Predigt zu 1 Kor 4, 1-5

Predigt zu 1 Kor 4, 1-5

Fürchte dich nicht | 3. Advent | 12.12.2021 | Predigt zu 1 Kor 4, 1-5 | verfasst von Verena Salvisberg |

Liebe Gemeinde

Fürchte dich nicht. Der Schriftzug aus Lichterketten spiegelt sich im Schaufenster, mitten in der Stadt. Dringende Besorgungen lassen mich durch die weihnächtlich geschmückten Strassen eilen.

Fürchte dich nicht. Das Spiegelbild lässt mich innehalten. Soll ich mich ärgern, über die plakative Botschaft der Freikirche vis-à-vis? Als ob es so einfach wäre. Als ob es getan wäre mit der simplen Aufforderung: Fürchte dich nicht.

Nein, es gibt genügend Gründe sich zu fürchten.

Geradezu überschwemmt werden wir mit Nachrichten, die uns das Fürchten lehren.

«Ich will, dass ihr in Panik geratet, dass ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre», ruft eine Teenagerin der Welt zu[1].

Die Nachrichten, die uns Tag für Tag erreichen, sind wahrlich zum Fürchten.

Menschen ertrinken auf der Flucht. Sie stranden an der Festung Europa. Wenn sie Grenzen überqueren, werden sie zurückgeschafft, immer wieder, zum Teil mit Gewalt.

Ganze Landstriche werden überschwemmt. Es gibt Tote. Hier bei uns.

Die Corona-Fallzahlen steigen in Rekordhöhen. Eine neue Variante taucht auf. Man weiss nicht viel. Ist sie ansteckender als andere? Wirkt die Impfung auch bei dieser Mutation?

Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sei alarmierend schlecht, höre ich im Radio. Kleine Kinder seien aggressiv. Jugendliche würden unter Depressionen und Antriebslosigkeit leiden.

Menschen, die in Läden oder in Krankenhäusern arbeiten, berichten von einer Gereiztheit und Gehässigkeit, die ihnen von Kunden und Patienten entgegenschlägt. Eine ganze Gesellschaft scheint die Geduld zu verlieren.

Viele Menschen sagen zu mir: Nicht dieses Thema! Darüber wollen wir nicht sprechen. Zum Teil wohl aus Angst vor der Haltung der anderen in der Frage der Corona-Massnahmen. Ja, die Fronten sind verhärtet. Ist das ein Grund, nicht darüber zu sprechen?

Warum ist es so viel einfacher, wütend zu sein, als zuzugeben, dass man sich fürchtet?

Warum ist es so viel einfacher, andere zu verteufeln als auszuhalten, dass vieles ungewiss ist und bleibt. Wie lange das noch dauert. Ob es noch schlimmer wird. Wie wir am besten damit umgehen. Guter Rat ist teuer. Trost auch. Fürchte dich nicht? Ist das nicht zu billig?

Was ist meine Aufgabe als Pfarrerin? Unsere Aufgabe als Kirche? Als Christenmenschen? Als Gemeinde? Zum friedlichen Miteinander aufrufen? Für Gerechtigkeit kämpfen? Trost spenden? Weihnächtliche Zuversicht ausstrahlen? Oder gar den Finger auf den wunden Punkt legen: Es ist zum Fürchten!

In seinem Schreiben an die Gemeinde in Korinth findet Paulus für seine Aufgabe inspirierenden Ausdruck:

So soll man uns als Diener des Christus und als Verwalter der Geheimnisse Gottes betrachten. Nun verlangt man ja von einem Verwalter nichts weiter, als dass er für treu befunden werde.

Mir ist es aber völlig gleichgültig, ob ich von euch oder von einem menschlichen Gericht beurteilt werde; ich beurteile mich ja auch nicht, denn ich bin mir keiner Schuld bewusst.

Doch dadurch bin ich nicht gerecht gesprochen; der aber über mich urteilt, ist der Herr.

Darum urteilt nicht vor der Zeit, nicht bevor der Herr kommt! Er wird auch, was im Dunkeln verborgen ist, ans Licht bringen und wird Sinnen und Trachten der Herzen offenbar machen. Und dann wird einem jeden Lob zuteil werden von Gott (1 Kor 4,1-5).

Ich fühle mich spontan angesprochen. Das ist eine Beschreibung meiner Aufgaben als Pfarrerin, die mir zusagt. Dienerin des Christus. Verwalterin der Geheimnisse Gottes.

Aber: Ist Ihnen auch aufgefallen, dass Paulus «uns» sagt? Er meint keineswegs nur sich selber. Vielleicht seine Apostelkollegen. Wahrscheinlich aber alle, die sich engagieren in der Gemeinde. Dazu passt auch das Wort «hyperetes», hier übersetzt mit «Diener», was ursprünglich den (Mit)ruderer auf dem Schiff bezeichnete. Ganz klar, dass das Schiff, das sich Gemeinde nennt, nicht durch einen einzelnen Ruderer in Bewegung gebracht wird. Es ist also eine gemeinsame Aufgabe.

Verwalter der Geheimnisse Gottes sein. Oder Haushalter über Gottes Geheimnisse, wie Luther übersetzt. Und von diesen Haushaltern fordert man nicht mehr, als dass sie für treu befunden werden.

Womit können wir eigentlich haushalten als Christinnen und Christen? Als Mitrudererinnen und Mitruderer? Und: Was heisst treu? Ein Erlebnis, das ich vor einigen Jahren gemacht habe, ist bezeichnend für ein bestimmtes Verständnis von «verwalten». Als Pfarrerin gehörte ich von Amtes wegen zum Stiftungsrat einer Stiftung für bedürftige Menschen. Einmal im Jahr hatten wir die eingegangenen Gesuche zu sortieren und allfällige Beiträge zu bewilligen. Ausserdem mussten wir die Anlagestrategie überprüfen und die Abrechnung genehmigen. Bei der Vorstellung der Bilanz sagte die Stiftungsratspräsidentin: Wir haben gut gearbeitet dieses Jahr, Fr. 15’000 Gewinn. «Moment mal», warf ich damals in die Runde: «Ist das gut gearbeitet, wenn eine Stiftung für Bedürftige Gewinn macht? Heisst «gut arbeiten» in diesem Fall nicht, dass möglichst viel Geld dem Bestimmungszweck zugeführt wird? Dass möglichst viele Menschen mit einem Beitrag unterstützt werden?»

Was heisst «treu haushalten» in der Kirche? Womit können wir als Gemeinschaft von Christinnen und Christen wuchern? Was haben wir zu geben? Welche Güter sind uns anvertraut?

Darüber würde ich gerne mit Ihnen ins Gespräch kommen. Was das sein könnte, in diesem Advent 2021? Womit könnten wir uns und andere nähren? Was ist unser Trost? Wie könnten wir Zuversicht, Sehnsucht, Besonnenheit unter die Leute bringen?

Ja, darüber würde ich gerne mit Ihnen unterhalten. Das geht aber nur, wenn wir über das sprechen dürfen, was uns beschäftigt, was uns bedrängt und hoffnungslos macht. Wenn das, was uns bedrückt, nicht tabu sein muss, nur weil bald Weihnachten ist.

Viele Lieder sind ein wahre Fundgrube für den ehrlichen Advent. Frohe Botschaft, aber auch aufrichtiges Wahrnehmen von all dem, was zum Fürchten ist.

O Heiland, reiss die Himmel auf! Wo bleibst du Trost der ganzen Welt? Komm, tröst uns hier im Jammertal.[2] Ihr Armen und Elenden zu dieser bösen Zeit, die ihr an allen Enden müsst haben Angst und Leid.[3] Ich lag in schweren Banden, du kommst und machst mich los.[4] Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld.[5]

Manches nehmen viele Menschen heute genauso wahr. Als Elend. Als Jammertal.

Aber dazu inspirieren die alten Lieder auch: Wie wir nicht in Depression verfallen oder ergrimmen müssen, sondern uns mit einer gewissen Gelassenheit, Besonnenheit und Zuversicht an der alten Hoffnung orientieren können. Seid dennoch wohlgemut[6], so wird da auch gesungen.

Wenn wir also die alte Engelsbotschaft weitersagen: Fürchte dich nicht, dann meinen wir nicht nur «Schwamm drüber», «alles wird gut», dann meinen wir auch: «Ich weiss, du fürchtest dich». Ich weiss, du fürchtest dich. Das gilt es auszuhalten. Die Ungewissheit. Kommt es gut? Wir wissen es auch nicht.

Paulus geht in seinem Brief an die Gemeinde in Korinth sogar noch weiter, würde ich sagen.

Wir sollen uns als Verwalter der Geheimnisse Gottes betrachten, schreibt er. Geheimnis heisst: es ist verborgen oder zumindest noch verborgen. Die Ungewissheit gilt es nicht nur auszuhalten, sondern gar zu hüten. Sie muss gegenüber vielen vermeintlichen Gewissheiten geschützt werden. Keine Urteile übereinander fällen. Sich nicht nur auf die so genannt objektiven Statistiken und Prognosen verlassen. Nicht auf diejenige bauen, die die Welt zu erklären, Schuldige zu benennen und einfache Lösungen zu präsentieren wissen.

Die Adventszeit konfrontiert uns damit. Im Advent feiern noch nicht Weihnachten, sondern die Sehnsucht. Wir zelebrieren das Warten. Mit dem Adventskranz. Mit besonderen Liedern. Mit Bibelworten, die uns zunächst wenig adventlich vorkommen mögen, sondern uns nötigen, ehrlich zu sein.

Dies alles mag uns schwach vorkommen. Wenig Strahlkraft zu haben. Wenig Licht und Wärme zu verbreiten. Solch ein Urteil ist schnell gefällt, über die Kirche, auch über mich selber.

Wie tröstlich sind da Paulus’ Worte:

Mir ist es aber völlig gleichgültig, ob ich von euch oder von einem menschlichen Gericht beurteilt werde; ich beurteile mich ja auch nicht, denn ich bin mir keiner Schuld bewusst.

Doch dadurch bin ich nicht gerecht gesprochen; der aber über mich urteilt, ist der Herr.

Darum urteilt nicht vor der Zeit, nicht bevor der Herr kommt! Er wird auch, was im Dunkeln verborgen ist, ans Licht bringen und wird Sinnen und Trachten der Herzen offenbar machen. Und dann wird einem jeden Lob zuteil werden von Gott (1 Kor 4,1-5).

Adventlich gestimmt harre ich auf den, der da kommt. Der ans Licht bringt, was verborgen ist. Auf ihn warte ich und erlaube mir in der Zwischenzeit mitten untern den Menschen das eine oder andere «Fürchte dich nicht» zu spiegeln zu versuchen.

Amen

Die Predigt nimmt Bezug auf die Foto «Fürchte dich nicht», aufgenommen im Dezember 2021 in Langenthal.

Pfrn. Verena Salvisberg

Roggwil

verenasalvisberg@bluewin.ch

Verena Salvisberg Lantsch, geb. 1965, Pfarrerin seit 1. Dezember 2018 in Roggwil BE, vorher in Laufenburg und Frick.

[1] Greta Thunberg am Weltwirtschaftsforum 2019 in Davos

[2] RG 361, O Heiland, reiss die Himmel auf.

[3] RG 365, Nun jauchzet, all ihr Frommen.

[4] RG 367, Wie soll ich dich empfangen.

[5] RG 372, Die Nacht ist vorgedrungen.

[6] RG 365.

de_DEDeutsch