Predigt über Titus 2, 11f

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Predigt über Titus 2, 11f

Gnadenleichte, gut-bürgerliche Weihnachten  |  Predigt über Titus 2, 11f (13-15)   |   Christnacht  |  24. Dezember 2021    |  verfasst von Jochen Riepe |

‚Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen / und erzieht uns, /daß wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden /  und besonnen, gerecht und fromm / in dieser Welt leben…‘

I

Das Kind war vielleicht vier Jahre alt und hatte einen Holzbaukasten bekommen. Ihr wißt schon: Klötzchen, Bögen, Säulen, Fenster mit grünem und rotem Transparentpapier. Im Laufe des eher unruhigen Heiligen Abends entschwand es mitsamt seinem Geschenk  unter dem Tisch, denn es war sonst nicht viel Platz in der kleinen Wohnung. Dort machte der Knabe es sich gemütlich und blieb lange, lange…

Gewiß, man hat es mir später erzählt: ‚Wie schön du gespielt hast‘, aber irgendwo in einem Hinterstübchen des Gedächtnisses habe ich, ja, fast ein Sehnsuchts-Bild von diesem Baukasten –  gleichsam das ‚Urbild‘ eines verlorenen Schatzes. Unter dem Tisch war es weihnachtlich hell.

II

Der Brief des Paulus an den Gemeindevorsteher Titus ist ein strenger, ein ‚ernster‘(3,8) Brief, der sogar recht scharf von notwendigen ‚Zurechtweisungen‘(1,13) in den Gemeinden auf Kreta spricht. Aber mittendrin leuchtet ein kostbarer Satz – geschrieben wie mit Goldlettern: ‚Erschienen ist die Gnade Gottes allen Menschen…‘ ‚Erschienen‘ … wir als Hörer und Leser denken an die ‚Klarheit des Herrn‘ (Lk 2,9), die mit den himmlischen Heerscharen die Hirten von Bethlehem umgab, vielleicht auch an Mose, auf dessen Antlitz der Glanz Gottes ruhte (Ex 34,29), und schließlich an die vielen Lichter, die wir in der Heiligen Nacht entzündet haben.

Gnade, Charis – das ist ja ein Wort und eine Botschaft, die dieser stumpfen, dunklen, tod-ernsten Erde einen ‚Freudenschein‘ (eg 70,4), Glanz und Anmut, ein Lächeln eben, verleiht… ja, auch Entspannung in den Ungewißheiten und Ärgernissen der letzten Wochen. ‚Gnade‘ –  es ist jetzt gut. ‚Christ, der Retter‘(1,4) ist da. Du darfst loslassen und ruhig werden. Endlich – Stille.

III

Nach diesem hellen, lichtvollen Anfang  ist die Fortsetzung des apostolischen Satzes fast eine Provokation: ‚…die Gnade – erzieht uns, auf dass wir absagen dem ungöttlichen Wesen… und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben‘. Unser ‚Freudenschein‘ ließe sich gleichsam herunter dimmen auf eine ‚Gnaden-Pädagogik‘ und dies sogar dreifach? Die ‚Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes‘(3,4) wiese an einen Ort, der die Tugenden eines nüchternen, soz. ‚gut-bürgerlichen‘* Lebens lehrt? ‚Erziehung‘, da hören wir Anstrengung und Bevormundung mit,  und ‚bürgerlich‘ klingt manchen nach mittelmäßig und brav.

Seht ihr, und darum habe ich von dem Jungen, seinem Zauberbaukasten und seinem Platz unter dem Tisch erzählt. Diese meine vielleicht früheste Weihnachtserinnerung hält ja in aller Schlichtheit solch einen Zufluchtsort fest, gleichsam einen seligen, gnadenleichten und persönlichen Bildungsraum. Anscheinend tat es dem Kind gut, den Augen der Eltern und der Geschwister für eine Weile entzogen zu sein, sie in Hörweite zurück zu lassen, mit seinem Weihnachtsengel allein. So konnte er das Geschenk auswickeln, die verschiedenen Teile langsam kennenlernen – und: eine Ahnung bekommen von dem, was ein Schatz ist.

IV

Wundersam, diese Säulen und Bögen,  grün und rot leuchtende Fenster, die nun auf dem Boden ausgebreitet lagen und nach und nach betrachtet und gewürdigt wurden… wundersam aber auch, wie dieses kindliche Erleben einen Menschen ‚erzieht‘ und seinem Gemüt eine lebenslanges Bild ‚ein-bildet‘. ‚Besonnenheit‘ nennt der Apostel das Ziel der ‚Gnade‘ Gottes und im Innersten dieses Wortes steckt  ja etwas Gelassenes, Umsichtiges, ‚Leises‘ (Jes 42,2), das den Kontrollblicken und dem Druck der Umwelt, ‚den Begierden dieser Welt‘ und ihrer rastlosen Urteilswut entzogen ist und sich spielerisch-ernst seines Lebens und seiner Gaben widmet. Jeder von uns sucht solch ein Refugium, in dem er das Unwesentliche lassen kann: ‚Eins ist not‘( Lk 10,42), sagt Jesus bekanntlich der sorgenvoll-rührigen, um ‚vieles‘ bekümmerten Martha.

Vielleicht kommt euch die paulinische Weihnachtserziehung jetzt etwas näher: Wenn die Gnade erzieht, dann eröffnet sie uns – Schutzräume. Schutz- und Lernräume. Zentrierung. Selbstvergessenheit. Gegen die allseitige Weihnachtszerstreuung, die unsere Herzen von Wunsch zu  Wunsch taumeln läßt,  immer in der Angst, Wesentliches zu verpassen, immer mit den Blicken der anderen beschäftigt, hüllt uns Gottes Gnade in einen klärenden, ja ‚ver-klärenden‘, manchmal gewiß auch furchterregenden, Lichtschein. Stille.

Die Klarheit des Herrn umgab sie‘. So kann ich als Kind ‚der Herrlichkeit‘ (Hebr 2,10) selber ‚klar‘ und stark werden, geklärt-aufgeklärt, und Entscheidungen treffen, denen ich treu bleibe.

V

Mich würde nicht wundern, wenn die Ruhe des Kindes unter dem Tisch auch die anderen im Raum ergriff. Bauklötze, durch ihre Schule sind wir ja alle gegangen, fördern die Erfindungsgabe und die Fähigkeit, sich zu sammeln.  Die Gespräche wurden leiser geführt, nachdenklicher, eben ‚ziviler‘, und ab und an sah jemand wohlgefällig lächelnd auf das Geschehen unten.  Wo einer anfängt, einen Schutzraum zu betreten oder auch zu bauen, da folgen andere. ‚Deine Ruhe strahlt aus‘. Oder: ‚Die Engelsgeduld meiner Mutter, ihr Abwägen der Dinge, ihr Hören auch auf die andere Seite, haben mich geprägt. Wenn andere sich das Maul zerrissen, schwieg sie‘.

Gewiß,  wo Rückzug ist, ist auch Störung – sogar feindseliger, böser Art … In uns …  außer uns. Aber die ‚himmlischen Heerscharen‘ sind verläßlich: Ausgesetzt einer Medienwelt, die uns mit Reizen, Informationen, Drohungen flutet, die den Grundsatz der ‚Aus-gewogen-heit‘ ignoriert** und Abweichendes als randständig und sozialschädlich verunglimpft; angesichts des Schrumpfens einer auf  Verständigung ausgerichteten Gesprächskultur ‚wehren, schützen und hüten‘*** die Weihnachtsengel. Sie halten uns zusammen und zeigen Wege, die ‚Menschenfreundlichkeit Gottes‘ zu leben. Bewegte Ruhe: gemeinsames Singen, Erzählen und Lachen –gut gelüftet natürlich! Eine spannende Lektüre, ein aufmerksames Gespräch beim Winter-Spaziergang oder eben schöne Spiel-sachen wie der Holzbaukasten aus dem Erzgebirge. Gegen Panik hilft nur Bildung. Am besten spielerische Bildung.

VI

Erschienen ist die Gnade Gottes‘ – ‚und sie erzieht uns, auf daß wir besonnen und gerechtleben‘. ‚Gerecht‘ – das ist nun das zweite Ziel des stillen göttlichen Erziehungsraumes. Jetzt  mache ich es mir noch einmal ‚gnadenleicht‘ und sage: ‚Gerechtigkeit‘ – das ist doch die Kehrseite der Besonnenheit. Ein gerechter, rechtschaffener Mensch soll uns der sein, der den anderen in dem Gnadenraum sieht, in dem er selbst steht, und sein Urteil entsprechend ausrichtet und mäßigt. ‚Weigert euch, Feinde zu sein‘, stand neulich auf einem Plakat in Görlitz.  ‚Alles, was ihr nun wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch‘(Mt 7,12), so heißt Jesu ‚goldene Regel‘.

Paulus in Nikopolis, auf dem Weg nach Rom, betont: ‚…allen Menschen‘, und dieser Ton  ist ja Nachhall  jenes Engelsrufes, den wir in der Weihnachtsgeschichte hören, und der von einer Freude spricht, ‚die allen Menschen widerfahren ist‘. Gottes ‚Klarheit‘ ist unteilbar, und  wer in ihrem Erziehungsraum groß wird, der ist so frei, den anderen gleich sich selbst zu achten, ja neugierig darauf zu sein, was ihn bewegt, beunruhigt oder gar (ver-)zweifeln läßt.

Eine Bescherung ist ja dessen Abbild: Jedem den ‚Schatz‘ zukommen lassen, der ihm guttut. Ich weiß, der Wunsch des anderen kann uns ein großes Rätsel sein. Gerade für die Gutmeinenden ist das bitter: ‚Wieder daneben!‘ Dann wird der Heilige Abend zur enttäuschten, verquälten Nörgelei.  Aber hilft da nicht der Gedanke, daß im ‚Einander gerecht werden‘ Versuch und Irrtum liegen, die Freiheit zum Experiment und zum Lernen? Gnädig ist die Lebensart, die auch mit den eigenen Idealen          ‚be-gnadet‘ und  humorvoll umgehen kann.

VII

Seht ihr am Ende noch einmal unter den Tisch? Psst, wir wollen das Kind ja nicht stören…  aber es ist doch spannend, wie es seine Bauklötzchen setzt. Es testet diese Folge und dann eine andere. Es baut das Haus mit breitem Sockel und dann wieder einen Turm, der schnell einzustürzen droht. Die Fenster kommen in die Rückwand und dann wieder neben die Tür. Es kombiniert die Säulen mit den Bögen, krönt die mit einem Dachstein und dann fällt alles zusammen… Macht nichts, wir sind im gnadenleichten Universum der riskanten Selbsterprobung.

Das ist ja in der Christnacht das Wichtigste: Das Kind in der Krippe sucht nicht den fertigen Menschen. ‚Wir haben diesen Schatz in irdenen Gefäßen‘(2.Kor.4, 7). Gerade der Besonnene und der nach gerechtem Handeln Strebende erkennt sein ‚Stückwerk‘, aber er weiß auch: Eben so trägt mich die Weihnachtsgnade. Eben so wachse ich gnadenpädagogisch wie ‚von selbst‘ (Jes 43,19; Mk 4,29) in des Apostels dritte Tugend: ‚fromm‘. Offen für Gott. Treu gegenüber seinem klaren und klärenden Gebot. Fromme Zivilität.

VIII

Natürlich, es war spät geworden. Ich war dann – so wurde es später erzählt- über den Bauklötzen eingeschlafen. Gott sei Dank: Am anderen Morgen waren sie  noch da und all die stillen, tiefen Tage dazu.  Und wenn der Schatz dann irgendwann verloren ging, so glänzt er doch ‚alle Jahre wieder‘ in einer Kammer meiner Erinnerungen.

Eine gute Nacht, eine heilige Nacht, liebe Gemeinde. ‚Christ, der Retter, ist da‘.

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Liedvorschläge: eg 35 (Nun singet und seid froh); eg 36,5-7 (Fröhlich soll mein Herze springen); eg 46 (Stille Nacht)

(Gebet nach der Predigt:) Lieber Vater im Himmel, leite du uns in den Frieden und die Stille der Christnacht. Umgib uns in dieser heiligen Zeit mit deiner Klarheit und hilf, das Dunkle, Belastende und Beunruhigende geduldig zu bedenken und zu  klären. Erleuchte Vernunft und Herz. Schenk uns Aufmerksamkeit füreinander und gib jedem den Schutzraum, den er braucht. ‚Dein heiliger Engel sei  mit uns, daß der böse Feind keine Macht an uns finde. Amen‘.

 

*H. Merkel, Die Pastoralbriefe NTD 9/1, 13. Aufl., 1991, S. 77.96. Das Problem der ‚christlichen Bürgerlichkeit‘ benennt   P. Dragutinovic, ‚Tauta pasch­­o­(2.Tim. 1,12:)  Wer verfolgt wen in den Pastoralbriefen (2016), S. 481 (als PDF online)   **H. M. Kepplinger, Totschweigen und Skandalisieren Was Journalisten über ihre eigenen Fehler denken, 2017, S. 130ff    ***M. Luther, Sermon von den Engeln (1530), MA  VI, 1968, S. 298

Pfr. i.R. J. Riepe Dortmund email: Jochen.Riepe@gmx.net

 

 

 

 

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