Gesangbuch ein Lied, das bei den Morgenliedern zu finden ist: „Morgenglanz der Ewigkeit“. Ich finde aber nicht, dass es ein Morgenlied ist. Vielmehr ist es ein Lied von den letzten Dingen, von der Grenze zwischen unserer Zeit und Gottes Ewigkeit. Es ist ein Bittgebet um Gottes Führung. Durchaus ein Bußgebet – denn der Dichter weiß sehr genau: wir bewegen uns im Dunklen, wir brauchen den Morgenglanz der Ewigkeit, um die Orientierung zu bewahren. Wir brauchen Gottes Güte für unser mattes – schwaches – Gewissen; wir brauchen Gottes „süßen“ Trost, weil unser Lebensraum, unsere Lebens-Au, dürr ist, sehr kärglich. Wir brauchen Gottes glühende Liebe, um unsere kalten Werke zu überwinden. Wir sind angewiesen auf Gottes Auf-Erweckung, damit wir nicht vorzeitig ganz und gar vergehen. Und wir brauchen, dass wir in Gottes ewigen Frieden hineingerettet werden. Wir sind sehr, sehr bedürftige Menschen.

Das Lied entstand teils während des dreißigjährigen Krieges, teils danach. Gewalt, Machtgier, Plünderungen, Morde – kurz: jede mögliche Form der Sünde gegen den Nächsten waren allgegenwärtig und in den Gedächtnissen. Ein monströses Unrecht und Unheil. Was kann helfen, was kann retten? Dass wir – wir miteinander – uns zu Gott hinwenden, sagt der Dichter. Sein Hoffnungslied ist zugleich ein Bußgesang. Und heute so aktuell wie damals, „denn das Gebet ist die protestantische Grundform der Buße“. Nehmen wir es uns zu Herzen, machen wir uns die alten Worte zu eigen. Zeichnen wir sie ein in unsere Lebensgeschichten. Und legen wir unsere begrenzten Möglichkeiten, unsere Fehler und unsere Schuld dem gnädigen Gott vor: aufrichtig, ernsthaft und ehrlich. Denn Sardes ist überall. Heute, am 16. November 2022, ist mein Sardes Dinkelsbühl. Wo ist Ihres?

Amen.


Dekan Uland Spahlinger, Dinkelsbühl

Email: uland.spahlinger@elkb.de


Als Predigtlied schlage ich EG 450 „Morgenglanz der Ewigkeit“ vor, als Beichtgebet das im EG, Regionalteil der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens, unter der Nummer 801 abgedruckte Gebet:


S 801

Ich bekenne vor dir, mein Gott:

Ich vergesse dich oft.

Oft glaube ich nicht, dass du mich siehst.

Ich höre nicht, wenn du mich rufst.

Vor deinem Urteil kann ich nicht bestehen.

Darum bitte ich dich: Gott, sei mir Sünder gnädig.

Ich bekenne vor dir, mein Gott:

Ich bin nicht so, wie du mich haben willst.

Ich täusche andere.

Ich denke schlecht von anderen und rede über sie.

Ich übersehe ihre Not und drücke mich, wo ich helfen sollte.

Darum bitte ich dich: Gott, sei mir Sünder gnädig.

Ich bitte dich, mein Gott:

Lass mein Leben nicht verderben, bringe es zurecht.

Richte mich auf, wenn ich den Mut verliere.

Rette mich, wenn ich verzweifle.

Hilf mir, deiner Gnade zu vertrauen.


[1] H.D. Hüsch, Das kleine Buch zwischen Himmel und Erde, Düsseldorf 2000, S. 23

[2] Annette Gruschwitz in Göttinger Predigtmeditationen Heft 4/2022, S.533

[3] Ebd. S. 534

[4] https://www.ekd.de/Stuttgarter-Schulderklaerung-11298.htm

[5] Gruschwitz, a.a.O. S. 538

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