Predigt zu Dtn 34,1-8

Predigt zu Dtn 34,1-8

Mit dem Tod anderer muss man leben | Ewigkeitssonntag | 21.11.2021 | Dtn 34,1-8 | verfasst von Nadja Papis |

Bedenkt: Den eigenen Tod, den stirbt man nur,

Doch mit dem Tod anderer muss man leben.

(Mascha Kaléko; Memento; aus: Verse für Zeitgenossen, Rowohlt Verlag 1980)

Erinnern Sie sich noch?

An den Moment am offenen Grab? An den Abschied zuhause, im Spital oder Heim?

Erinnern Sie sich noch an das Gefühl der Trennung, verursacht durch den Tod?

Und an die erste Zeit – Karten kamen an, Besuch war da, Nachbarn und Freundinnen riefen an. Die Familie traf sich, um alles zu besprechen.

Und dann…

Dann sind die Blumen auf dem Grab verblüht. Die Gedenkkerzen sind runtergebrannt. Immer weniger Menschen haben nachgefragt, wie’s so geht.

Das Leben geht weiter.

Ja, das Leben geht weiter.

Manchmal zum Glück!

Manchmal erbarmungslos.

Im Abschied von einem lieben Menschen ist es, wie wenn die Zeit einen Moment stehen bleibt.

Von solch einem Moment erzählt auch der heutige Predigttext aus dem Buch Deuteronomium.

Dtn 34,1-8 aus der Zürcher Bibel (leicht gekürzt)

Und Mose stieg aus der Wüste von Moab auf den Berg Nebro. Und Gott liess ihn das ganze Land sehen und sprach zu ihm: Dies ist das Land, dass ich Abraham und Sarah, Isaak und Rebekka, Jakob und seiner Familie versprochen habe. Deinen Nachkommen will ich es geben. Ich habe es dich mit deinen Augen schauen lassen, aber du wirst nicht dort hinüberziehen. Und Mose, der Diener Gottes, starb dort im Land Moab nach dem Befehl Gottes. Und er begrub ihn im Tal, bis heute kennt niemand sein Grab. Mose aber war 120 Jahre alt, als er starb, seine Augen waren trübe geworden, seine Frische hatte ihn verlassen. Und die Israeliten und Israelitinnen beweinten Mose in den Steppen Moabs dreissig Tage lang, dann waren die Tage des Weinens und Trauerns um Mose zu Ende.

Hm, als Mose starb, war er alleine – alleine mit dem Göttlichen. Ein langer Weg liegt hinter ihm: Aus Ägypten durch die Wüste hat er sein Volk geführt, ging voraus, weckte Hoffnung, wenn’s schwierig wurde und sorgte für alle. Nun steht er kurz vor dem Übergang in das versprochene Land.

Aber er wird nicht mitgehen. Er wird nicht dabei sein, wenn sein Volk in die Zukunft aufbricht.

Sterbende dürfen zwar noch einen Blick auf das werfen, was kommt, aber sie werden nicht mehr dabei sein. Für die einen ist das schmerzhaft. Sie hätten gerne noch den Enkel aufwachsen sehen oder schlicht und einfach noch mehr Zeit gehabt mit ihren Liebsten. Für andere ist es eine Erleichterung, nicht mehr mitgehen zu müssen, weil es zu beschwerlich wäre.

Im Tod, am Grab gehen die Wege auseinander. Die Zukunft ist ein Land, in das die Sterbenden nicht mitkommen dürfen. Das tut weh, nicht nur ihnen, auch denen, die ohne sie weiterziehen müssen. Sie gehen andere Wege, die uns Lebenden verwehrt sind. Am Grab trennen wir uns.

Wie so oft beschreibt die Bibel das sehr realistisch: 30 Tage lang haben sie geweint um Mose und getrauert, dann sind sie aufgebrochen und weitergezogen. Der Tod bringt einen Ausnahmezustand mit sich, manchmal schon vor dem Sterben in der Begleitung der Kranken, manchmal auch erst nachher, wenn der Tod plötzlich ins Leben eingebrochen ist. 30 Tage Weinen und Trauern und dann kehrt das Leben zurück und fordert unsere Aufmerksamkeit. Wir müssen aufbrechen und uns der grossen Arbeit in der Trauer stellen: der Aufgabe, das Leben ohne den Verstorbenen zu leben, die Zukunft ohne sie zu gestalten.

Vielen Trauernden fällt das schwer, besonders denen, die ihr alltägliches Leben neu gestalten müssen. Jahrelang sass am Küchentisch gegenüber jemand, nun ist der Stuhl leer. Jahrelang fand die Hand im Bett nebendran menschliche Wärme, nun ist es dort kalt. Auf Schritt und Tritt fehlt dieser Mensch. Jahrelang konnte ich einfach diese Telefonnummer wählen, nun müsste ich sie aus dem Verzeichnis löschen. Lebenslang war die Mutter oder der Vater Anlaufstelle für Sorgen und Freuden, der Bruder oder die Schwester Verbündete in gemeinsamen Erinnerungen. Nun bin nur noch ich da.

Ein Neuanfang…

Ein neues Leben…

Das anzunehmen und zu gestalten, braucht sehr viel Zeit und Kraft.

Lasse ich den leeren Stuhl als Ort des Gedenkens stehen oder räume ich alles um? Setze ich mich am Ende sogar auf den leeren Stuhl und kehre meine Blickrichtung? Nehme ich die Kälte auf der anderen Betthälfte als Möglichkeit, meinen Tränen freien Lauf zu lassen, oder besorge ich mir eine Heizdecke? Wer es erlebt hat, weiss, wie nahrhaft all diese Fragen sind und erst recht die Entscheidungen. Wer es erlebt hat, weiss auch, dass es manchmal ungewöhnliche Lösungen sind, auf die uns die Trauer bringt. Lösungen hin zu einem neuen Leben. Ja, das ist die Herausforderung: ein neues Leben, eines, das ich nicht gewählt und mir nicht gewünscht habe, nicht einmal, wenn der Tod eine Erleichterung war. Gewohnheiten, Aufgaben, Geborgenheit und Sicherheit, der Tod hinterlässt viele Fragen. Und wir müssen sie beantworten, wenn wir wieder lebendig werden möchten.

Sie alle haben diesen Neuanfang bereits hinter sich, sie haben sich auf den Weg gemacht. Es sind ganz unterschiedliche Wege und doch haben sie genug Gemeinsames, um sich verbunden zu fühlen. Wer es erlebt hat, weiss… Anfangs braucht jeder kleine Schritt Überwindung und Energie. Irgendwann ist der Alltag wieder mehr oder weniger eingerichtet. Momente der Trauer und der Sehnsucht gibt es immer wieder, natürlich, auch nach Jahren noch. Aber wir Menschen sind lebensfähig und lernfähig, sogar in der Trauer. Diese Gabe haben wir geschenkt bekommen. Wir können den Schmerz ausleben, Tränen weinen, Wut herausschreien, Leere aushalten und der Verzweiflung unseren pochenden Herzschlag entgegensetzen. Und trainieren… Ja, wir können es trainieren, ohne diesen Menschen zu leben, nicht einfach dahin zu vegetieren, sondern das Leben zu geniessen und zu feiern. Denn nach dem Einrichten des Alltags sind das oft die schmerzhaftesten Zeiten in der Trauer: Geburtstage, Weihnachten, Hochzeiten, Ferien…

Zeit und Kraft braucht es und das Vertrauen daran, dass es einen Weg gibt. Woher aber kommt die Kraft? Woher kommt das Vertrauen?

Mose stirbt alleine – und doch nicht. Er stirbt in der Gegenwart des Göttlichen. Und vorher verabschiedet er sich von seinem Volk und segnet all diese Menschen, die in die Zukunft aufbrechen werden.

Er kann nicht mehr für sie schauen und sorgen. Aber er spricht ihnen zu: Ihr seid gesegnet. Wo auch immer dich dein Weg hinführt, was auch immer auf dich zukommt: Du bist behütet.

Wenn uns der Tod erschüttert, brauchen wir keine guten Ratschläge, sondern das Gefühl, aufgehoben zu sein, obwohl unsere Welt auseinanderfällt. Menschen, die dich sehen und genau wissen, wie es ist. Sie werden nicht viel sagen, sondern einfach da sein und dir damit zeigen: Du kannst das überleben. Genauso spricht mein Glaube zu mir: vertrau! Vertrau auf die Kraft, die einfach da ist, in dir, in deinem Atmen, in deinem Herzschlag. Schau auf das Licht, das noch in die grösste Dunkelheit scheint. Jede Kerzenflamme steht dafür. Hör die Melodie, die auch die Leere durchdringen kann. Das alles ist nicht, was der Kopf begreift, es berührt uns viel tiefer wie eine Segensgeste, eine feine Berührung, die flüstert: Komm, mach dich auf, es gibt einen Weg!

Dort am offenen Grab haben sich die Wege getrennt. Erinnern Sie sich noch?

Wir sind weitergegangen, die Verstorben sind dort unterwegs, wohin wir nicht – noch nicht – mitgehen können. Verbunden sind wir im Behütet-Sein, im Aufgehoben-Sein, in der ewigen Liebe.

Bedenkt: Den eigenen Tod, den stirbt man nur,

Doch mit dem Tod anderer muss man leben.

Amen

Pfrn. Nadja Papis

Langnau am Albis

nadja.papis@refsihltal.ch

Nadja Papis, geb. 1975, Pfarrerin in der ev.-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich/Schweiz. Seit 2003 tätig im Gemeindepfarramt der Kirchgemeinde Sihltal.

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