Matthäus 11,25-30

Matthäus 11,25-30

Letzter So. im Kirchenjahr | 20.11.2022 | Mt 11,25-30 | Preben Kræn Christensen |

Im Kirchenjahr sind wir beim letzten Sonntag des Jahres angekommen. Mit anderen Worten, das Kirchenjahr endet heute, und wir sollten eigentlich ein Feuerwerk veranstalten und uns an Sekt berauschen – wir sind im Gottesdienstbuch an der letzten Seite angelangt, und wie bei jedem anderen Buch evaluieren und fassen wir zusammen, wenn wir bis zur letzten Seite vorgedrungen sind. So wie wir auch am letzten Tag der Sommerferien die Erlebnisse der Ferien ins Gedächtnis rufen und uns einen Gesamtüberblick über die Ferientage verschaffen. Es ist mit anderen Worten Zeit für einen Überblick und einen Rückblick. Noch ein Jahr ist vergangen, noch einmal hat die Erde die Sonne umrundet, und noch einmal sind wir dabei gewesen – sowohl an sonnigen Tagen als auch an den schweren, finsteren und wolkenverhangenen Tagen. Wir sagen Dank für noch ein Jahr, mit dem wir gelebt haben durften mit Freuden in unserem eigenen Leben, und zugleich haben wir den Freuden im Leben unseres Herrn gelebt. Wir haben mit bebendem Herzen auf die frohe Botschaft der  Weihnacht erwartet, wo es am allerdunkelsten für uns aussah, und wir haben uns selbst gefragt, ob es wirklich wahr sein kann, dass Gott alle uns merkwürdigen Geschöpfe und die ganze geschaffene Erde liebt, dass er seinen eigenen geliebten Sohn Leben und Tod und Schicksal mit uns teilen ließ. An unseren eigenen Karfreitagen haben wir geweint aus Trauer und Enttäuschung über andere und uns selbst, weil unser Leben nicht so verlief, wie wir wollten. Und wir haben unsere Hände gerungen mit ihm, dem Sohn Gottes, an seinem Karfreitag, weil wir sehr wohl wissen, dass wir selbst ihn immer wieder mit gekreuzigt haben, wenn wir nicht glauben können, dass seine Liebe zu uns den Tod besiegen kann.

Wenn wir an andere Tage des Jahres zurückdenken, haben wir auch – und das ist das Erfreulichste – Gott uns an den Nacken greifen und unseren Blick erheben lassen, so dass wir wieder hinauf in das Licht und die Freude am Ostertag und allen anderen Tagen sehen können, die in sich die Freude und Erhebung des Ostertages tragen. Wenn es gelingt, sich von einem langen Krankenbett zu erheben, oder einfach wenn der Sohn spät nachts lärmend nach den Ausschweifungen der Nacht nach Hause kommt.

Heute können wir im klaren Licht und nachträglichen Wissen sehen, dass trotz der verschiedenen Texte der Sinn jeden Sonntag derselbe ist, nämlich dass Christus der Herr ist, dass sein Kommen in die Welt letztlich der Wendepunkt, die Lebensgrundlage und die Wahrheit ist. Durch ihn hat alles seinen Anfang, und in ihm hat alles seinen Abschluss. Das kann schwer zu verstehen sein für das kalte Gehirn, wo alles nach dem Maß des Zollstocks sein muss, aber wenn einem Karfreitag begegnet ist und danach ein Ostermorgen, dann weiß man, worüber man spricht! Anfang und Ende …

Bansky hat gerade Kiew besucht und ein Werk von Dimensionen geschaffen. Mitten in den Ruinen hat er auf einem zerbombten Haus eine Frau stehen lassen über dem Eingang oder dem Ausgang zu der Stelle, wo die Bombe in dem Hause eingeschlagen hat. Sie steht mit einem Banner über dem Kopf, und für mich ist das ein einfaches und klares Bild dafür, dass selbst in der Finsternis, im Tode, in Sinnlosigkeit und Leere ist Gott. Selbst dort – mitten in den Ruinen oder vielleicht richtiger gerade dort!  „Tod, wo ist dein Stachel!“

Wir leben in einer finsteren Zeit – die Bäume stehen nur noch nackt und warten auf das Licht, das die Knospen wieder in Blätter ausspringen lassen kann. Auch wir sind bleich, im Gesicht und in der Seele – die Seele sehnt sich nach dem Licht, das an Heiligabend kulminiert, mit dem Stern am dunklen Himmel, der auch Licht selbst in unsere finstersten Kammern bringt. Und die Körper warten geduldig auf das Licht des Frühlings, das anschaulicher Weise zusammen mit der Freude und Auferstehung von Ostern kommt. Wenn wir so weit gekommen sind, können der Saft und die Kraft der Osterlilie uns viel verdeutlichen, so wie die verwelkten Blätter gerade jetzt die Finsternis und den Fall veranschaulichen. Wenn wir die verwelkten Blätter in der Hand zerreiben, können wir gleichsam die Vernichtung hören.

Wir beschließen das Jahr also in jeder Hinsicht auf der finsteren Seite, aber wir wissen, dass uns Licht erwartet. Nächsten Sonntag drehen wir das Buch um und lesen den Text zum ersten Sonntag im Kirchenjahr, dem ersten Advent, wo wir uns darauf freuen, den Text zu hören von dem Licht und der Freude, die kommen.

Wir wissen, Advent bedeutet Kommen – das Kommen des Lichts, das Kommen Gottes in die Welt. Sein Kommen ist der Trost und die Ermunterung des Evangeliums. Ja, klingt das nicht trostreich und aufmunternd, wenn er selbst sagt: Nun schaffe ich einen neuen Himmel und eine neue Erde. Klingt das nicht wie die Antwort auf die Wunschträume ausgebrannter Menschen. Wie die Antwort auf unsere Sehnsucht.

Es ist auch ein Trost für uns, dass wir das Evangelium und das Leben wie Kinder empfangen – als die, denen alles geschenkt wird. Es fällt uns aber nur so schwer, denn es klingt zwar schön, aber es ist nicht ohne weiteres das, was sich ein Mensch wünscht. Denn wir wollen viel lieber verantwortungsbewusst sein, etwas geben und leisten, etwas bedeuten.

Doch wir sollen also unmündig sein im Empfangen des Lebens und der Wahrheit des Evangeliums in dem Sinne, dass wir nicht klug und weise sein sollen in eigener Überzeugung. Das hängt damit zusammen, dass das Christentum kein Gesetz ist oder etwas, was man erkennen und mit dem Verstand besitzen kann. Denn die christliche Wahrheit ist eine Person, nämlich Christus selbst, der sagt: „Ich preise dich Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies Weisen und Klugen verborgen hast und hast es Unmündigen offenbart“.

Unmündig in diesem Sinne bedeutet sein wie ein Kind. Christ sein heißt das Leben eines Kindes leben. Kinder leben sanftmütig und froh, wenn sie nur Kinder sein dürfen. Sie wissen sehr wohl, dass sie nicht sich selbst behüten können, aber das macht nichts. Das tun ja andere, wissen sie. Dadurch sind sie eben dazu befreit, die große Arbeit zu tun, die ein Kind zu tun hat, die Welt zu erobern, zu wachsen und zu lernen und sich zu entwickeln zu einem reifen Menschen. Die Demut und Sanftmut, die dem Christenleben eigen sind, kommen in und mit der Erkenntnis der völligen Hilflosigkeit gegenüber den Forderungen Gottes und der Menschen an uns.

Das ist es, was Gott aus uns gemacht hat: Seine Kinder.

„Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht“.

Deshalb ist unser eigener Karfreitag ein Tag, den wir nicht fürchten sollen, sondern auf den wir ohne Hintergedanken zugehen sollen. Wohl wissend, dass es hier kein Punktsystem gibt, das uns aus dem Reich Gottes fernhält, hier ist nur die Liebe eines Vaters zu seinem Kind, und das ist gut, denn das macht sowohl unser Leben als auch unseren Tod erträglich, weil wir wissen: Wenn wir müde geworden sind und die Last zu schwer wird, so trägt er uns.

Ab nächsten Sonntag beginnt alles wieder von vorne, denn es wird im neuen Kirchenjahr nichts Neues gesagt werden, sondern nur das selbe alte Evangelium, das uns jeden Advent Anlass gibt, neu zu beginnen mit dem selben Trost, dass Gott selbst als ein Kind kam, um uns Unmündige und Unverständige zu belehren.

In diesem Glauben und dieser trostreichen Freude dürfen wir uns Gottes Kinder nennen. Und wir sind es. Amen.


Propst Preben Kræn Christensen
DK-6710 Esbjerg V

E-Mail: pkch(at)km.dk

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