Predigt zu Genesis 11,1-9

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Predigt zu Genesis 11,1-9

„Pfingsten im Büroturm“ | Pfingstsonntag, 23. Mai 2021 | Predigt zu Genesis 11,1-9 | verfasst von Thomas Muggli-Stokholm |

Abraham geht mit schnellen Schritten auf den mächtigen Büroturm zu, seinen Arbeitsort. Wieder einmal staunt er über die Höhe dieses Bauwerks. Es scheint ihm, wie wenn die Spitze des Hochhauses sich in den tief hängenden Wolken verlieren würde. Er selbst wird niemals so hoch hinauf gelangen. Abraham arbeitet als Küchenhilfe im Kellergeschoss. Wenn es hoch kommt, kann er hie und da im Personalrestaurant im ersten Stock bei der Ausgabe der Menus helfen. In den „Dining Room“ des Mangements im Dachgeschoss wird er nie gelangen. Denn Abraham ist Flüchtling, oder Migrant, wie man ihm hier sagt. Er wuchs in Afrika auf und erhielt als aufgeweckter Junge Stipendien. So konnte er Ingenieurwissenschaft studieren und hatte beste Chancen für einen tollen Job. Dann kam jedoch der Militärputsch und Leute wie Abraham waren aufgrund ihrer politischen Gesinnung nicht mehr gefragt. Nach einem langen, leidvollen Fluchtweg landete er in der Schweiz und erhielt Asyl. Als er nach einer langen Durstrecke als Flüchtling anerkannt wurde, konnte er Deutschkurse besuchen. Doch Abraham, einst ein brillanter Schüler und Student, kam auf keinen grünen Zweig. Immer, wenn er lernen wollte, wurde er von traumatischen Erinnerungen und Gefühlen aus der Vergangenheit überrollt. Vom Sozialamt genötigt machte er sich auf Stellensuche und fand seinen jetzigen Job. Seine Arbeit ist monoton. Die Arbeitsstelle im Keller, ohne Tageslicht, trostlos. Aber immerhin hat Abraham im Gegensatz zu anderen Flüchtlingen eine Arbeit, die ihm eine Tagesstruktur gibt. Nach wie vor fühlt er sich fremd in diesem Land. Doch er hat neue Freunde gefunden in der Migrantenkirche, welche im Gemeindezentrum eines Aussenquartiers Gastrecht geniesst. An einem der Anlässe ist Abraham Sara begegnet, der jungen Pfarrerin der Ortsgemeinde. Sie ist bis jetzt eine der wenigen Einheimischen, welche mit ihm mehr als das Nötigste gesprochen hat. Sara interessiert sich für sein Schicksal. Und sie ist es, welche für das kommende Pfingstfest für die Ortsgemeinde und die Migrantenkirche einen gemeinsamen Gottesdienst mit Mittagessen organisiert. Unterdessen hat Abraham seine Arbeitsstelle rechtzeitig erreicht und sich umgezogen. Nun steht er in der Küche und schnetzelt Gemüse, wie jeden Tag.

Zur gleichen Zeit fährt Kevin mit dem Lift ins 23. Stockwerk des Büroturms. Kevin hat als Informatiker eine Traumkarriere hingelegt: Mit gut 35 Jahren arbeitet er bereits im oberen Kader des Konzerns und steht kurz vor dem Schritt in die Teppichetage. Jedenfalls hat ihn sein Chef schon das eine oder andere Mal an Strategiesitzungen beratend beigezogen. Einmal war er sogar im „Dining Room“ im Dachgeschoss eingeladen und begegnete da jenen Männern, welche Normalsterbliche nur in der Zeitung oder am Fernsehen zu Gesicht bekommen. Kevin war zwar nervös wie verrückt, aber er fühlte sich wie im Himmel. Und er wäre heute wohl der glücklichste Mensch auf Erden, wenn er seine Frau nicht wenige Wochen später mit einem seiner obersten Chefs im Bett erwischt hätte. Die Scheidung ging schnell über die Bühne. Aber Kevins Himmel hat Risse bekommen. Vieles, wovon er noch vor kurzem überzeugt war, scheint ihm nun fragwürdig. Früher stand er zu 100% hinter der Strategie seines Unternehmens. Um im hart umkämpften Markt zu überleben, müssen alle strikt an einem konzisen, einheitlichen Auftritt mitarbeiten, eine Sprache, eine Doktrin, eine Strategie. Abweichler können den Hut nehmen. Und das Management bleibt ständig gefragt, wie die Produktion technisch auf dem allerneusten Stand gehalten und so optimiert werden kann, dass Personalkosten eingespart werden. Kevin behält zwar seinen Job im Moment. Doch wie lange noch? Und was soll ein solches Leben auf lange Sicht? Andererseits ist der Ausstieg auch keine Option. Zu sehr hängt er an seinem Jaguar-Cabriolet, der tollen Wohnung an bester Lage, einem Alltag im Überfluss.

Seit einigen Monaten ist Kevin mit Sara befreundet. Er hat sie auf Tinder kennen gelernt. Als er erfuhr, dass sie Pfarrerin ist, wollte er den Kontakt zuerst abbrechen. Aber irgendetwas fasziniert ihn an dieser Frau. Und er, der bis jetzt jegliche Form von Religion als Hokuspokus abtat und zur Kirche austrat, als er seine erste Steuerklärung erhielt. Er lässt sich von Sara provozieren, neu über den Sinn des Lebens nachzudenken. Vor kurzem eröffnete sie ihm, dass sie an Pfingsten über den Turmbau zu Babel predigen werde. Kevin lachte sie aus: Über dieses Sonntagschulmärchen willst du im Ernst predigen?! Was macht es für den heutigen Menschen noch für einen Sinn, sich mit so uraltem Zeugs zu beschäftigen?“ Sara blieb gelassen und fragte zurück: “Und du, Kevin, womit befasst du dich?“ „Ich arbeite, leite eine Abteilung, verdiene Geld und mache Karriere.“ „Schön, du arbeitest im 23. Stock, hast du mir erzählt. Wie hoch kannst du noch kommen?“ „Der Büroturm hat 31 Stockwerke. Das oberste Management residiert im 30. Stock.“ „So, so – und dann bist du im Himmel? Dort wo die Turmbauer in der biblischen Geschichte hinwollten?“ Kevin begehrte auf: “Sicher nicht, aber in einer respektablen Position. In den Himmel wollen nur Phantasten wie du, Sara, du und deine Berufskollegen.“ Sara lächelte nur und meinte: “Wir müssen nicht in den Himmel, weil Gott herabsteigt zu uns. Zweimal erwähnt dies die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Das erinnert mich an die Heilsgeschichte, an die beiden entscheidenden Abstiege Gottes zu uns Menschen.“ „Hä? Nun redest du definitiv Kauderwelsch“, rief Kevin aus und bereute es langsam, sich mit dieser verrückten Frau eingelassen zu haben. „Zweimal steigt Gott auf die Erde herab. Einmal am Sinai, um den Menschen seine Weisung mit auf den Weg zu geben. Und dann – in Jesus – steigt Gott ganz in die Tiefe, wird Mensch wie wir, damit wir keine Türme in den Himmel mehr bauen müssen.“

Kevin verzichtete auf eine weitere Diskussion mit Sara. Es war auch schon spät geworden und er bot ihr an, sie in seinem Jaguar nachhause zu fahren. Doch Sara meinte, ihr sei es auf dem Fahrrad wohler. Das war Kevin noch nie passiert. Mit seinem Jaguar konnte er sonst immer punkten. Welch merkwürdige Frau!

Beim Abschied durfte er Sara immerhin küssen. Und sie lud ihn ein zum Pfingstgottesdienst. Seither überlegt Kevin, ob er gehen soll. Nie hätte er gedacht, dass ihn je solche Themen bewegen würden. Ein Gott, der aus dem Himmel zu den Menschen herabsteigt. Der ihre Sprache verwirrt, ihre Geschäftsdoktrin, ihre todsicheren Strategien und Ideologien. Ein Gott, der menschliche Allmachtsphantasien zerstreut, um neu anzufangen, um Raum für eine neue Sprache zu schaffen, wo es nicht um Sieg und Niederlage, sondern um Glaube, Liebe und Hoffnung geht. Kevin verliert sich so in seinen Gedanken, dass er beinahe das Mittagessen vergisst, zu welchem er sich mit einigen Kollegen verabredet hat. Ohne es zu realisieren, nimmt er sein Essen von Abraham in Empfang. Dass dunkelhäutige Menschen solche unterdotierten Jobs übernehmen, ist zu normal für ihn.

Auch Abraham hatte kürzlich wieder ein Gespräch mit Sara. Sie erzählte ihm mit leuchtenden Augen von ihrem Pfingstprojekt und eröffnete ihm dann, wie schön sie es fände, wenn er den Predigttext, die Geschichte vom Turmbau zu Babel, in seiner eigenen Sprache vorliest. Abraham wehrte zuerst ab. Er will nicht auffallen, sich nicht zeigen in der Gemeinde. Was hat er schon zu bieten, ein Niemand, ein Nichts, ein Versager, der nur gebrochen Deutsch kann!

Schliesslich überzeugte ihn Sara aber: Schau Abraham, wen Jesus seinerzeit berufen hat. Keine Topmanager und keine Superstars, sondern ganz einfache Männer und Frauen, die grösstenteils nicht mal lesen und schreiben konnten. Ihnen gibt Gott einen Namen, ein Gesicht – und nicht jenen, die sich selbst in den Himmel hinaufrühmen.

Die Woche geht vorbei, und am Pfingstsonntag beschliesst Kevin nach langem Hin und Her, den Gottesdienst seiner neuen Freundin zu besuchen. Er ist früh in der Kirche und hat Zeit, die Feiernden beobachten. Es kommen mehrheitlich Menschen afrikanischer Herkunft, fröhliche junge Leute, zum Teil mit Kindern, die miteinander in fremden Sprachen reden und lachen. Dazwischen sieht man da und dort graue Häupter, offensichtlich Einheimische. Die meisten schweigen und schauen dem Treiben zu, mit ernster Miene oder leicht unsicherem Lächeln. Vorne steht seine Sara im Gespräch mit den Mitwirkenden aus beiden Gemeinden, strahlend und ganz in ihrem Element.

Der Gottesdienst beginnt mit Beiträgen des Chors der Migrantenkirche. Dank der mitreissenden Gesänge löst sich die Stimmung rasch, und es gibt Standing Ovations, auch von den Grauhaarigen. Kevin klatscht begeistert mit. Er weiss nicht recht, wie ihm geschieht. Den Text der Chorlieder versteht er nicht. Aber es kommt ihm eine Wärme und Hoffnung entgegen, die er so schon lange nicht mehr erlebt hat.

Nun tritt ein Afrikaner ans Rednerpult. Sara kündigt an, dass Abraham den Predigttext in seiner Sprache vorlesen werde. Abraham liest den Text, zunächst noch unsicher und stotternd, dann aber mit immer festerer Stimme, in einer fremden, wunderschönen Sprache. Kevin versteht kein Wort.

Aber er weiss, was Abraham vorträgt: Wie die Menschen alle eine Sprache und ein und dieselben Worte haben, die gleiche Gesinnung, die gleiche Ideologie.

Wie sie vom Osten kommen, vom verlorenen Paradies her, um sich in der Steppe von Schinar anzusiedeln, einer unwirtlichen Gegend, dem Gegenteil des Gartens, von dem sie herkommen. Sie fühlen sich alleine und verloren, und wollen doch nicht in Verzweiflung versinken. So vereinen sie ihr ganzes Wissen und Können, brennen Ziegel, entwickeln Mörtel und errichten eine Stadt und einen Turm von unfassbarer Grösse und Schönheit. Sie streben himmelwärts, erreichen ihr Ziel aber nie. Und sie sind so fixiert darauf, sich einen Namen zu schaffen, dass sie nicht wahrnehmen, dass der Ewige, dessen Name über allen Namen steht, zu ihnen herabgestiegen ist. Er betrachtet ihr Tun, sieht, was sie noch vorhaben und weiss, in welcher Katastrophe das Handeln einer gleichgeschalteten Menschheit enden wird. Sie bauen und bauen und realisieren nicht, dass der Ewige ein zweites Mal herabsteigt, um sie vor dem Untergang zu bewahren, indem er ihre Sprache durcheinanderbringt. Kevin überlegt, was diese uralte Geschichte, die er nun in der fremden Sprache Abrahams hört, für ihn persönlich bedeutet. Noch vor einem Jahr hat er sich über Pfingsten in irgendeiner Wellnessoase in der Südschweiz geräkelt, um dem Stress im Büroturm wieder gewachsen zu sein. Doch ist der 23. Stock der Ort, wo er hingehört? Wenn er von dort oben herab sehnsüchtig in die Ferne schaut, auf den See und das Alpenpanorama und vom Himmel träumt – dann könnte es doch geschehen, dass er den Ewigen übersieht und überhört, den Ewigen, der auf ihn wartet, nicht im Himmel, sondern unten, im Parterre. Oder vielleicht wartet er sogar im Keller, um ihm im Menschen Abraham zu begegnen. Amen.

Pfarrer Thomas Muggli-Stokholm

Wolfhausen

E-Mail: thomas.muggli@zhref.ch

Thomas Muggli-Stokholm, geb. 1962, Pfarrer der Reformierten Kirche des Kantons Zürich, seit 1997 Pfarrer in Bubikon (70%), seit 2020 Koordinator der Liturgie- und Gesangbuchkonferenz der Deutschschweiz (LGBK).

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