Predigt zu Genesis 11,1-9

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Predigt zu Genesis 11,1-9

„Erzwungene Einheit oder geschenkte Vielfalt“ | Pfingstsonntag, 23.05.2021 | Predigt zu Genesis 11,1–9 | verfasst von Thomas Bautz |

Liebe Gemeinde!

In der hebräischen Bibel gibt es Erzählungen, die für bestehende Gegebenheiten oder Zustände einen Grund, einen Ursprung oder eine Ursache angeben möchten. Sie kleiden ihr Anliegen oder Thema in ein mythologisches Gewand. Sie sind außerdem durch ihre Abgrenzung von benachbarten Religionen, Kulten und ihren Überlieferungen motiviert. Auf dieser Basis ist die Erzählung vom Bau einer Stadt mit einem besonders hohen Turm in Babel, verbunden mit dem Ansinnen der Bewahrung von Einheit der Sprache und Zusammenhalt der Gemeinschaft am gleichen Ort, zu verstehen.

Die alten Mythen wollen nichts erklären, sie rationalisieren nicht, aber sie erzählen Geschichten, die es einer Gemeinschaft ermöglichen, sich im Glauben und im Denken an etwas Plausibles halten zu können. Der Frage, wie es zur Vielfalt der Völker und Sprachen kommt, geht der Mythos in Genesis 11 nach, indem er nach einer Ursache für  die Völkervielfalt und damit auch die Vielzahl der Sprachen sucht,[1] die in Gen 10 schon vorausgesetzt werden. Die biblische Erzählung erwähnt zwei Bauprojekte: eine Stadt und eine Zitadelle; der Bau der Stadt bildet den Mittelpunkt. Die Bauvorhaben gelangen nicht ans Ziel; der Abbruch des Baues der Zitadelle wird zuletzt gar nicht mehr erwähnt.

Die Wortverbindung „Stadt und Zitadelle“ verweist auf eine ummauerte Stadt mit erhöhter, weithin sichtbarer Zitadelle. Das entspricht Bildern aus dem alten Vorderasien und aus Altägypten. In solch einer Zitadelle konnten Stadtpalast, Haupttempel und noch andere Gebäude liegen. Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der biblischen Erzählung sprechen immer wieder von einem „Turm“ im Sinne einer Ziqqurrat, doch ist damit im Hebräischen kein sakrales Gebäude gemeint,[2] es bezeichnet aber oft eine Zitadelle.

Seit der Antike gibt es zahlreiche Versuche, den sog. „Turm“ mit entsprechenden Überbleibseln, die er hinterlassen haben soll, zu identifizieren. Einige Zeit war die These akzeptiert, dass die Ziqqurrat (Stufenturm) von Babylon, „E-temen-an-ki“, der biblische Turm wäre.[3] Das sumerische Wort meint „Haus der Gründung von Himmel und Erde“, „dessen höchster Punkt 100 m über die Umgebung herausragte“.

„Das Bauwerk wurde Mitte des 7. Jh. (v.d.Z.) unter Nabu-polassar (1. König des neubabylonischen Reiches) restauriert; er redet vom Bau als vom ‚Haus, dessen Grundmauern im Schoß der Unterwelt und dessen Spitze in den Himmel ragen‘ (…).“[4] Im angrenzenden Gebiet gab es den wichtigen Tempel des Nebo (Nabu; babylonisch-assyrische Gottheit): sumerisch „e-ur-imin-an-ki“, „Haus der sieben Stufen Himmels und der Erde“, restauriert unter Nebu-kadnezzar II., doch nie vollendet.[5] Der Name des herausragenden neubabylonischen Königs (um 640–562 v.d.Z.) bedeutet: „Der Gott Nabu schütze meinen ersten Sohn“. Er regierte von 605 bis 562 und wurde berühmt für seine in den Königsinschriften betonte umfangreiche Bautätigkeit nach der offiziellen Thronbesteigung. Er errichtete Zikkurate, Paläste, Tempel und Befestigungsmauern in damals bekannten Städten wie auch in Babylon.

Angeblich wird die Ziqqurrat in Babylon, der „Turm zu Babel“, unter Nebu-kadnezzars Herrschaft errichtet, doch gibt es im Zweistromland (Mesopotamien) Dutzende solcher Tempel zu seiner Zeit. Solch ein babylonischer Tempelturm ist ein Ort der Begegnung zwischen Himmel und Erde, eine „Himmelspforte“: Der Gott, zu dessen Ehre der Tempelturm errichtet wurde, steigt in der Nacht auf den Turm hinab, um dort einige Zeit mit einer Priesterin zu verbringen. Ein Bericht des griechischen Historikers und Völkerkundlers Herodot (5. Jh. v.d.Z.), um 460 v.d.Z. in der Gegend, erwähnt diesen Kult; die Glaubwürdigkeit wird im 20. Jh. religionsgeschichtlich bestätigt. Allerdings beschreibt er ein Gebäude, das mit späteren Ausgrabungsfunden zur Identifizierung des biblischen Turms  außer dem Ortsnamen Babel/ Babylon nichts gemein hat.

Die in Babylon zum Ausdruck kommende Frömmigkeit, die Begegnung von Gottheit und Mensch, dieser sakrale Berührungspunkt auf der Spitze des Tempelturms, aus der Zitadelle inmitten der Stadt herausragend, ist dem Autor der Erzählung in Genesis 11 offensichtlich ein Dorn im Auge. Gehen wir davon aus, dass die Abfassung während des babylonischen Exils oder kurz danach erfolgt ist, sollten wir zum besseren Verständnis diese Zeit kurz beleuchten.

Ab 597 v.d.Z. wird ein großer Teil der Bevölkerung Judäas, vor allem Angehörige der Oberschicht –gemäß babylonischer Praxis nach Eroberungen – nach Babylon exiliert und dort angesiedelt. Es ist belegt, dass Namen von Hebräern aus der privilegierten Oberschicht in babylonischen Urkunden auftauchen. Das Leben im Exil gestaltet sich bei weitem nicht so negativ, wie biblische Überlieferung innerhalb der hebräischen Bibel es darstellt.

Aufgrund von Fehlinterpretationen und religiösen Interessen wird bis heute ein falsches Bild vom Exil gezeichnet. So sieht man im Psalm 137 die „Bevölkerung als Gefangene zur Sklavenarbeit gezwungen, am Tagesende an den Flüssen Babylons, weinend Zions gedenkend“. Das Exil wird als religiöse Strafe empfunden, doch de facto bestehen für die Juden in Babylon komfortable Lebensumstände. Genau wie andere, in Kolonien angesiedelte Juden können sie ohne Zwang Handel, Landwirtschaft und Häuserbau betreiben. Selbst Sklavenhaltung war erlaubt.

Die Verwaltung obliegt den Exilanten selbst. Belege über speziell den Juden auferlegte Fronarbeit gibt es nicht. Bekannt ist nur, dass die babylonische Bevölkerung generell in bestimmten Fällen zur kurzfristigen Fronarbeit gezwungen wurde, etwa um königliche Bauvorhaben durchzuführen. Im babylonischen Exil können die Juden ihre Traditionen und ihre religiöse Identität bewahren. Die in und um Babylon angesiedelten Juden assimilieren sich aber recht schnell.

So fand man in Schriftzeugnissen jüdische Namen, die belegen, dass Juden im Hofstaat und im Militär von Nebu-kadnezzar II. Karriere machen konnten. Es gibt Berichte über jüdische Bankiersdynastien. Auserwählte Exilanten erhalten eine Ausbildung für den babylonischen Staatsdienst. Die schnelle Assimilation und die damit verbundene Versuchung zur Annahme einer fremden Religion tragen aber dazu bei, dass in der hebräischen Bibel ein düsteres Bild vom babylonischen Exil gezeichnet wird.

Um zu verhindern, dass das genuin Jüdische vollkommen im Vielvölkergemisch Babylons untergeht, betonen die jüdischen Theologen und Gelehrten die Besonderheit des Judentums, insbesondere des jüdischen Glaubens. Mittelpunkt des Lebens werden die Tora und die religiöse Gelehrsamkeit. So gilt das babylonische Exil als eine der fruchtbarsten Zeiten der jüdischen Theologie. Vor dem Hintergrund, dass der heimatliche Tempel für das gemeinsame Gebet fehlt, entstehen die ersten Synagogen.

Das Bedürfnis und die behauptete Notwendigkeit zur Abgrenzung gegenüber fremden Religionen und Kulten hat die Interpretation der Erzählung in Gen 11 von Anfang an entscheidend geprägt.

Den wirklichen, insgesamt angenehmen Lebensumständen der Exilanten zum Trotz entwickelt sich innerhalb biblischer Überlieferungen eine starke Aversion, ja, Feindschaft gegenüber Babylon. Die Erzählung in Gen 11 fungiert als Spottrede auf Bestrebungen, politische und kulturelle Einheit um jeden Preis wahren zu wollen. Die Einheit soll gefestigt, gestärkt, garantiert werden, indem man sich einen Namen macht durch spektakuläre Bauvorhaben: eine riesige Stadt mit Zitadelle, mit bis zum Himmel reichenden Turm. Der Name symbolisiert das gemeinsame Ansehen, und die gigantischen Bauwerke, weithin sichtbar, repräsentieren die Volksgemeinschaft.

Der Erzähler weiß von der Vielzahl und Vielfalt der Völker und Sprachen: „das sind die Söhne Jafets in ihren Ländern, je nach ihrer Sprache, nach ihren Sippen, in ihren Völkerschaften“ (Gen 10,5). So wird es auch für die „Söhne Hams“ und für die „Söhne Sems“ ausgesagt (10,20.31); resümierend: „das sind die Sippen der Söhne Noahs nach ihrer Abstammung in ihren Völkerschaften, und von ihnen verzweigten sich die Völker auf der Erde nach der Sintflut“ (10,32). Die Sprachenvielfalt wird nicht mehr erwähnt. Die Existenz nur einer Sprache ist nicht im Blick, doch muss es dem Erzähler (in Gen 11) logisch erscheinen, das ein einziges, riesiges Volk mit diesen gigantischen Bauvorhaben nur mit einer Universalsprache einhergehen und bewältigt werden kann: ein gleichermaßen utopisches wie gefährliches Projekt. Dem begegnet die mythologische Erzählung mit Ironie und Spott (Gen 11,1.6a): „alle Erdbewohner hatten eine Sprache und einen Wortschatz“. „Schau an, ein einziges Volk und eine einzige Sprache für sie alle“ (…).

Eine Welteinheitssprache könnte eine grundlegende Voraussetzung zur Erlangung der Weltherrschaft sein. Sprache ist nicht nur Vehikel der Kommunikation, sondern auch Instrument der Manipulation. Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Herkunft würden in allen wichtigen Bereichen des öffentlichen Lebens nivelliert. Das Andere, das Fremde würde maßgeblich vereinheitlicht. Was einst verschieden war – Denken, Glauben, Wahrnehmen –, dies alles verschmilzt zu einem Konglomerat ungeahnten Ausmaßes. Die Existenz nur eines einzigen Volkes mit nur einer einzigen Sprache bleibt eine reine und dazu noch unerwünschte Utopie.

Es gibt eine mythologische Erzählung aus Sumer, die ein Goldenes Zeitalter mit einer einheitlichen Sprache heraufbeschwört; doch Enki, der Gott der Weisheit, der den Menschen freundlich gesinnt ist, verwirrt ihre Sprache.[6]

Dieser sumerische Mythos ist für das Verständnis von Gen 11 wichtig, weil dadurch deutlich wird, dass die Intervention der Gottheit keineswegs als Strafaktion, noch nicht einmal als Spott betrachtet werden muss. Im Wesentlichen will das mythische Denken dahin führen, zum einen, Gegebenheiten als solche anzuerkennen, zum anderen, Fähigkeiten innerhalb der natürlichen Grenzen zu sehen: Sprachenvielfalt ist dem Menschen von jeher vorgegeben; davor gibt es nichts, was für uns fassbar wäre. Künstliche Weltsprachen wie Esperanto haben sich als solche nicht durchsetzen können und sind auch nicht mit der „ursprünglich“ einen Sprache (in Gen 11) vergleichbar. Bauprojekte großen Stils und neue, großartige technische Errungenschaften sollen nicht zum Größenwahn verführen.

Versuchen wir, das eigentlich Mythische an dieser Erzählung zu befragen, um dem Bedeutungsgehalt näherzukommen. Offenbar bereitet eine Begegnung von Gottheit und Mensch, wie er im Falle des Tempelturms (Ziqqurrat) in Babylon als sakraler Berührungspunkt, als Ort der Begegnung zwischen Himmel und Erde möglich war, dem Erzähler Probleme. Vermutlich beurteilt er aus seiner Sicht die Zeit des Exils und entwickelt rückblickend eine negative Schau von der imperialen Macht Babylons, pars pro toto anhand der Stadt Babel.

Der Erzähler von Gen 11 lässt seinen Gott JHWH einmal hinabsteigen, um sich die Baumaßnahmen der Menschen anzuschauen, und um festzustellen, dass ihnen (als ein einziges Volk mit einer einzigen Sprache) „nichts von dem, das sie zu tun gedenken, unmöglich sein“ wird. Ein zweites Mal, um ihre Sprache zu verwirren, so dass einer des anderen Rede nicht mehr verstehe. Resultat des göttlichen Eingreifens ist Zerstreuung (der Menschen, des einzigen Volkes?) und Abbruch des Baues der Stadt.

Der Anthropomorphismus, dass JHWH extra hinabsteigt, um den Bau der Stadt mit Zitadelle (oder mit Turm) zu besichtigen, ist für das religiöse, kulturelle babylonische Umfeld nicht ungewöhnlich. Daher könnte dem Erzähler diese Vorstellung nicht direkt als literarisches Mittel der Ironie oder gar des Spottes dienen, etwa nach dem Motto: So winzig wirkt das gigantische Bauprojekt in den Augen JHWHs, dass dieser hinabsteigen muss, um das Menschenwerk überhaupt zu sehen. Doch will sich der Erzähler abgrenzen und schlägt eben doch einen „ironischen, ja humoristischen Unterton“ an, um menschliches Unterfangen wie göttliches Reagieren als Karikaturen darzustellen.[7]

Lediglich die Sprachverwirrung oder –vermengung und die Zerstreuung in Folge als Bestätigung des ohnehin Gegebenen, nämlich Vielzahl und Vielfalt der Völker (und Sprachen), zeigen, dass die Motive und Pläne der Menschen von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. Vom Schluss der Erzählung her betrachtet, entlarvt der Mythos Bestrebungen der Vereinheitlichung als Illusionen; verdeutlicht, dass die Vielzahl der Sprachen nicht auf eine Einheitssprache reduziert und die Vielfalt der Völker nicht auf ein einziges Volk zurückgeführt werden kann. Der vorläufige Abbruch der Bauvorhaben ist nur Beiwerk zur Veranschaulichung, dass selbst die Pläne einer politischen Macht wie Babylon nicht immer gelingen, sondern auch an ihre Grenzen stoßen. Darüber mag der Erzähler spotten.

Deshalb befremdet mich zunächst der Gedanke, den der Erzähler JHWH in den Mund legt (Gen 11,6): „Siehe, sie sind ein Volk und sprechen alle eine Sprache. Das ist erst der Anfang ihres Tuns. Fortan wird für sie nichts mehr unausführbar sein, was immer sie zu tun ersinnen“.[8]

Normalerweise wird vom „Gott Israels“ ausgesagt, dass er alles vollbringt, was ihm gefällt (Ps 115,3; 135,6), dass ihm also nichts unausführbar ist, und nun wird plötzlich in einer Erzählung, die doch wohl eher die Begrenztheit menschlichen Tuns anspricht, dargelegt, dass für den Menschen auch alles machbar ist?! Und deshalb müsse ihn eine Gottheit, in dem Falle JHWH, daran hindern?!

Vielleicht handelt es sich gerade hierbei um eine versteckte Ironie, die der Erzähler in Gen 11 mehr oder weniger geschickt einflechtet: Natürlich vermögen Menschen längst nicht alles, was sie sich vornehmen, was sie planen, was sie ausführen wollen. Aber oft halten sie alles für machbar, schießen über ihr Ziel hinaus, haben sich so verrannt und erkennen ihren Wahnsinn erst, wenn es zu spät ist.

Die Mythen in der Urgeschichte der hebräischen Bibel bemühen das Eingreifen einer Gottheit bzw. JHWHs, um den Menschen ihre Begrenztheit aufzuzeigen, um Grenzen zu setzen, wo der Mensch über das gesteckte Ziel hinausschießt und bleibenden Schaden anrichtet. Wir modernen Menschen täten gut daran, diese mythologischen Erzählungen, die uns gerade heute tiefe Weisheit vermitteln, neu zu entdecken und mit ihnen zu arbeiten. Wir sind es gewohnt, weniger eine Gottheit oder Gott zu bemühen, um unsere Probleme aufzuarbeiten; wir verlassen uns auf unsere Vernunft, scheitern damit aber immer wieder.

Größenwahn ist aber nicht das einzige Motiv, um von Völkergemeinschaft zu träumen, die Grenzen überwindet; wo Staaten in friedlicher Koexistenz mit gegenseitigem Respekt zum Wohl aller leben. Unsterblich bleibt ein Lied von John Lennon (1940–1980, ermordet durch Attentat in N.Y.): „Imagine. Imagine there’s no heaven / It’s easy if you try / No hell below us / Above us, only sky // … Imagine there’s no countries / It isn’t hard to do / Nothing to kill or die for / And no religion, too // Imagine all the people / Livin‘ life in peace  … // You may say I’m a dreamer / But I’m not the only one / I hope someday you’ll join us / And the world will be as one // …”

Der Lieddichter kennt die Himmelsstürmer; sie verführen die Menschen mit grandiosen Ideologien, mit ihrer Propaganda versprechen sie himmlisches Leben, in Wahrheit im Wolkenkuckucksheim. Nur der Arme, Bescheidene und Weise gibt sich zufrieden und erfreut sich an dem Himmel (sky), der die Erde schützend umgibt, wobei wir Menschen leider das Bewahrende des Klimas beschädigt haben. Der Wunsch nach einer Aufhebung der Ländergrenzen ist bei Lennon verbunden mit der Hoffnung auf Ausbleiben von Krieg und Gewalt, die häufig genug auch von Religionen ausgeht. Man denke nur an das wiederholt entzündete Pulverfass im Nahen Osten, provoziert durch uralte religiöse, politische Ansprüche und gegenseitigem Hass der Kontrahenten. Lennon weiß, man sieht ihn als Träumer, aber er ist damit nicht allein; so gibt er sich der Hoffnung hin, dass die Schar Gleichgesinnter wachsen wird: „And the world will be as one …“!

Fällt Lennons Gedanke unter das gleiche Verdikt, wie das vom Mythos ausgesprochene? Ich glaube nicht. Ihm geht es um Völkergemeinschaft in Verschiedenheit, nicht um Einheit in Gleichheit, schon gar nicht erzwungen wie in totalitären Systemen. Man mag ihm und Gleichgesinnten vorwerfen, sie lebten in einer Traumwelt, ihre Vorstellungen seien absolut unrealistisch; ihre Anliegen ließen sich nicht verwirklichen, zum Teil sei ihre Verwirklichung noch nicht einmal wünschenswert. Man könnte an dieser Stelle den Mythos umkehren: Es ist notwendig, dass Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen inhaltlich zu einer Sprache, zu einem Wortschatz zusammenfinden.

In den letzten Jahren haben einzelne Jugendliche internationale Bewegungen ausgelöst; engagiert  setzen sie sich mit dem Klimawandel auseinander, im Gespräch mit Politik und Wissenschaft. Frieden und Gewaltlosigkeit verpflichtet, streitbar im Kampf für eine lebenswerte Gegenwart und Zukunft, ihre Zukunft! Um nahe und ferne Ziele zu formulieren, bedarf es exakter Begriffe, einer Sprache, die verständlich, aber ebenso genau genug ist. Mein Lateinlehrer hatte im Lazarett während des Krieges noch erlebt, wie sich Latein als medizinische Fachsprache bewährte, um Verletzte an der Front zu verarzten. Übersetzungen auf Englisch, Französisch, Deutsch hin und her wären zu zeitraubend.

Die Kritik des Mythos am Projekt einer Sprache berührt keine hilfreichen Fachsprachen, auch nicht Weltsprachen wie Englisch als Weltverkehrssprache und international bedeutendste Weltsprache; eine Weltsprache zeichnet sich nicht nur durch die Zahl der Sprecher, sondern durch Verbreitung der Sprache aus. Obwohl Vielzahl und Vielfalt von Völkern und Sprachen vorauszusetzen ist, spricht der Erzähler in einem Atemzug von Volk und Sprache im Sinne einer Singularität, die aber unnatürlich, nicht per Zufall, sondern durch Gewaltherrschaft durchgesetzt wurde. Ein Weltreich braucht de facto eine flächendeckende Sprache als Instrument lückenloser Kontrolle. Durch die Digitalisierung der Alltagswelt, des beruflichen und zunehmend des privaten Lebens wird das göttliche Auge verwandelt in den bösen oder prüfenden Blick des Herrschers und einer Partei: Big Brother Is Watching You (George Orwell: 1984; 1946–1948). China ist derzeit führend als totalitäres Regime. Jede Regierung, die den Sprachgebrauch kontrolliert, reglementiert, unterbindet – die Meinungs- und Pressefreiheit sowie das Demonstrationsrecht mit Füßen tritt –, unterdrückt das eigene Volk. Es sind Länder ohne demokratische Strukturen. Auch Literaten, Künstler, Filmemacher stehen unter der Zensur.

Was  mag die vom Mythos angeprangerte eine Sprache als Eigenschaften für sich verbucht haben, um gar mit ihrer Hilfe eine Weltherrschaft anstreben zu können? Man fragte nach dem Ursprung aller Sprachen; welche Sprache ist die ursprüngliche? Es müsste eine vollkommene Universalsprache sein; man sah das Hebräische als eine solche an. Paläoanthropologie (Prähistorische Anthropologie) und Sprachwissenschaften ist es aber unmöglich, auch nur irgendeine der bekannten Sprachen den Charakter einer universalen Sprache zusprechen zu können. Vehement, aber nicht unberechtigt mahnt Francesco Soave (1743–1806), Philosoph, Übersetzer, Dozent:[9]

„Ich kann euch gewiß niemals raten, dem hier aufgekommenen bizarren Denken zu folgen und von der universalen Sprache zu träumen.“

Könnte das Auffinden einer universalen Sprache theoretisch dazu verführen, sie zum Aufbau eines neuen Weltreiches zu missbrauchen? Wenn wir den Sprachbegriff von der Informatik her erweitern, wissen wir, dass Länder übergreifende Kommunikation und damit auch Manipulation kein Problem darstellen. Universalsprachen sind keine natürlichen Sprachen, sondern Maschinensprachen, die zur Nutzung von Endgeräten die Basis für menschliche Kommunikation verkörpern. Wer die digitale Welt zu nutzen weiß, insbesondere das Internet, wird davon schier unerschöpflich profitieren; wie leicht kann man aber im World Wide Web ertrinken. Man braucht Disziplin, sonst wird ein User allzu bald ein Loser! Wer meint, er wär ein IT Cracker, den erwischt alsbald ein Hacker. Das hört sich lustig an, jedoch mehren sich die Fälle von Cybercrime. Es werden nicht nur wichtige Einrichtungen attackiert, sondern auch bürgerliche Freiheiten werden angegriffen. Wir sollten daher mit unseren Kindern im Gespräch darüber bleiben, wie sie das Internet für sich nutzen und wem sie sich öffnen.

Hätte die Großmacht Babylon über unsere Technologie verfügen können, wären die gigantischen Bauvorhaben wohl fertiggestellt worden. Immerhin hatten sie eine Sprache, ihre Kommunikation war dadurch störungsfrei und erleichterte die Baumaßnahmen. Sicher gab es auch viele Fremdarbeiter. Doch war die sprachliche Einheit nur ein Traum? Gen 10 hatte die Sprachenvielfalt als natürliche Folge der Völkervielfalt angesprochen. Dem mussten sich die Weltreiche in Mesopotamien anpassen. Der Mythos bekräftigt dieses Faktum, indem er JHWH als Antagonisten ins Spiel bringt, der Missfallen gegenüber der Vereinheitlichung von Volk und Sprache äußert, der Sprache ihre Struktur und ihre Grammatik nimmt. Die Kommunikation bricht im Wesentlichen ab. Die Bauten bleiben unvollendet.

Wir sollten uns im Christlichen und Kirchlichen von Vereinheitlichungen distanzieren, auch von einer Nivellierung der Sprache; wir brauchen einen lebendigen Glauben in der Vielfalt.

Amen.

Pfarrer Thomas Bautz

Bonn

E-Mail: thomas.bautz@ekir.de

Thomas Bautz, Pfarrer i.R. (EKiR), geb. 1954 in Berlin-West, vh., einen Sohn (15 J.), Studium: Allg. Sprachwissenschaft (1. Hauptfach), ev. Theologie (2. Hauptfach), Philosophie (Nebenfach) – Berlin, Göttingen, Köln, Bonn. Schwerpunkte: Diakonie (Gerontologie, Sterbeforschung, Seelsorge in Seniorenpflegeheimen); ev. Erwachsenenbildung; 8 Jahre Geistlicher bei der Bundeswehr: Wetzlar, Düsseldorf, Euskirchen, Düren, Nörvenich; wg. Auflösung diverser Standorte). Gemeindearbeit zur Unterstützung von Kollegen.

[1] Cf. Christoph Uehlinger: Weltreich und „eine Rede“. Eine neue Deutung der sog. Turmbauerzählung (Gen 11,1–9), OBO 101 (1990) , 343.

[2] Uehlinger: Weltreich und „eine Rede“, 232.

[3] Widerlegung bei Uehlinger: Weltreich und „eine Rede“, 201–253).

[4] J. Alberto Soggin: Das Buch Genesis. Kommentar (1997), 183–184; cf. Norbert Clemens Baumgart: Turmbauerzählung, Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de).

[5] Soggin: Genesis, 184.

[6] Heinrich Krauss/ Max Küchler: Erzählungen der Bibel. Das Buch Genesis in literarischer Perspektive: Die biblische Urgeschichte (Gen 1 – 11), (2003): Die Zerstreuung der Menschheit (Gen 11,1–9), 180–185, 182.

[7] Soggin: Genesis, 177 u. 178–179.

[8] Krauss/ Küchler, 182.

[9] Francesco Soave: Riflessioni intorno all‘istituzione di una lingua universale (1774), zit. n. Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache (2. Aufl. 1994), 11 (Motto; ohne genauere Quellenangabe).

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