Predigt zu 1. Kor 4, 1-5

Predigt zu 1. Kor 4, 1-5

Geheimnisvolle Zeit | 3. Advent | 12.12.2021 | Predigt zu 1. Kor 4, 1-5 | verfasst von Ralf Reuter |

Mit den Augen des Advents auf das Leben sehen, ruhig, konzentriert, bestimmt, mit sich weitgehend identisch sein, neugierig auf die Zukunft, so einen wachen Daseinsblick wünsche ich mir für diese Tage. Noch habe ich ihn nicht, diesen ruhigen Blick, nur eine Sehnsucht danach, mitten im hereinbrechenden Alltag, in diesen Zeiten des Umgestaltens, der vorsichtigen Absagen von vertrauten Formen des Lebens, den vollen Intensivstationen, dem bemühten Zugehen auf Weihnachten. Gerne möchte ich wie ein Haushalter sein über Gottes Geheimnisse, möchte von den Menschen wahrgenommen werden als ein treuer Diener Christi.

Diesen Wunsch nach einer souveränen ruhigen Haltung nehme ich auch bei Paulus wahr, der sich angegriffen fühlt inmitten der Auseinandersetzungen in Korinth. Ich spüre, wie er aufgebracht ist von den Urteilen über ihn, sich danach sehnt, seiner Beauftragung entsprechend ganz selbstverständlich zu leben und zu handeln. Immer wieder wehrt er sich mit den Inhalten seines Glaubens, schreibt der Gemeinde klare und deutliche Sätze wie „richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch ans Licht bringen wird, was im Finstern verborgen ist“, dann „wird auch einem jeden von Gott Lob zuteilwerden.“

Realistisch betrachtet, sprechen diese Aufforderungen ganz unmittelbar in die Gegenwart. Mir jedenfalls ist nicht klar, wie ich dieses Pandemiegeschehen beurteilen soll, das sich da in Gottes Schöpfung einnistet. Ich kann nur teilweise erkennen, ob andere es aufrichtig in ihrem Herzen meinen, oder nur nach eigener Anerkennung streben. Trotz der Vereinzelung von Menschen, der abnehmenden Bindungskraft, den Dienst, das Engagement, aufrechterhalten, ja neu aufstellen, das ist nicht leicht. Ich weiß, dies muss dringend erfolgen, Gott und den Menschen zuliebe. Daher kommt meine Sehnsucht nach einem adventlichen Blick auf die offene Zukunft Gottes.

Einem Blick, wie ich ihn in einem Bild von Goya mehr und mehr wahrnehme, dass ich im Herbst in der aktuellen Ausstellung in Basel gesehen habe, dessen Wirkung sich aber erst jetzt in diesen Tagen vor Weihnachten entfaltet.

Goya, Verkündigung, 1785

Auf einem riesigen Altarbild von 1785 kniet eine Frau ganz ruhig und selbstbewusst und liest in einer Schriftrolle. Ein großer überdimensionaler Engel steht rechts neben ihr, der eine Flügel reicht weit über ihren Kopf hinaus, seine rechte Hand ergreift fast ihre Haare, die linke zeigt auf den offenen Himmel mit seinen hereinbrechenden Strahlen und einer schwebenden Taube. Eine spannende, fast bedrängende Situation, diese Beauftragung der Maria durch die himmlische Botschaft des Gabriel.

So wie Maria ganz ruhig bleiben können, wenn die göttlichen Anforderungen über einen hineinbrechen, das wünsche ich mir. Die Botschaft sehr genau hören, sie in der Schrift nachprüfen, mit ruhiger Hand über die Zeilen gleiten, den Kopf gebeugt, in einer fast heiteren Gelassenheit, unaufgeregt und zugleich hoch konzentriert, so kann eine treue Haushalterschaft über Gottes Geheimnisse gelebt werden. Es ist mein Bild für das menschliche Dasein überhaupt. Ich sehe hier die junge Frau, gut ausgebildet, mit eigener Persönlichkeit, wie sie auf dem Weg ist, eine Anforderung des Lebens als göttlichen Auftrag zu deuten. Der Engel weist sie zur Tür, hinaus in den Alltag, in ihre Zeit, an ihren Ort.

Schon steht da der von einem weißen Tuch noch verborgene Inhalt ihres Nähkorbes, als Zeichen, wie sie schon im Dienst Christi unterwegs ist. Der Nähkorb steht für mich nicht nur für die werdende Kindesmutter, sondern auch für den Werkzeugkasten, den Arztkoffer, die Talartasche, mit der Menschen in den Dienst genommen werden. Und auch für den Brotkorb, um anderen zu helfen mit den täglichen Dingen des Überlebens.

Die weiße Lilie, als Symbol ihrer Jungfräulichkeit, sie weist für mich auf das offene, reine Herz, das auch mitten im Leben eine neue Anforderung als Auftrag Gottes erkennt und sich ansprechen lässt. Das kann eine neue Herausforderung sein, eine andere Rolle als bisher, die wiederum ein neues Aufbrechen bedeutet, wo wir dazulernen, wo Gott uns zu Neuem führt und weiterentwickelt. Offenbar wird das auch für Krisen gelten, in gegenwärtigen Zeiten der Bedrohung wie für nötige Weichenstellungen und Transformationen.

Daher möchte man sich auch in diesen wärmenden und schützenden Umhang einkuscheln und bergen, in dieses gewaltige Tuch im königlichen und priesterlichen Blau, das in seiner Fülle über die Stufen des Altars reicht und bis in den Alltag weist, um darin beschützt den Anforderungen der Zeit zu begegnen. Mit allen Sinnen, mit dem ganzen Verstand, und beides gehalten im Geist des Wortes Gottes, immer wieder entscheiden und handeln, auf Zeit, mit himmlischer Kraft die eigenen Kräfte entfalten lassen und sehen, ob sie Frucht bringen, jetzt und einst, im göttlichen Licht.

Der Engel selber, in seiner menschlichen Größe und himmlischen Schönheit, er taucht bei uns auch in den Übergängen auf, nicht nur in jungen Jahren. Er will uns mitnehmen in die nächste Stufe des Daseins. Manchmal können Menschen mit einem Engel in den Händen getroster sterben, hinübergehen in die Welt Gottes. Als Angehörige oder Freunde sollten wir ihnen ihren eigenen Engel gönnen, ihnen den Weg mit Gott nicht vorschreiben oder beurteilen. Menschliches Dasein ist wohl immer so etwas wie ein adventlicher Raum, wo Gott selber etwas anbahnt, in und mit uns, was erst noch zum Ziel kommen muss, wo er mit seinen Strahlen, seinem Geist, seinen Engeln wirkt.

Diese von Goya in eine junge Frau hineingelegte Haltung eröffnet uns, so glaube ich, einen adventlichen Zugang zu der Botschaft des Paulus, die Zeit offen zu halten für die Ankunft des Herrn. Jedenfalls kann ich mir gut vorstellen, so wach, offen, gefestigt, prüfend, abwägend und annehmend auf die Herausforderungen meines Lebens zu reagieren. Nicht abhängig zu sein vom Lob und Tadel der anderen, frei von kurzschlüssigen Festlegungen und ohne mich ständig selber zu richten, also offen zu bleiben für die Beauftragungen und Beurteilungen Gottes im Laufe des ganzen Lebens.

Ich möchte aufrufen, hinein in die Familien, die Gemeinden, in die ganze Welt: Lasst uns wieder neu beginnen, in einer adventlichen Zeit zu leben, sich mit hineinnehmen lassen in die Geheimnisse Gottes, in diesen offenen Raum der Entfaltung, wie Maria, wie andere Menschen vor uns. Paulus verkündet, die Zeit offenzuhalten bis zum Kommen des Herrn, also hoffnungsvoll und zuversichtlich in die Zeit gehen. Versuchen, das Seine zu tun, mit den Gaben, die man hat, ohne schon auf den Lohn zu schielen, ohne Angst, etwas falsch zu machen, sich einsetzen, nie nachzulassen, präsent bleiben ein Leben lang.

So entfaltet sich Gottes Werk, wie in dem kleinen Kind, das da in einer Krippe zur Welt kommt, in dem sich der Heiland der Welt verbirgt. Auch zu uns kommen immer wieder Engel, um uns in den Dienst zu nehmen. All das will sich bei uns einstellen, über den Advent zu Weihnachten und in ein neues Jahr. Dazu leite uns Gottes Wort und helfe uns dieses schöne Bild von der Verkündigung. Der Advent ist eine geheimnisvolle Zeit.

 

Pastor Ralf Reuter

Göttingen

E-Mail: Ralf.Reuter@evlka.de

Ralf Reuter, Pastor an der Friedenskirche Göttingen und zugleich Pastor für Führungskräfte der Wirtschaft in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers

Quellen- und Literaturangaben sowie persönliche Bezüge:

Gudrun Maurer: Die religiöse Malerei, in: Martin Schwander für die Fondation Beyeler (Hg.): Goya. Katalog in deutscher Sprache, Beyeler Museum 2021, S. 108-117, darin besonders: S. 108, Verkündigung (Annuciación), 1785, Öl auf Leinwand, 280 x 177 cm, Privatsammlung Spanien, ein von Goya für den Altar der Kapelle des Kapuzinerklosters San Antonio in Madrid geschaffenes Werk.

Bildquelle: https://es.wikipedia.org/wiki/Archivo:La_Anunciaci%C3%B3n_por_Francisco_de_Goya.jpg

Die Bibel, nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017

Wolfgang Schrage: Der erste Brief an die Korinther, 1. Teilband, S. 318ff., in: EKK zum Neuen Testament, Band VII/1, 1991

Paulus Handbuch, hg. von Friedrich W. Horn, 2013

Hanna Stettler: Heiligung bei Paulus, 2014

Jörg Lauster: Der Heilige Geist, Eine Biographie, 2021

Zu Lauster siehe besonders Tafel II, Bild 1. Das bei ihm abgedruckte Bild „Verkündigung der Geburt Jesu“, ebenfalls von 1785, stellt eine Vorstufe (siehe dazu Maurer, Die religiöse Malerei, S.110f.) dar, wo er noch traditioneller unterwegs ist, mit Putten und Gottvater im Bild. Maurer stellt dagegen in unserem verwendeten Bild „Verkündigung“ die Weiterentwicklung Goyas zu einer Natürlichkeit der von ihm gemalten religiösen Akteure heraus, die sehr menschlich wirkt, fast gegenwärtig, aus dem realen Leben. Lauster bringt nur die Vorform zum Abdruck. Die von mir dagegen benutzte und abgedruckte spätere Entwicklung, wie sie in der aktuelle Goya-Ausstellung hängt, ist wohl deshalb unbekannter, weil sie zu einer Privatsammlung gehört und kein ständig zugängliches Bild in einem Museum ist wie die bei Lauster abgedruckte Vorform.

Ich finde die „Verkündigung“ jedenfalls sehr faszinierend, meine Konfirmanden, denen ich das Bild zeigte, erkannten gleich eine junge Frau darin, die liest, und konnten sich sogar mit ihr identifizieren. Einige der Formulierungen über die junge Frau (heitere Gelassenheit u.a.) habe ich aus ihren Äußerungen in der Predigt übernommen. Über den direkten Bezug, sich selber im Bild zu erkennen, folgte dann der zweite Blick, darin die Maria und ihre Verkündigung zu sehen, um dann in einem dritten Schritt mit erstem lebensnahem Eindruck und zweitem biblischem Bezug (mit der Deutung des Korbes, der Lilie, des Umhangs usw) beim dritten Eindruck wieder in der Gegenwart zu sein, der dann mitgenommen wird und den „Ertrag“ darstellt. In diesen Bilderkennungsprozess hinein wird von mir der Bibeltext eingespielt, mit dem ich beginne, ihn mitlaufen lasse und mit ihm auch ende, den ich hier durch das Goya-Bild bewusst in einen adventlichen und existentiellen Kontext gestellt habe. Ich hoffe, den Paulustext (oder das, was ich in ihm für mich erkannt habe) auch für andere lebensnah auszulegen bzw. die Hörenden anrege, dies während der Predigt für sich zu tun.

Beim Vorlauf zu dieser Veröffentlichung in der Predigt am 2. Advent in der Friedenskirche Göttingen habe ich das Goya-Bild vorher mit einem Farbkopierer gedruckt und auf die Stühle gelegt. Alle Bilder sind anschließend von den Teilnehmenden mitgenommen worden, auch die überschüssigen.

Lieder habe ich traditionell gewählt, begonnen mit EG 1, dann natürlich EG 10, auch EG 16 und zum Schluss EG 18, und sie allesamt wegen des Pandemiegeschehens von der Empore singen lassen.

 

de_DEDeutsch