Predigt zu Ezechiel 37,1–14

Home / Bibel / Altes Testament / 26) Ezechiel / Ezekiel / Predigt zu Ezechiel 37,1–14
Predigt zu Ezechiel 37,1–14

„Der Geist schafft Leben“ | Pfingstmontag | 24.05.2021 | Predigt zu Hesekiel / Ez 37,1–14 | verfasst von Frank Jehle |

Ezechiel 37,1–4:

«Die Hand des HERRN war auf mir, und durch den Geist des HERRN führte er mich hinaus, und mitten in der Ebene liess er mich nieder, und diese war voller Gebeine.

Und er führte mich an ihnen vorbei, rings um sie herum, und sieh, in der Ebene waren sehr viele, und sieh, sie waren völlig vertrocknet.

Und er sprach zu mir: Du Mensch, werden diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: Herr, HERR, du weisst es.

Und er sprach zu mir: Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr vertrockneten Gebeine, hört das Wort des HERRN!

So spricht Gott der HERR, zu diesen Gebeinen: Seht, ich lasse Geist in euch kommen, und ihr werdet leben.

Und ich gebe euch Sehnen und lasse Fleisch wachsen an euch, und ich überziehe euch mit Haut und lege Geist in euch, und ihr werdet leben, und ihr werdet erkennen, dass ich der HERR bin.

Und ich weissagte, wie es mir geboten worden war, und als ich geweissagt hatte, war da ein Lärmen, und sieh, ein Beben, und Gebeine rückten aneinander, eines an das andere.

Und ich schaute hin, und sieh, auf ihnen waren Sehnen, und Fleisch war gewachsen, und darüber zog er Haut, Geist aber war nicht in ihnen.

Und er sprach zu mir: Weissage über den Geist, weissage, Mensch, und sprich zum Geist: So spricht Gott der HERR: Geist, komm herbei von den vier Winden und hauche diese Getöteten an, damit sie leben.

Und ich weissagte, wie er es mir geboten hatte, und der Geist kam in sie, und sie wurden lebendig und stellten sich auf ihre Füsse, ein sehr, sehr grosses Heer.

Und er sprach zu mir: Du Mensch, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel! Sieh, sie sagen: Unsere Gebeine sind vertrocknet, und unsere Hoffnung ist dahin. Wir sind abgeschnitten!

Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Seht, ich öffne eure Gräber, und ich lasse euch, mein Volk, aus euren Gräbern steigen und bringe euch auf Israels Boden.

Und ihr werdet erkennen, dass ich der HERR bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern steigen lasse.

Und ich werde meinen Geist in euch legen, und ihr werdet leben, und ich werde euch auf euren Boden bringen, und ihr werdet erkennen, dass ich der HERR bin. Ich habe gesprochen, und ich werde es tun! Spruch des HERRN.»

Liebe Gemeinde!

Verzeihen Sie, ich beginne mit etwas, von dem einige von Ihnen wohl sagen: «Das hat Pfarrer Jehle schon oft gesagt.» Aber ich wiederhole mich gern, weil es mich wichtig dünkt, sogar sehr wichtig. Es geht um Folgendes: Immer wieder höre ich Stimmen, die das Alte Testament in der Bibel abschaffen möchten. Das Alte Testament sei doch viel zu grausam, und es sei eh veraltet. Manche sagen auch, es sei viel zu schwierig.

Ich sehe es anders. Ohne das Alte Testament als Teil der christlichen Bibel würde uns etwas fehlen, auf das ich nicht verzichten möchte.

Wo zum Beispiel finden wir so uns Halt gebende Verse wie in Psalm 23:

«Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,

fürchte ich kein Unglück.» (Ps 23,4)

 

Ist das nicht Nahrung für die Seele?

 

Oder ich denke an die Verse im Buch Jesaja, mit denen ich vor einiger Zeit meinen Hiobzyklus abgeschlossen habe:

«Fürchte dich nicht,

denn ich habe dich erlöst,

ich habe dich bei deinem Namen gerufen,

du gehörst zu mir.» (Jes 43,1)[2]

 

Wer möchte auf dieses vom Propheten Gott in den Mund gelegte Wort verzichten?

Oder auch auf das andere:

 

«Hört mir zu, ihr vom Hause Jakob

und alle, die ihr noch übrig seid vom Hause Israel,

die ihr von mir getragen werdet von Mutterleibe an

und vom Mutterschosse an mir aufgeladen seid:

Auch bis in euer Alter bin ich derselbe,

und ich will euch tragen, bis ihr grau werdet.

Ich habe es getan;

ich will heben und tragen und erretten.» (Jes 46,3f., Lutherbibel)[3]

Dazu kommt: Im Alten Testament wimmelt es von eindrücklichen Bildern, die uns helfen, den jüdischen und christlichen Glauben bleibend in Worte zu fassen, etwa (ebenfalls im Buch Jesaja) die überschwängliche Vision von Gottes neuer Welt, auf die wir hoffen dürfen:

«Und der Wolf wird beim Lamm weilen,

und die Raubkatze wird beim Zicklein liegen.

Und Kalb, junger Löwe und Mastvieh sind beieinander,

und ein junger Knabe leitet sie.

Und Kuh und Bärin werden weiden,

und ihre Jungen werden beieinander liegen,

und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind.

Und der Säugling wird sich vergnügen an der Höhle der Viper,

und zur Höhle der Otter streckt ein Kleinkind die Hand aus.» (Jes 11,6–8)

Eine wunderbare Szene, besonders die beiden Einzelheiten: Ein kleiner Bub leitet einen Löwen, und ein Säugling spielt vor der Höhle einer Giftschlange, ohne dass die Mutter Angst haben muss! Ein Bild des vollkommenen Friedens! Wenn wir unseren Glauben und unsere Hoffnung in Worte fassen wollen, sind derartige alttestamentliche Bilder hilfreich.

Und noch ein weiteres Beispiel:

In der Geschichte vom Paradies in 1. Mose 2 wird von der Erschaffung des Menschen erzählt, ebenfalls in einer Bildersprache:

«Da bildete der HERR, Gott, den Menschen aus Staub vom Erdboden und blies Lebensatem in seine Nase.» (Gen 2,7)

Ein unter die Haut gehendes Bild: Der Mensch – d. h. wir alle – ein Stück Erdboden – vielleicht kann man auch sagen: ein Klumpen Lehm –, geformt von einem Töpfer, der sein Kunsthandwerk versteht und das von ihm Geformte mit Lebensatem beseelt, den Lebensatem einhaucht wie ein Sanitäter bei einer Mund-zu-Mund-Beatmung.

Im Buch der Psalmen wird als Parallele dazu ausgeführt:

«Verbirgst du [Gott] dein Angesicht, erschrecken sie,

nimmst du ihren Atem weg, kommen sie um

und werden wieder zu Staub.

Sendest du deinen Atem aus, werden sie erschaffen.» (Ps 104,29f.)

So sind wir Menschen: Ohne den göttlichen Atem weiter nichts als eine Handvoll Erde, Atome und Moleküle, die im Nu zerfallen. Aber der Geist schafft Leben.

Liebe Gemeinde, und damit sind wir beim Abschnitt aus dem Buch Ezechiel, den wir als Schriftlesung hörten. Er ist eine der grossartigsten Visionen im Alten Testament und überhaupt in der Religionsgeschichte, ein schier atemberaubendes Hoffnungsbild, auf das ich nun wirklich nicht verzichten möchte.

Genau genommen sind es zwei Bilder: Zuerst sehen wir eine grosse Ebene mit schlohweissen menschlichen Knochen übersät. Und dazu der interpretierende Satz:

«Unsere Gebeine sind vertrocknet, und unsere Hoffnung ist dahin. Wir sind abgeschnitten!» (Ez 37,12b)

Und dann ein Gräberfeld! Das Doppelbild ist ein Ausdruck der völligen Hoffnungslosigkeit. Die Lage der deportierten Jüdinnen und Juden im babylonischen Exil ist damit beschrieben. Diese denken, dass sie absolut  keine Zukunftsperspektive hätten. Aber dann: Ein gewaltiges Brausen entsteht. Aus allen vier Windrichtungen kommt, wie es heisst, der «Geist». Und jetzt abermals als Doppelbild: Zuerst sieht der Prophet, wie die menschlichen Gebeine sich zusammenfügen, mit Fleisch und Haut überwachsen werden und zu neuem Leben erwachen. Und im zweiten Bild: Die Gräber öffnen sich. Die Begrabenen steigen heraus. Es geht darum, dass das Volk Israel eine neue Zukunft hat. Die Exilierten dürfen in die alte Heimat zurückkehren und dort neu anfangen, die Ruinen Jerusalems und vor allem den Tempel wieder aufbauen. Hören wir noch einmal den abschliessenden Vers, in welchem Gott sagt:

«Und ich werde meinen Geist in euch legen, und ihr werdet leben, und ich werde euch auf euren Boden bringen, und ihr werdet erkennen, dass ich der HERR bin. Ich habe gesprochen, und ich werde es tun! Spruch des HERRN.» (Ez 37,14)

Mag eine menschliche Lage noch so hoffnungs- und aussichtslos sein, sagt dieser Text, nicht aus eigener Kraft, aber dank dem Eingreifen Gottes wird, was in menschlicher Perspektive unmöglich erscheint – wie sollen ausgedörrte Gebeine wieder leben können? –, wieder möglich und auch wirklich. Die Schöpfung findet gewissermassen ein zweites Mal statt. Abermals übt ein Sanitäter Mund-zu-Mund-Beatmung. Ein Klumpen Lehm empfängt neuen Lebensatem. Der Geist schafft Leben.

Liebe Gemeinde! Seit alters hat man am christlichen Pfingstfest über diesen Text gepredigt. Denn wir haben hier ein eindrückliches Bild dafür, was in der ganzen Bibel – im Alten und im Neuen Testament – mit dem Ausdruck Heiliger Geist gemeint ist: Wo wir Menschen die Hoffnung aufgegeben haben, gibt es eine neue, eine göttliche Perspektive.

Ich denke, gerade für uns heute ist dies hilfreich. «Unsere Gebeine sind vertrocknet, und unsere Hoffnung ist dahin. Wir sind abgeschnitten!» (Ez 37,12b) Wie oft hört man auch heute solche resignierte Sätze. Dazu möchte ich zuerst sagen: Oft wird mit negativer Stimmungsmache doch wohl übertrieben. In Weltuntergangsstimmung wird gemacht, besonders in den Medien. Und das lähmt. Ich will jetzt nicht auf aktuelle Beispiele eingehen, sowohl im politischen (man denke an den Streit im Zusammenhang mit der Coronapandemie) als auch im privaten und besonders im kirchlichen Bereich. Nur ganz kurz zum letzten: Wie oft müssen wir hören oder lesen, dass es mit dem Christentum besonders in Europa definitiv vorbei sei. Das Klischee von den «leeren Kirchen» wird wie ein Mantra wiederholt. Dabei immerhin: Heute Morgen sind wir hier, und viele sind via Livestream zugeschaltet!

Pfingsten als das Fest des Heiligen Geistes sagt uns: Gebt die Hoffnung doch nicht auf! Der göttliche Geist kann auch dem scheinbar oder wirklich Toten neues Leben einhauchen, und er tut es! Da ich als Pensionierter nicht mehr oft selber predige, habe ich die Gelegenheit, immer wieder andere Gottes-dienste zu besuchen und die Predigt von Kolleginnen und Kollegen zu hören. Und gerade in den letzten Monaten haben meine Frau und ich viel Erfreuliches erlebt: Unsere Kirchen sind nicht immer «leer», und oft konnten wir nach einem Gottesdienst nach Hause gehen im Bewusstsein: Die Kirche lebt. Es ist gut, dass es sie gibt. Sie leistet einen wichtigen Beitrag an die ganze Gesellschaft. Es gibt viele Menschen, die sich auch heute zum Christentum bekennen und nicht nur in den Kirchgemeinden, sondern weit darüber hinaus ihre Beiträge dazu erbringen, dass es in der Welt ein wenig menschlicher – und d. h. liebevoller – zu und her geht.

Gewiss, diese Menschen, zu denen auch ich mich zählen möchte, sind nicht vollkommen. Fehler kommen vor, und zwar bei allen – auch bei Ihnen und bei mir. Verbesserungen sind an vielen Stellen nötig. Altes, nicht mehr Sinnvolles muss abgeschnitten werden. Neues muss man wagen. Aber ausgedörrte Gebeine sind wir nicht. Und dass es so ist, kommt von Gott, der neuen Lebensatem einhaucht.

Damit bin ich fast am Schluss. Lassen Sie mich Verse aus dem Lied lesen, das später in diesem Gottesdienst auch gesungen werden soll: «We shall overcome.»[4] Ich habe das Lieblingslied des amerikanischen Bürgerrechtskämpfers Martin Luther King gewählt, weil es so bejahend und zuversichtlich ist. Das Negative hat nicht das letzte Wort. Der Geist schafft Leben.

Zuerst etwas unbeholfen auf Deutsch:

 

Eines Tages werden wir gesiegt haben.

O tief in meinem Herzen glaube ich daran:

Eines Tages werden wir gesiegt haben.

 

Eines Tages wird der Herr uns hindurchbegleiten.

O tief in meinem Herzen glaube ich daran:

Eines Tages wird der Herr uns hindurchbegleiten.

 

Wir fürchten uns jetzt nicht.

O tief in meinem Herzen glaube ich daran:

Wir fürchten uns jetzt nicht.

 

Und jetzt in der Originalfassung:

 

We shall overcome,

We shall overcome,

We shall overcome, some day.

 

Oh, deep in my heart,

I do believe

We shall overcome, some day.

 

The Lord will see us through,

the Lord will see us through,

the Lord will see us through some day.

 

Oh, deep

in my heart, I do believe,

the Lord will see us through, some day.

 

We are not afraid,

we are not afraid,

we are not afraid today.

 

Oh, deep in my heart,

I do believe,

we are not afraid today.

 

Damit wünsche ich allen von Herzen einen weiteren schönen Pfingstmontag 2021 und natürlich eine möglichst gute neue Woche. Amen.

Pfr. Dr. Frank Jehle

Universitätspfarrer emeritus

St. Gallen

Frank.Jehle@unisg.ch

 

Anmerkung: Predigt am Pfingstmontag 2021 in der Stadtkirche St. Laurenzen in St. Gallen. Wenn nicht anders angegeben, stammen die Bibeltexte aus der Zürcher Bibel.

[2] Vgl. Frank Jehle: Verkündigung ist kein Monolog. Kunst- und Themapredigten für heute. Zürich, TVZ, 2021, S. 193 und 196.

[3] Vgl. ebenda, S. 19.

[4] Vgl. Evangelisch-reformiertes Gesangbuch der deutschsprachigen Schweiz, Nr. 860,1–3.

de_DEDeutsch