Philipper 2,5-11

Philipper 2,5-11

Statement! | Palmsonntag | 18.3.2024 | Phil 2,5-11 | Wolfgang Vögele |

Segensgruß

Der Predigttext für den Palmsonntag steht Phil 2,5-11:

„Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.“

Liebe Schwestern und Brüder,

Am Anfang tauchen wir kurz, aber tief in den Dschungel der hippen Jugendmode ein: Vor ein paar Tagen lief in der Fußgängerzone eine junge Frau an mir vorbei. Es war schon so frühlingshaft warm, sie hatte ihren Mantel geöffnet. Unter ihm trug sie ein einfaches weißes T-Shirt mit einem groß gedruckten englischen Wort: Serendipity. Sehr klein gedruckt stand darunter eine Erklärung aus dem Wörterbuch. Ich konnte sie so schnell nicht entziffern. Aber ich war neugierig und googelte zuhause. T-Shirts, Baseball Caps oder Hoodies mit kurzer Aufschrift heißen in junger Mode Statement Kleidung. Kleidung ist Botschaft. Das textile Statement macht ein Bekenntnis sichtbar, mit Ausrufezeichen: Ich bin davon überzeugt! Hier stehe ich! Zum Beispiel: Frauenrechte jetzt! Zum Beispiel: Respektiere die Erde! Zum Beispiel: Sei dankbar. Oder eben – Serendipity. Aber Vorsicht: In der Mode spielen junge Frauen und Männer oft ironisch mit Selbstdarstellung, Identität und Kleidungsstücken. Nicht alles ist ernst gemeint, zum Beispiel, wenn das Statement schreit: Spaßattacke!

Das T-Shirt der jungen Fußgängerin fand ich im Internet in Senfgelb oder Magenta. Die Erläuterung des Statements las sich, gleich ins Deutsche übersetzt, so: Serendipity –  etwas Schönes finden, ohne danach gesucht zu haben.

Das Absichtslose. Das Überraschende. Das Unerwartete. Serendipity läßt sich leider nur mit langatmigen Erklärungen ins Deutsche übertragen. Aber das ist nicht so wichtig, denn unabsichtlich hat die junge Frau mit ihrem Statement schon dreimal an das alte Lied des Paulus gerührt.

Eins: Sie stellt eine Überzeugung aus.

Zwei: Sie sucht nach der Überraschung jenseits der Langeweile.

Drei: Sie faßt sich so kurz wie möglich, nämlich in ein einziges Wort.

Paulus, der alte Mann, braucht für sein Statement ein paar Worte mehr. Er schreibt in Versen ein verdichtetes Lied. Im originalen Griechisch ist das ein Hymnus. Im Philipperbrief fängt der Apostel an zu singen. Er nimmt ein altes Lied auf, das Ruhm und Herrlichkeit Jesu Christi preist. In der deutschen Übersetzung gehen Enthusiasmus und Liedform verloren.

Paulus erläutert nicht umständlich. Er belehrt nicht. Er weiß es nicht besser. Stattdessen beantwortet er mit dem Zitat des Liedes eine lebenspraktische Frage. Das Lied wäre nichts wert, wenn nur die Reime klingeln würden. Das Statement erst macht den Verfasser zum Christen und das Lied zum Glaubensfenster.

Liebe Schwestern und Brüder, ich lasse die Nebensächlichkeiten beiseite und stelle sofort die entscheidende Frage, auf die dieses Lied eine poetische Antwort gibt. Das Bekenntnis, Statement antwortet auf die Frage nach Gott: Wo ist er? Wie greift er in diese Welt ein? Was will er uns fürs Leben sagen? Wann will er bestrafen? Wann will er loben? Mit solchen Fragen ringt Paulus sein ganzes Leben lang. Und sie treiben noch in der Gegenwart religiöse wie nicht-religiöse Menschen um. Mit aller emotionalen Macht stellen sich solche Fragen in bedrohlichen Momenten des Lebens, wenn ein Freund oder naher Angehöriger im Sterben liegt, wenn eine Kollegin sehr lange an einer schweren Krankheit leidet. Im normalen Alltag dagegen scheint diese Frage nach Gott keine Rolle zu spielen, weil sich der Alltag scheinbar auch ohne Gebet bewältigen läßt.

Viele Menschen, auch zweifelnde, können das als Statements akzeptieren: Es gibt einen Gott. Und er greift ins Leben, unser Leben ein. Und viele akzeptieren für sich, daß sie dieses Eingreifen beeinflussen können, durch Einhalten der Gebote, durch Beten, durch eine Spende an die Bedürftigen.

Wenn von Gott heute die Rede ist, dann begreifen ihn viele als die alles kontrollierende Instanz. Er steht hoch über uns, und er lenkt die Menschen wie ein Marionettenspieler seine Puppen. Gott wird, nach einer griffigen Formulierung, als alles bestimmende Wirklichkeit verstanden. Daraus folgt dann: Alles, was geschieht, ist auch Gottes Wille. Alles Wirkliche ist Gottes Wille. Die Formulierung ist unendlich allgemein, und darum verschleiert sie die gewaltige Anmaßung, die in diesem Satz versteckt ist. Alles Wirkliche ist Gottes Wille. Und ganz schnell wird dieser Satz dann auch umgekehrt: Was wirklich ist, muß als Gottes Wille akzeptiert werden. In die Verallgemeinerung schleichen sich eine ganze Reihe von Voraussetzungen ein, die nicht mitbedacht werden. Menschen müssen einen Gott akzeptieren, der die Wirklichkeit dirigiert. Aber wenn man weiter über diesen Satz nachdenkt, dann ziehen sich schnell Risse durch das Bild, die sich mit jedem weiteren Gedanken vergrößern.

Die passenden Beispiele liegen nahe. Schon in der Zeit der Aufklärung fragten sich Zeitungsleser: Hat Gott dieses verheerende Erdbeben in Lissabon zugelassen, das Tausende von Menschen das Leben kostete? Und auch in diesem Jahrhundert haben sich verzweifelte Angehörige gefragt: Sollen wir etwa den millionenfachen Mord an jüdischen Mitbürgern in Konzentrationslagern als von Gott bestimmte Wirklichkeit annehmen? Und man kann – und muß – noch weiter in die Gegenwart gehen: Wollte Gott etwa, daß am 7. Oktober 2023 Terroristen der Hamas Kibbuzbewohner und Konzertbesucher folterten, vergewaltigten und ermordeten?

Wer behauptet, Gott sei die alles bestimmende Wirklichkeit, muß diese Frage stellen. Und er darf sich nicht vor den Konsequenzen drücken. Eine früher beliebte Lösung für diesen Widerspruch lautete: Gott bestraft immer die Bösen, und er belohnt die Guten. Aber auch dem widerspricht alle Erfahrung: Zu viele Gute müssen leiden, zu viele Unschuldige sterben sinnlos, trostlos oder viel zu jung. Wer ein globales Konto von Gut und Böse einrichtet und gegeneinander abwägt, dessen Rechnung wird nie aufgehen. Es bleibt immer ein unerklärbarer Rest von sinnlosem Leiden.

Der Gott, der alles bestimmt und das Böse, das trotzdem geschieht – aus diesem unauflösbaren Gegensatz sollen mehrere Auswege herausführen. Die erste Lösung lautet: Ich akzeptiere die Wirklichkeit als Gottes Willen und akzeptiere auch alles, was mir selbst geschieht. Es soll eben so sein wie es ist und nicht anders. Diesen Willen muß ich demütig annehmen. Für Leidenszeiten drängt sich die Erklärung auf, daß Gott das so gewollt hat und wir Glaubenden seinen Willen einfach nicht verstehen.

Die zweite Lösung lautet: Ich akzeptiere, daß Gott die Wirklichkeit bestimmt, aber ich klage diesen Gott als grausam und unbarmherzig an, weil so viel sinnloses Leid geschieht. Und deswegen verachte ich Gott dafür und beachte ihn nicht weiter in meinem Leben.

Beide Lösungen haben gemeinsam, daß Christenmenschen sie nicht akzeptieren können. Denn sie widersprechen dem Lied aus dem Philipperbrief. Das ist gerade das Statement: Gott wird nicht als unnahbares, mitleidloses Schicksal dargestellt. Er thront nicht unnahbar über der Lebenswelt der Menschen. Sondern Gott wird Mensch, er nimmt Menschengestalt an, er wird geboren als Jesus von Nazareth. Damit ändert sich einiges im menschlichen Verhältnis zu Gott. Für die glaubenden Menschen kommt das ganz unerwartet. Sie erinnern sich – Serendipity.

Nicht daß man dann die Frage beantworten könnte: Wieso läßt Gott das zu? Wieso geschieht all das Böse? Wieso sterben Menschen grundlos und sinnlos? Diese Frage kann man auch aus der Sicht des christlichen Glaubens in der Gegenwart nicht endgültig beantworten. Die Risse nicht begründeten Leidens, die mitten durch die Wirklichkeit gehen, können nicht billig gekittet oder wegerklärt werden. Diese Risse bleiben offen bis zum Ende der Zeit. Aber was sich verändert, ist die Art und Weise, wie wir von Gott denken: Wenn Gott nur die alles bestimmende Wirklichkeit ist, dann läßt sich nicht entscheiden, ob er das Böse zuläßt oder sogar absichtlich herbeiführt. Er könnte ein grausamer, böser Gott sein. Der Verdacht läßt sich in dieser Deutung nicht entkräften.

Das Gottesbild verändert sich einschneidend, wenn man wie im Lied des Paulus Jesus von Nazareth und Gott theologisch miteinander verknüpft. Der Gott, der Mensch geworden ist, der sich entäußert hat, der leiden mußte und am Kreuz starb, der mit den leidenden Menschen solidarisch war, der verändert den Glauben der Menschen.

Der Gott der alles bestimmenden Wirklichkeit schwebt über den Wolken; unnahbar und unberührbar regiert er willkürlich das Schicksal der Menschen. Der Gott, der selbst ein Mensch geworden ist, er dagegen nimmt Anteil an diesen Schicksalen. Er läßt sich bewegen, läßt sich anreden, läßt sich anrühren. Er steht auf der Seite der Leidenden, der Unschuldigen, der Armen, der Trauernden, auf der Seite derer, die keinen Trost finden.

Gott geht so weit, so sagt es das Lied des Paulus, daß er Mensch wird, daß er seinen Sohn schickt. Gott durchmißt dabei einen großen kosmischen Bogen. Er wird zum Menschen Jesus von Nazareth bis in die allergrößte Niedrigkeit des Kreuzes. Von dort erhöht ihn Gott in der Auferstehung.

Diese besondere Nähe zu Gott zeigt sich in Jesu Leben: Er handelt gewaltlos. Er verfolgt keine eigensüchtigen Interessen. Er sieht barmherzig die Ängste und Leiden seiner Mitmenschen. Er redet von einem gnädigen Gott. Er achtet die Verachteten. Er heilt. Er schlichtet Streit. Er ist bereit, am Kreuz zu sterben. Alle vier Evangelien stimmen darin überein: Was Jesus vor allen anderen auszeichnet, ist seine besondere Nähe zu Gott und den Menschen. Das ist der Kern, das Statement des Liedes aus dem Philipperbrief: Der Gott Jesu Christi ist barmherzig und gnädig, er ist nicht der gnadenlose Vollstrecker seines eigenen Willens. Er spielt nicht mit den Menschen wie mit Marionetten.

Die Menschen, die Jesus erlebt haben, als er in Jerusalem einzog, müssen das auch gespürt haben. Wir haben das vorhin in der Lesung gehört: Als Jesus auf dem Esel durch das Tor reitet, bejubeln die Menschen ihn als einen politischen Erneuerer, als ihren Retter. Und ein paar Tage später werden sie von Pilatus ein Todesurteil fordern. Die Menschen in Jerusalem, die ihm mit den Palmzweigen zujubelten, sie haben ihn mißverstanden, und es wäre leicht, im Nachhinein über sie den Stab zu brechen und das Ganze, für uns aktuell, moralisch zu wenden: Bleibe du, liebe heutige Hörerin, lieber heutiger Hörer, beim Statement deiner stillen Glaubensgewißheit.

Das aber ist zu einfach. Was für das Lied ein riesiger Bogen ist, von Gott in die Welt und von dort wieder zu Gott zurück, das war für die Menschen, die Jesus zujubelten, so nicht erkennbar – oder doch?  Die Menschen, die Jesus damals zujubelten, unterscheiden sich in nichts von uns heutigen Menschen. Wir treten Jesus nicht nur mit dem gegenüber, was man Glauben, Gewißheit und Hoffnung nennt, sondern da sind auch Mißverständnisse, Zweifel und bange Fragen. Niemand, kein Mensch, kann ein Leben leben, in dem solche Fragen und damit Ungewißheit nicht regelmäßig die Glaubenssinne vernebeln. Es sind die drängenden Fragen nach dem Sinn unschuldigen Leidens, nach dem Sinn von Gewalt, Krankheit und Tod. Man kann diese Fragen verdrängen, leugnen oder einfach beiseiteschieben. Aber am Ende hilft das nichts: Sie lassen sich nicht ignorieren und auch nicht kurz und bündig beantworten. Die zerbrechliche Balance von Glauben und Zweifel, von Gewißheit und Ungewißheit, von Hoffnung und Gleichgültigkeit, sie läßt sich nicht auflösen.

Das Lied aus dem Philipperbrief gehört als Statement auf die Seite von Glauben, Gewißheit und Hoffnung. Das hat einen einfachen Grund: Es ist so geschrieben, als sei die Geschichte Jesu, der Gang von Gott in die Welt und von dort zu Gott zurück, schon zu Ende. An diesem Ende steht, daß sich dem Christus, dem Menschen aus Nazareth Menschen, Gewalten und Kosmos beugen werden. So singt es das Lied, und darin vermittelt es uns Zuversicht und Hoffnung. Da wird vom guten Ende in Gott her gesungen. Wir stehen aber noch nicht an diesem Ende der Geschichte. Wir sind noch in sie verwickelt und verstrickt. Uns steht das noch bevor, was Jesus schon geschehen ist. Und darum vermischen sich für uns noch Glauben und Zweifel, Gewißheit und Mißverständnis, Hoffnung und bange Fragen. Ich bin überzeugt: Eine Predigt darf an diesem Punkt nichts beschönigen. Jeder muß sich dem stellen, daß Glauben kein Zustand ist, sondern ein Weg, auf dem sich Gewißheiten und Zweifel abwechseln.

Die Geschichte Gottes mit den Menschen steht unter der Verheißung des Liedes aus dem Philipperbrief. Am Ende werden sich Gott alle Knie beugen. Am Ende wird er alle Mächte des Bösen besiegen. Und das Lied sagt: Nicht erst am Ende der Geschichte kannst du erkennen, wer Gott wirklich ist. Schon jetzt, wenn du dir die Geschichte des Jesus von Nazareth anschaust, siehst du den Gott, der Mensch geworden ist. Es ist ein barmherziger Gott, ein Gott, der das Leiden und den Tod und die Krankheit auf keinen Fall „will“. Denn dieser Gott steht selbst auf der Seite der Leidenden, der unschuldig Sterbenden und der ungerecht Behandelten.

Was bleibt uns aber, wenn wir kein sicheres Wissen darüber erlangen können? Die Antwort gibt wiederum das Lied selbst. Denn wir können glauben und Zeichen der Hoffnung setzen. Schon das Singen eines Liedes, dieses Liedes setzt ein Zeichen gegen die Gewalt, gegen Leiden und Tod. Wer singt, kann nicht verzweifelt sein. Jeder gefeierte Gottesdienst, jeder gesungene Choral, jedes hingemurmelte Gebet, jeder gedachte Stoßseufzer, jede Tat, die Frieden stiftet und Gewalt abbaut – all das stiftet Glaube, Liebe und Hoffnung und läßt sie wachsen. Sie tragen uns im Leben und helfen, Gewißheit und Zweifel im Vertrauen zu balancieren. Dieser Glaube ringt Welt und Gott ein Ja ab. Kein triumphierendes Ja, aber ein kraftvolles und nachhaltiges.

So sei es.

Prof. Dr. Wolfgang Vögele

Karlsruhe

wolfgangvoegele1@googlemail.com

Wolfgang Vögele, geboren 1962. Apl. Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität Heidelberg. Er schreibt über Theologie, Gemeinde und Predigt in seinem Blog „Glauben und Verstehen“ (www.wolfgangvoegele.wordpress.com).

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