Predigt über Psalm 85 

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Predigt über Psalm 85 

Seelische Grundnahrungsmittel für einen Eintopf | 7. 11. 2021 | Predigt über Psalm 85 | gehalten in Staffelbach/AG | verfasst von Dörte Gebhard |

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus.                                                                                                  Amen.

 

Liebe Gemeinde

Können Sie in drei Minuten Gottes Güte, Treue, Gerechtigkeit und Frieden erklären?

Verständlich und gründlich?

Schaffen Sie es gleichzeitig, die wichtigsten irdisch-menschlichen Konsequenzen zu ziehen?

Das Ganze sollte sprachlich ansprechend, gern sogar poetisch sein.

Am schönsten wäre es, wenn man es singen kann auf eine eingängige Melodie.

Dann geht es besser zu Herzen, bleibt nicht aussen an den Ohren hängen.

Ist das möglich?

Diese vier „weiten Felder“[1]  – Güte, Treue, Gerechtigkeit und Frieden – in drei Minuten zu klären?

Warum eigentlich nicht?

Unsere Vorfahren sagten sich wohl: Wir wagen es – mit Gottes Hilfe.

Dann wird es nicht schiefgehen.

Was kam dabei heraus?

Der 85. Psalm.

Sicher ist dieser Psalm ein Gemeinschaftswerk.

Ich lese den Psalm in der Übersetzung der Basisbibel, den Predigttext für heute:

2 Herr, du hast dein Land wieder liebgewonnen

und das Schicksal Jakobs zum Guten gewendet.

3 Du hast deinem Volk die Schuld vergeben

und alle Sünden hast du ihm verziehen. 

4 Du hast deinen ganzen Ärger aufgegeben

und deinen glühenden Zorn verrauchen lassen.

5 Gott, du bist unsere Hilfe, stell uns wieder her!

Sei nicht länger so aufgebracht gegen uns!

6 Willst du denn für immer auf uns zornig sein?

Soll sich dein Zorn noch ausdehnen

von der einen Generation auf die andere?

7 Willst du uns nicht wieder neues Leben schenken?

Dann wird sich dein Volk über dich freuen.

8 Herr, lass uns doch deine Güte erfahren!

Wir brauchen deine Hilfe, gib sie uns!

9 Ich will hören, was Gott zu sagen hat.

Der Herr redet vom Frieden.

Er verspricht ihn seinem Volk und seinen Frommen.

Doch sie sollen nicht mehr zurückkehren

zu den Dummheiten der Vergangenheit!

10 Ja, seine Hilfe ist denen nahe, die zu ihm gehören.

Dann wohnt seine Herrlichkeit wieder in unserem Land:

11 Güte und Treue finden zueinander.

Gerechtigkeit und Frieden küssen sich.

12 Treue wächst aus der Erde empor.

Gerechtigkeit scheint vom Himmel herab.

13 Auch schenkt uns der Herr viel Gutes,

und unser Land gibt seinen Ertrag dazu.

14 Gerechtigkeit zieht vor ihm her

und bestimmt die Richtung seiner Schritte.

Unsere Vorfahren konnten offenbar in drei Minuten Gottes Güte, Treue, Gerechtigkeit und Frieden erklären. Für ihre Zeit war das verständlich und gründlich. Gleichzeitig zogen sie alle irdisch-menschlichen Konsequenzen. Das Ganze ist sprachlich ansprechend, auf Hebräisch poetisch. Sicher haben sie auch sehr schön gesungen. Uns sind leider über die Zeiten die alten Melodien abhandengekommen. Aber es ist nicht verboten, neue zu erfinden.

In drei Minuten haben sie alle vier Themen schmackhaft gemacht. Länger dauert es jedenfalls nicht, den Psalm vorzulesen.

Für die Prediger und Predigerinnen ist unterdessen das dritte Jahrtausend angebrochen, diesen Drei-Minuten-Text auszulegen. Es geht aber auch für jede Generation von vorne los.

Auch die eher kürzeren Psalmen sind sehr nahrhaft, für Wochen, für Monate, für Jahre.

Wir lesen seit Anfang dieses Jahres in den Psalmen in unseren beiden Bibelgesprächskreisen und sind uns alle einig, dass sie kein Naschkram für zwischendurch sind, sondern sehr gehaltvoll. Manchmal sind sie schwer verdaulich, oft ist schon der Geruch von weitem fremd, exotisch.

Dorothee Sölle schreibt: „Die Psalmen sind für mich eins der wichtigsten Lebensmittel. Ich esse sie, ich trinke sie, ich kaue auf ihnen herum, manchmal spucke ich sie aus, und manchmal wiederhole ich sie mitten in der Nacht. Sie sind für mich Brot. Ohne sie tritt die spirituelle Magersucht ein, die sehr verbreitet unter uns ist und oft zu einer tödlichen Verarmung des Geistes und des Herzens führt.“

Gegen Herzenshunger, gegen geistige Magersucht, in schlaflosen Nächten und an kräftezehrenden Tagen hilft der 85. Psalm mit vier seelischen Grundnahrungsmitteln, die lebenswichtig sind.

Die Predigt hat drei Teile; der erste ist in diesem Moment vorüber.

Psalm 85 ist ein Rezept für eine Seelenspeise.

Der zweite Teil betrachtet die Zutaten der Seelennahrung im Einzelnen.

Im dritten Teil wird ‚Eintopf‘ gemacht.

II

Beginnen wir auf der Zutatenliste mit der Treue bzw. genauer mit der Untreue.

Denn gleich am Anfang wird Gott zur Untreue aufgefordert.

Das ist erstaunlich!

Auch ich fordere Sie gleich auf, untreu zu werden, untreu zu sein.

Das ist verwegen!

Gott soll untreu werden. Er soll seiner Wut untreu werden.

6 Willst du denn für immer auf uns zornig sein?

Soll sich dein Zorn noch ausdehnen

von der einen Generation auf die andere?

 Gott soll aufhören, seinen Zorn über die Kinder und Kindeskinder auszubreiten. Gott soll nicht den Kindern vorhalten, wie sehr sich ihre Eltern danebenbenommen haben. (Das wissen die Kinder meist auch ohne Gott.)

Vielleicht ist es überhaupt eine allzu menschliche Vorstellung, die Gott gar nicht nötig hat. Aber ich bin ertappt!

Ich bin manchen schlechten Gewohnheiten viel zu treu. Ich kann mit grosser Beständigkeit zurückkommen auf frühere Kränkungen, die mir widerfahren sind. Wer wann was und wie Blödes zu mir gesagt hat. Hat sich eingeprägt wie angebrannter, schwarzer Pudding am Topfboden.

Ich kann mich leider gut erinnern an längst vergangene Momente, in denen ich vor Wut gekocht habe. Wenn ich jemanden nicht leiden kann, bin ich meinen eigenen Vorurteilen tendenziell ewig treu.

Im Psalm kann man lernen, wie man solchen Regungen untreu wird.

4 Du hast deinen ganzen Ärger aufgegeben

und deinen glühenden Zorn verrauchen lassen.

Das wird zu Gott gesagt. Aber auch ich kann meinen ganzen «Ärger aufgeben», wie es heisst. Ich muss meinen Ärger nicht weiter hüten und hütscheln, füttern und pflegen. Ich kann mich zwar immer weiter aufregen, aber ich bin nicht dazu verpflichtet. Ich kann meine Wut, sogar meinen glühenden Zorn, verrauchen lassen. Ich kann frei entscheiden, nicht dauerhaft aufgebracht zu sein.

Dann kann ich, dann können wir zusammen anfangen, der Güte treu zu werden.

8 Herr, lass uns doch deine Güte erfahren!

Wir brauchen deine Hilfe, gib sie uns!

Über Güte gibt es nicht viel zu sagen, sie muss erfahren werden.

Wer zu viel davon redet, hat weniger Zeit, auch gütig zu sein, zu helfen.

Aber immer nur gütig sein? Soll man sich das ernsthaft vornehmen?

Dann wird man doch bald einmal belogen und betrogen, ausgelacht und zuletzt trotz allem schlecht gemacht.

An den Weinbergbesitzer muss ich denken, der allen Arbeitern, ganz gleich, ob sie morgens früh oder abends spät angefangen haben, zuletzt den gleichen Lohn gibt. Das kann man einmal an einem Montag machen, aber ab Dienstag kommen doch dann alle erst auf 17 Uhr «pünktlich» zur Arbeit …

Güte allein ist ungeniessbar. Dorothee Sölle schreibt davon, dass sie manchmal spucken muss.

Gerechtigkeit ist die dritte Zutat.

Gerechtigkeit scheint vom Himmel herab.

Der ganze Psalm tischt auf, was alles vom Himmel herabkommen muss, damit hier etwas wächst und gedeiht.

Stellen wir uns für einen Moment vor, es gäbe völlige Gerechtigkeit, aber dafür auch nichts als Gerechtigkeit. Die Zähne würden wir uns ausbeissen, so hart wäre das. Gewissermassen ungeniessbare, nicht aufzutauende Tiefkühlkost. Es wäre unerträglich. Es braucht wesentlich mehr für eine warme Mahlzeit.

Frieden steht als viertes auf der Zutatenliste. Der Psalmist lauscht:

9 Ich will hören, was Gott zu sagen hat.

Der Herr redet vom Frieden.

Er verspricht ihn seinem Volk und seinen Frommen.

Doch sie sollen nicht mehr zurückkehren

zu den Dummheiten der Vergangenheit!

Das ist mir gleich aufgefallen: Das Gegenteil von Frieden ist im Psalm nicht Krieg oder Gewalt oder Terror oder …, sondern Dummheit. Dummheiten aus der Vergangenheit werden speziell genannt. Wut und Zorn, Verletzungen und Kränkungen gehören ganz bestimmt zu dieser Sorte Dummheiten. Und die Dummheiten stehen im Plural, es gibt nichts zu beschönigen. Die Psalmisten scheinen sich und sogar uns gekannt zu haben.

Wo Dummheiten gemacht wurden, soll Frieden einkehren. Aber was ist Frieden ohne Güte, ohne Treue, ohne Gerechtigkeit?

Ein solcher Frieden wäre dann blosses Stillhalten. Es bedeutete z. B., nichts zu sagen «um des lieben Friedens willen».

Frieden wäre dann nur ein vorübergehender Waffenstillstand. Die Dummen wären ohnehin gleich zur Stelle, um diesen hohlen Frieden zur weiteren Aufrüstung zu nutzen.

III

Nun haben wir bis hierher in der Predigt auf den noch rohen und einzelnen Zutaten herumgekaut.

Die Psalmisten kochen aus Güte und Treue, aus Gerechtigkeit und Frieden aber nahrhaften Eintopf. Wer Eintopf nicht gern hat, kann gern beim Bild vom Psalm bleiben:

11 Güte und Treue finden zueinander.

Gerechtigkeit und Frieden küssen sich.

Ich finde, Güte, Treue, Gerechtigkeit und Frieden müssen in den einen Topf, in dem es kocht – für alle.

So wie die vier Zutaten je für sich genommen nicht geniessbar sind, so gibt es diese vier auch nicht für einzelne Menschen, nur für dich oder nur für mich oder nur für den Papst oder nur für den Kaiser von China oder nur für irgendwen. Eintopf wird für viele gekocht, speziell dann, wenn man nicht genau weiss, wie viele kommen werden. Nach Gottes Willen kommen dann einst einmal alle. Von damals und heute, von nah und fern.

Der Psalm ist, wie eingangs gesagt, sehr wahrscheinlich ein Gemeinschaftswerk.

Güte und Treue, Gerechtigkeit und Frieden sind ganz sicher ein Gemeinschaftswerk, zuerst von Gott und den Menschen.

Unser Gott ist ein entgegenkommender Gott – und wir können das auch!

Im Psalm sind die unbegreiflichen Gaben Gottes in Worte gefasst, die wir in der Küche brauchen. Zuerst muss etwas wachsen und reifen, ehe wir es ernten können:

12 Treue wächst aus der Erde empor.

Gerechtigkeit scheint vom Himmel herab.

13 Auch schenkt uns der Herr viel Gutes,

und unser Land gibt seinen Ertrag dazu.

Noch mehr aber kommt es in unseren Tagen wohl darauf an, dass es für Güte und Treue, für Gerechtigkeit und Frieden immer mindestens zwei Menschen braucht, nicht nur einen oder eine. Besonders viele Köche verderben in diesem Falle gar nichts.

Erschrocken bin ich gegenwärtig, wie sehr sich Einzelne z. B. nur auf ihren persönlichen und individuellen Geschmack berufen, ihre Vorlieben egoistisch ins Blickfeld rücken. Für sie selbst darf es dann gern etwas mehr sein – wohlgemerkt von dem, was ihnen gerade passt, worauf sie speziell Appetit haben.

Entsetzt bin ich, wenn jemand seine scheinbar uneingeschränkte Freiheit zuoberst über das Rezept schreibt, ohne zu merken, dass wir alle zusammen etwas kochen müssen, wenn es wirklich sattmachen soll, wenn es ein Lebensmittel für die Seele sein soll, das seinen Namen verdient.

Wenn sich die Verheissungen des Psalms erfüllen, sitzen wir einmal alle um einen einzigen, jedoch langen und vollen Tisch. Jesus hat davon erzählt in seinem Gleichnis vom grossen Gastmahl. Alle werden guten Appetit haben – und satt werden an Eintopf aus Güte und Treue, Gerechtigkeit und Frieden.

Bis dahin fungiert eine alte chassidische Weisheit als Einkaufszettel:

Verlasst euch nicht auf Wunder, sondern rezitiert Psalmen.

Denn der Friede Gottes ist höher ist als unsere Vernunft. Er stärke und bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus,                         Amen.

[1]  Vgl. Theodor Fontane, Effi Briest.

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