Predigt zu Genesis 11,1-9

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Predigt zu Genesis 11,1-9

„Gottes Geist schenkt uns Verstehen“ |  Pfingstsonntag, 23.05.2021 | Gen 11, 1-9 | verfasst von Peter Schuchardt |

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Hl. Geistes sei mit euch allen!

Amen

Liebe Schwestern und Brüder,

wir feiern miteinander das Pfingstfest. Dieses Fest erzählt uns von einer tiefen Sehnsucht der Menschheit: Dass wir uns verstehen. Wir möchten es so gerne, einander verstehen. Und doch merken wir an so vielen Stellen und bei so vielen Gelegenheiten: Wir verstehen uns nicht. Das geht schon so beim Urlaub in einem fremden Land. Mit Englisch kommt man ja schon weit, aber was ist, wenn der andere, die andere nicht die Sprachen spricht, die ich kann und ich nicht die ihren? Und selbst, wenn man die gleiche Sprache spricht, heißt es noch lange nicht, dass man sich wirklich versteht. Paare reden aneinander vorbei. Eltern verstehen ihre Kinder, Kinder ihre Eltern nicht mehr. Es gehört also mehr dazu, als dieselben Worte zu benutzen und die Grammatik zu beherrschen. Und um dieses „mehr“ geht es heute.

Es gibt in der Bibel eine Geschichte, die uns vom Verstehen und Missverstehen erzählt: Die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Sie gehört mit zu den bekanntesten biblischen Erzählungen überhaupt. Ganz am Anfang der Bibel, im 1. Buch Mose steht sie. In diesen ersten Kapiteln der Bibel geht es darum, wer wir Menschen sind. Manche sagen „Urgeschichte“ zu diesen Kapiteln 1-11. Doch ich denke, sie erzählen viel mehr. Es geht um die Geschichte des Menschseins. Warum sind wir Menschen so, wie wir sind? Wir lesen auf den ersten Seiten der Bibel etwa von Adam und Eva, die nicht auf Gott hören. Oder von Kain, der voller Neid und Missgunst seinen Bruder Abel ermordet. Wir lesen von Gottes Trauer und Zorn über die Menschheit. Aber immer wieder lesen wir auch davon: Gott bewahrt und beschützt uns, seine Menschen, trotzdem.

In diese Geschichte des Menschseins gehört auch die Erzählung vom „Turmbau zu Babel“:

Damals hatten alle Menschen nur eine einzige Sprache – mit ein und denselben Wörtern. Sie brachen von Osten her auf und kamen zu einer Ebene im Land Schinar. Dort ließen sie sich nieder. Sie sagten zueinander: »Kommt! Lasst uns Lehmziegel formen und brennen!« Die Lehmziegel wollten sie als Bausteine verwenden und Asphalt als Mörtel. Dann sagten sie: »Los! Lasst uns eine Stadt mit einem Turm bauen! Seine Spitze soll in den Himmel ragen. Wir wollen uns einen Namen machen, damit wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen.«

Da kam der Herr vom Himmel herab. Er wollte sich die Stadt und den Turm ansehen, die die Menschen bauten. Der Herr sagte: »Sie sind ein einziges Volk und sprechen alle dieselbe Sprache. Und das ist erst der Anfang! In Zukunft wird man sie nicht mehr aufhalten können. Sie werden tun, was sie wollen. Auf! Lasst uns hinabsteigen und ihre Sprache durcheinanderbringen! Dann wird keiner mehr den anderen verstehen.« Der Herr zerstreute sie von dort über die ganze Erde. Da mussten sie es aufgeben, die Stadt weiterzubauen. Deswegen nennt man sie Babel, das heißt: Durcheinander. Denn dort hat der Herr die Sprache der Menschen durcheinandergebracht. Und von dort hat sie der Herr über die ganze Erde zerstreut. (Gen 11, 1-9 BasisBibel)

Diese Geschichte, liebe Schwestern und Brüder, beginnt mit einem großen Traum. Der Traum heißt: „Hier können wir für immer bleiben!“ Die Menschen wandern umher und finden einen Ort, an dem sie bleiben wollen. Die Wanderschaft, das Umherziehen, ist zu Ende. Nun beschließen die Menschen: Hier wollen wir bleiben. Hier werden wir gemeinsam eine Stadt und einen Turm errichten. Einen Turm, so hoch, wie es noch nie einen gab. Seine Spitze soll bis in den Himmel reichen. Eigentlich klingt das doch gut. Eigentlich klingt es nach menschlichem Erfindergeist, nach Selbstbewusstsein und danach, was man miteinander erreichen kann. Eigentlich … Doch nun taucht der wirkliche Grund für dieses Großprojekt auf: Wir wollen uns einen Namen machen, damit wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen. Der wirkliche Grund für den Turmbau ist Angst. Angst, nicht gesehen und gehört zu werden. Angst, eben nicht so groß und stark und mächtig zu sein, sondern verstreut und vereinzelt zu werden. Die ersten Kapitel der Bibel erzählen uns davon, wie wir Menschen sind. Sind wir so? Ich befürchte: Ja. Es steckt eine große Angst in uns Menschen, keinen Namen zu haben. Wir streben danach, eine großen, einen berühmten Namen zu haben, wohlmöglich einen, der die anderen erzittern, der sie uns bewundern lässt. Aus der Angst heraus, namenlos, unbedeutend zu sein, tun Menschen vieles und auch viel Schreckliches. Der Turmbau zu Babel ist ja zum Sinnbild geworden für menschliche Überheblichkeit und Scheitern. Ich denke an viele Diktatoren, die versucht haben, durch große Monumentalbauten sich solch einen Namen zu machen. Und doch wurden sie gestürzt.

Mir fallen zwei Dinge auf: zum einen wird kein Mensch mit Namen erwähnt. Es gibt hier nur ein „wir“. Dieses Wir ist wichtiger als das „ich“ und das „du“. Auch dahinter steckt für mich die Angst, verloren zu gehen. Aber hinter dieser Angst steckt auch eine große Gefahr. Denn wenn nur noch das „wir“ zählt, geht der einzelne Mensch unter. Du bist nicht mehr wichtig, nur noch wir. Und ein zweites: Bis jetzt wird in der Erzählung mit keinem Wort Gott erwähnt. Ja, die Menschen wollen bis in den Himmel bauen. Aber es ist dann ein selbstgemachter Himmel, ein Himmel, der keinen Raum mehr hat für en barmherzigen Gott, sondern nur noch für das große Wir. Aber dieses „Wir“ droht den Einzelnen zu erdrücken. Auch das ist ein Kennzeichen von Diktaturen, dass alles der “großen Idee“ untergeordnet wird, auch jede Kritik und jedes Nachfragen, jede Individualität.

Doch nun kommt Gott vom Himmel herab und guckt sich dieses Menschenwerk an. So groß ist es gar nicht, denn sonst hätte Gott es sich ja von seinem himmlischen Thron aus ansehen können. Aber Gott erkennt: Meine Menschen sind auf einem verkehrten Weg. Sie haben zwar eine einheitliche Sprache und können sich verstehen. Aber sie nutzen diese große Gabe völlig falsch. Und Gott hat Sorge: Nun werden die Menschen immer mehr von diesen Großprojekten starten, und damit werden sie sich immer mehr verlieren. Gott hatte seine Menschen die Schöpfung anvertraut, dass sie sie bebauen und bewahren. Doch nun wird die Schöpfung ausgebeutet, um menschliche Denkmäler zu bauen. Das ist ja etwas, was sich durch die ganze Geschichte bis heute zieht, liebe Schwestern und Brüder. Diese einheitliche Sprache wird nicht genutzt, um das zu tun, was Gott möchte, sondern um die Schöpfung auszubeuten und auszuschlachten. Und alles nur, um sich einen großen Namen zu manchen. Alles nur aus der Angst heraus, nicht gehört oder gesehen zu werden. Angst aber ist ein schlechter Baumeister, liebe Schwestern und Brüder. So verwirrt Gott in der Geschichte die eine Sprache. So kommt es, dass wir nun so viele verschiedene Sprachen sprechen. So sehr wir es heute bedauern mögen, die Bibel erzählt uns: Gott tut das, um die Menschen vor sich selbst zu schützen. Damit wir nicht zugrunde gehen an unseren Machbarkeits- und auch Einheitsfantasien. So endet die Geschichte: Turm und Stadt werden nicht weiter gebaut. Die Menschen haben sich keinen Namen gemacht. Und es tritt das ein, was sie am meisten befürchtet hatten: Nun werden sie über die ganze Erde zerstreut. Was bleibt, ist der Name der Stadt: Babel. Das hebräische Wort „balal“ klingt dort an, das heißt „Durcheinander“. Und so begleitet uns Menschen dieses Durcheinander bis heute. Gott setzt uns durch diese Sprachverwirrung eine Grenze, um uns vor uns selbst zu schützen.

Aber die Sehnsucht danach, einander zu verstehen, die bleibt. Vor 150 Jahren wurde die Kunstsprache Esperanto erfunden. Der Gedanke war: Durch eine gemeinsame Sprache werden Ausgrenzung und Rassismus vermieden, ja, sie sollte sogar helfen, den Weltfrieden herzustellen. So faszinierend der Gedanke auch ist, das Projekt ist letztlich gescheitert. Auf der ganzen Welt sprechen heute ungefähr eine Million Menschen Esperanto, das ist verschwindend wenig. Diese Kunstsprache ist dann doch nur eine Sprache von vielen anderen. Ich muss sie lernen, muss Vokabeln und Grammatik pauken – und ich muss dann auch noch jemanden treffen, der ebenfalls Esperanto spricht.

Gott schenkt uns zum Pfingstfest etwas, das unsere menschliche Begrenztheit übersteigt: Seinen Heiligen Geist! Und Gottes Geist ist zuallererst ein Geist der Liebe. Die Liebe achtet den anderen. Die Liebe zwingt nicht (1 Kor 13). Und Frucht und Angst sind nicht in der Liebe. (1 Joh 4). Mit diesem Geist baut Gott sein Reich, seine neue Welt unter uns. Nicht die Angst ist der Baumeister, sondern die Liebe.

Die Geschichte vom 1. Pfingstfest in Jerusalem, wie sie die Apostelgeschichte erzählt, ist eine Weitererzählung der Turmbaugeschichte. Denn hier verbindet der göttliche Geist die Menschen über alle Sprachgrenzen hinweg. Aber nun reden nicht alle eine neue Einheitssprache. Nein, jeder spricht weiter seine Sprache, aber versteht den anderen. Die Liebe schenkt das Verstehen. Gottes Liebe schenkt es, dass wir uns verstehen. Mit dem Pfingstfest schenkt Gott uns diesen Geist. Und nun wird die Menschheitssehnsucht endlich erfüllt. Wir können einander verstehen, weil Gott es uns schenkt.

Und immer wieder können wir den göttlichen Geist der Liebe spüren. Wir erleben: Mit einem Mal verstehen Menschen sich. Ehepaare, die zerstritten waren, finden wieder zueinander. Eltern und Kindern gelingt es, aufeinander zu hören und endlich zu kapieren, was der andere möchte. Und sogar Frieden wird möglich. Heute bitten wir besonders um Gottes Geist für den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Und wir spüren: Dieser Konflikt ist so tief, so schwer, dass es wirklich nur noch Gott ist, der dort helfen kann.

Ein wunderbares Beispiel, wie Gottes Geist wirkt, ist für mich die Bredstedter Tafel, die hier in unserer Kirche jeden Mittwochmorgen Lebensmittel ausgibt. Da kommen Männer und Frauen, Menschen aus Bredstedt, Menschen, die aus anderen Ländern zu uns geflüchtet sind. Und trotz aller Sprachbarrieren, die da sind, ist doch ein Grundverständnis da. Manchmal reden die Ehrenamtlichen mit Händen und Füßen, aber auch das geht.

Heute danken wir Gott für seinen Geist. Sein Geist ist liebevoll, er tröstet, er ermahnt uns, und er baut auf. Gottes Geist baut keine Türme, die in den Himmel ragen. Er baut Gemeinschaft und Miteinander zwischen uns. Er schenkt Versöhnung. Er schenkt Frieden. Er schenkt Leben.

Euch allen ein frohes und gesegnetes Pfingstfest!

Amen

Lieder:

EG 130 O Heilger Geist, kehr bei uns ein

EG 181.6 Laudate omnes gentes

Beiheft zum EG der Nordkirche „Himmel, Erde, Luft und Meer“ 83 Wo Menschen sich vergessen

Beiheft zum EG der Nordkirche „Himmel, Erde, Luft und Meer“ 78 In Christus gilt nicht Ost noch West

Fürbittgebet

Gott, Heiliger Geist,

komm zu uns.

Denn du kannst uns heilen und versöhnen.

Du schenkst es, dass wir uns verstehen.

Du Gott voller Barmherzigkeit,

wir bitten dich für deine Gemeinde,

hier und an allen Orten der Erde.

Erfülle uns.

Gib uns Mut, aufeinander zuzugehen und in anderem unseren Bruder, unsrer Schwester zu sehen.

Du Geist voller Trost,

wir bitten dich für alle, die traurig sind und niedergeschlagen,

die keinen Weg mehr für sich sehen.

Du Geist des Friedens,

wir bitten dich für die Länder, die von Krieg und Streit zerrissen sind.

Wir denken heute vor allem an Israel und Palästina.

Wir vertrauen darauf: du kannst die Herzen der Menschen berühren und ihr Denken verändern.

Du Geist der Wahrheit,

hilf uns, gegen alle Lügen und Unehrlichkeit standhaft anzugehen.

Lass uns vor allem an der Wahrheit deiner Liebe festhalten

Du Geist des Lebens,

wirke mit deiner Kraft überall dort, wo Menschen niedergemacht und ausgegrenzt werden.

Stärke alle, die sich schwach fühlen, die krank und vom Tod bedroht sind.

Gott, Heiliger Geist,

komm zu uns.

Zeige uns den Weg, der zu Christus führt, zur Wahrheit und zum Leben,

heute und in Ewigkeit.

Amen

Anmerkung:

Gute Anregungen fand ich bei

Gottfried Voigt, Die geliebte Welt, Homiletische Auslegung der Predigttexte. Neue Folge: Reihe III, Göttingen 1980

Michael Schäfer, Pfingstsonntag Gen 11, 1-9, in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, zur Predigtreihe 3, Berlin 2020

Pastor Peter Schuchardt

Bredstedt

E-Mail: peter.schuchardt@kirche-nf.de

Peter Schuchardt, geb. 1966, Pastor der Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche), seit 1998 Pastor an der St. Nikolai Kirche in Bredstedt/Nordfriesland (75%), seit 2001 zusätzlich Klinikseelsorger an der DIAKO NF/Riddorf (25%).

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