Predigt zu Johannes 3,1-8

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Predigt zu Johannes 3,1-8

Trinitatisfest, (30.5.21) | Die Stunde der Geister | Predigt zu Johannes 3,1-8, verfasst von Sven Keppler |

I. Mitternacht. Die Stunde der Geister. Meistens melden sich die Geister der Vergangenheit. Des vergangenen Tages. Sie wollen angeschaut werden. Machen Angst. Fordern die Auseinandersetzung. Manchmal melden sich auch schon die Themen des kommenden Tages. Die Aufgaben. Die Herausforderungen.

In der Nacht ringen beide miteinander. Die Geister der Vergangenheit und der Zukunft. Und der Mensch, in dem sie ringen, kommt nicht zur Ruhe. Es gibt in diesem Kampf eine entscheidende Frage: Kann aus der Vergangenheit, kann aus einer schwierigen Gegenwart eine bessere Zukunft hervorgehen?

Auch die Schlüsselmomente unseres Glaubens haben sich in der Nacht ereignet: Die Geburt des Erlösers in der Heiligen Nacht. Der Weih-Nacht. Und seine erneute Geburt in der Osternacht. Als er aus dem Tod heraus in das neue Leben getreten ist. Und für alle Menschen eine heilvolle Zukunft eröffnet hat.

Die Nacht ist die Zeit der tiefen, der bedrängenden Fragen. Heute werden wir Zeugen eines Nachtgespräches. Ein führender Vertreter des religiösen Establishments wendet sich an Jesus. An den charismatischen Erneuerer. Ein intensiver Austausch. Mitten in der Nacht. Ein Gespräch zwischen Herkunft und Zukunft. Hören wir, was Johannes davon berichtet: [lesen: Joh 3,1-8]

 

II. Die Begegnung von Nikodemus und Jesus ist ein Geheimtreffen. Im Schutz der Nacht. Nikodemus sagt: Wir wissen, dass Du ein Lehrer bist, von Gott gekommen. Wir wissen. Er spricht also im Namen einer Gruppe. Er ist der Abgesandte von denen, die das Sagen haben. Ein Vertreter des religiösen und kulturellen Establishments.

Unmittelbar vor diesem Treffen hat es einen Skandal gegeben. Jesus war im Tempel gewesen. Mit der Peitsche hatte er alle vertrieben, die aus der Religion ein Geschäft machen: die Händler mit ihren Opfertieren, die Geldwechsler. Die Kirche ist ein Bethaus und kein Kaufhaus! Anders gesagt: In der Kirche geht es um die Beziehung zu Gott. Und nicht um bürgerliche Geschäfte. Nicht um die Sachzwänge einer mehr oder minder verweltlichten Institution.

Die Funktionäre der Religion steigen nicht sofort in den Konflikt ein. Sie versuchen es zunächst mit einem Gespräch. Nikodemus versucht es mit Diplomatie. Ein Mann des Ausgleichs. Wir wissen, dass Du ein Lehrer bist, von Gott gekommen. Denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.

Jesus lässt sich auf das Gespräch ein. Aber er führt es nicht als Diplomat. Nicht im Zeichen des Kompromisses. Sondern in aller Klarheit: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. Da sind wir beim Thema der Mitternacht. Bei der Unterscheidung der Geister. Beim Ringen zwischen Gestern und Morgen. Es braucht eine radikale Erneuerung. Einen grundsätzlichen Neuanfang. So von Grund auf wie eine Geburt.

Nikodemus versteht das natürlich nicht. Er, der Mann des Bestehenden. Für ihn garantieren die wohl organisierten Strukturen der Religion, dass sich das Leben beständig entwickeln kann. Aus dem Erbe der Vergangenheit die Zukunft gestalten.

Nikodemus versteht Jesus deshalb ganz handfest: Von Neuem geboren? Soll ein Mensch denn zurück in den Bauch seiner Mutter? Aber Jesus hat es anders gemeint. Ihm geht es um eine ganz andere Neugeburt. Er nennt sie: geboren werden aus Wasser und Geist.

Wir Späteren können verstehen, was Jesus damit meint. Der aus dem Fleisch geborene Mensch, das ist der Mensch, der aus den bekannten Verhältnissen kommt. Der Mensch, der sich eingerichtet hat in der Welt. Der Mensch, der keine Idee hat, wie echte Erneuerung gehen soll. Denn er kann ja nicht zurück in den Bauch seiner Mutter.

Jesus weiß: Um erneuert zu werden, braucht es einen ganz anderen Geist. Den Geist Gottes. Den Geist von Pfingsten. Wenn ein Mensch von diesem Geist ergriffen wird, verändert ihn das. Die Antwort darauf kann die Taufe sein. Zumindest, wenn man nicht schon als Kleinkind getauft worden ist. Die Taufe mit Wasser. Deshalb sagt Jesus: geboren werden aus Wasser und Geist.

Jesus und Nikodemus führen also ein echtes Nachtgespräch. Sofort sind sie beim Schlüsselthema. Wie kann aus dem Gestern ein Morgen werden? Wie können schädliche Strukturen überwunden werden? Was ermöglicht eine heilvolle Zukunft? Woher kommt der Geist der Freiheit und des Neuanfangs?

 

III. Ihr Lieben: Wir können diese Fragen ganz persönlich hören. Wie kann ich neue Kraft schöpfen? Wie kann ich hinter mir lassen, was mich lähmt? Wie kann mein Glaube, mein Leben wieder lebendig werden?

Und gleichzeitig sind das auch die Fragen unserer Gemeinschaft. Unserer Gesellschaft. Die ganze Menschheit sehnt sich nach einem Neuanfang. Die Impfungen lassen zumindest im globalen Norden die Hoffnung wachsen: Die Pandemie kann überwunden werden.

Die Sehnsucht ist groß: Nach Begegnungen. Nach Umarmungen. Nach Besuchen in Schwimmbädern und Theatern. Nach Singen und Feiern. Nach sicheren Arbeitsplätzen und nach unbeschwerten Reisen.

Und gleichzeitig wachsen die Fragen: Wird es nach der Pandemie so weitergehen wie vorher? Können wir wieder zurück zur alten Normalität? Dürfen wir das überhaupt? Denn die Welt steuert auf den Abgrund zu. Durch unseren Lebensstil vernichten wir die Grundlagen des Lebens. Verändern das Klima. Vermüllen die Welt. Vernichten Tiere und Pflanzen.

Und das in einem Ausmaß, das man „Biozid“ nennen müsste. Mord am Leben. Als Gegenstück zum Genozid, zum Völkermord. Ein Biozid ist nicht nur ein Schädlingsbekämpfungsmittel. Biozid ist das, was der Mensch in der Welt anrichtet. Der alte Mensch. Der Mensch des Fleisches. Die COVID-19-Pandemie ist eine indirekte Folge dieses Verhaltens. Weil es zum Beispiel die Lebensräume von Wildtieren verändert, von denen das SARS-Coronavirus zu uns gekommen ist.

Und deshalb muss unsere Nachtfrage heißen: Wie kann mit diesem Erbe eine gute Zukunft entstehen? Wie kann ein Neuanfang aussehen? Die Herausforderung ist eigentlich überdeutlich: Nein, es darf nicht so weitergehen wie vor der Pandemie!

 

IV. Jesus ist völlig eindeutig: Es braucht einen radikalen Neuanfang! Wir Menschen müssen von Grund auf erneuert werden. Sozusagen: neu geboren werden. Aber Jesus ist kein Umstürzler. Kein Revoluzzer. Kein Utopiker. Seinen Auftritt im Tempel darf man nicht missverstehen. Das ist nicht die Gewaltaktion eines Fundamentalisten.

Jesus weiß: Es geht um die Unterscheidung der Geister. Im Nachtgespräch. Und überhaupt. Wer mit Macht und Gewalt die Verhältnisse ändern will, der ist letztlich ein Mensch des Fleisches. Weil der die Rezepte versucht, die schon tausendfach gescheitert sind. Neu geboren werden aus Wasser und Geist – das ist eine andere Art von Veränderung. Eine geistliche Veränderung.

Jesus gibt einen Hinweis, wie sie aussehen kann: Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist. Das ist rätselhaft. Geheimnisvoll. Und doch vermitteln diese Worte ein Gefühl. Eine Ahnung von dem, worauf es ankommt.

Leben aus dem Unverfügbaren. Offen sein für etwas, das ich nicht im Griff habe. Du weißt nicht, woher es kommt und wohin es Dich führt. Das gibt Dir die Ahnung: Du bist nicht nur gefangen in Deinen Verhältnissen. Nicht nur ein Produkt Deiner Lebensumstände. Sondern Du bist unterwegs. Lebst aus einer unsichtbaren Quelle. Getragen durch Deinen Schöpfer. Du darfst das Leben lieben. Und kannst immer wieder neu anfangen.

 

V. Ihr Lieben: Ich wünsche Euch, dass Ihr etwas von diesem Geist verspürt. Dem Geist der Freiheit. Dem Geist der Liebe. Der Liebe zum Leben. Der Liebe zu den Mitmenschen und zur Natur. Der Liebe Gottes, die in Euch wirksam ist.

Dieser Geist gibt keine einfache Antwort auf die drängenden Fragen von heute. Aber er ist der Geist, in dem diese Antworten gesucht werden können. Und der Geist, der die Kraft zu Veränderungen gibt.

Die Neuanfänge, die aus diesem Geist erwachsen, werden ganz praktisch sein. Die eine wird ihren Garten verändern und Steinbeete durch blühende Pflanzen ersetzen. Der andere wird auf Flugreisen verzichten und sein Auto so oft wie möglich stehen lassen. Der eine wird versuchen, Verpackungen und Müll zu vermeiden. Die andere wird in ihrem Beruf nach nachhaltigen Verfahren suchen.

Manche werden sich für die Würdigung von Menschen einsetzen, die für die Vielfalt des Lebens stehen. Andere werden sich in Sport und Gastronomie, in Kirche und Kunst bemühen, gemeinschaftliches Leben wieder in Gang zu bringen. Einige werden als Aktivist*innen oder in der Politik darum ringen, möglichst viele Menschen für Veränderungen zu gewinnen.

Viele werden durch all das wieder ihre eigene Lebendigkeit spüren. Verzagtheit und depressive Verstimmungen überwinden. Und in ihrem Leben neuen Sinn finden.

Ihr Lieben: All das gehört zusammen. In alldem können wir das Sausen des Windes spüren. Das Wehen von Gottes Geist, der neues Leben ermöglicht. Wir sind auf der Suche. Noch herrscht das Dunkel der Nacht und der Geisterstunde. Aber Jesus verheißt uns, wie es werden kann. Du hörst das Sausen wohl. Weil Du ein Kind Gottes bist, das aus dem Geist geboren ist. Amen.

Pfarrer Dr. Sven Keppler

Versmold

sven.keppler@kk-ekvw.de

 

Sven Keppler, geb. 1968, Pfarrer der Evangelischen Kirche von Westfalen. Seit 2010 Pfarrer in der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Versmold. Autor von Rundfunkandachten im WDR.

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