Predigt zu Lukas 15, 1-7

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Predigt zu Lukas 15, 1-7

Nicht umkommen lassen – keinesfalls! | 3. Sonntag nach Trinitatis | 20. Juni 2021 | Lukas 15, 1-7 | verfasst von Uland Spahlinger |

Vorbemerkung: Zeitgleich mit der Beschäftigung mit dem Gleichnis vom verlorenen Schaf wurde ich mit einem massiven Konflikt in einer Gemeinde in unserer Region konfrontiert, in dem es um die unbedingte Bewahrung von lokalen Traditionen und die Abwehr von Veränderungen ging. Darin kam – für meine Wahrnehmung – eine starre, reaktionäre Abwehrhaltung zum Vorschein, die Veränderung, Erneuerung oder auch nur den Anstoß dazu blockiert.

Vor diesem Hintergrund habe ich das Gleichnis gelesen und die Predigt formuliert. Mir ist bewusst, dass ich dadurch manche Aspekte vernachlässigt habe, die in der Exegese als Standard verhandelt werden. Wichtig wurde mir, den großen Bogen zum Handeln Gottes an und mit seinem Volk zu ziehen, der etwa von Claus Westermann unter den Begriffen „Retten“ und „Segnen“ eröffnet wird.

Liebe Gemeinde,

die Internetausgabe der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ ver­schickt an Interessierte jeden Morgen eine Mail mit Schlagzeilen des Tages. Und seit einigen Wochen, viel­leicht coronabedingt, zum Wo­chenende „nur gute Nach­richten und Inspirierendes“. Könnte ja sein, dass sich Leserinnen und Leser das gewünscht haben.

Mir hat die Idee dahinter gut gefallen. Gegen die Devise vieler Nachrichtenmacher: „Only Bad News Is Good News“ – „Nur schlechte Nachrichten sind gute Nach­richten“, bietet ZEIT ONLINE am Wochenende „nur posi­tive Nachrichten“ an: Ge­schichten über Erfolge beim Kampf gegen die Auswir­kungen von Corona, Nachrich­ten über kreative Momente oder über die Rettung von Bootsflüchtlingen oder ein gelungenes Sozialprojekt oder einfach eine mutmachen­de persönliche Geschichte. Natürlich auch, was an großen und herausfordernden Aufgaben bleibt, aber immer mit einem Blick auf das, was gelingt.

Sehr häufig geht es um Ge­meinschaft – und wir haben ja gemerkt, wie sehr uns Gemeinschaft gefehlt hat in den vergangenen Monaten. Das Leben ist ärmer ohne Sportverein, ohne Kitagruppen oder Schulklassen (er­staunliche Entdeckung!), ohne Kan­torei oder Posaunen­chor, ohne Stammtisch oder Kaffee­runde, ohne den Ge­sang im Gottesdienst und so weiter. Wir haben Zoom oder Teams entdeckt: Onlinesitzungen und –seminare oder Familienchats laufen darüber – das ist gut, aber ersetzt die echte Begegnung nicht.

Gute Nachrichten: Die Inzidenz sinkt, viele sind schon geimpft, mindestens einmal mit Aussicht auf die zweite Impfung, manche sind schon durch. Wir haben uns mit vielen Notwendigkeiten gut arrangiert. Doch, doch, ich finde, dass man sagen kann: neben all den schlimmen Zahlen, hinter denen ja immer Menschenleben und Men­schenschicksale stehen, sollen wir nicht übersehen, was seit Ausbruch der Pandemie gelungen ist – und was Tag für Tag völlig unabhängig von Corona gelingt.

Eine Sache fällt mir dabei besonders auf: der Blick wurde stärker vielleicht als sonst auf den Einzelnen und die Ein­zelne gelenkt. Wie geht es der Oma, die keinen Besuch von den Enkeln bekommen kann? Kriegen die Freunde Homeoffice und Home schooling gleichzeitig hin? Wie hat sich die Nachbarin als Kassiererin beim Lidl heute ge­schlagen? Hält ihr Mann als Pfleger auf der Intensiv­sta­tion noch durch? Auf wen müssen wir besonders ach­ten? Wir haben daheim genau darüber viel gesprochen.

Der Blick auf den Einzelnen spielt auch in unserer bib­lischen Geschichte für diese Predigt eine prominente Rolle. Hört aus dem Lukasevangelium, aus dem 15. Kapitel:

3 Er sagte aber zu ihnen dies Gleichnis und sprach:

4 Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eines von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er’s findet? 5 Und wenn er’s gefunden hat, so legt er sich’s auf die Schultern voller Freude. 6 Und wenn er heimkommt, ruft er seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war. 7 Ich sage euch: So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neun­undneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.

Das Bild ist vielen von uns gut vertraut: Der Hirte, der ein Schaf auf dem Rücken zur Herde zurückträgt.

Je­sus, der gute Hirte, der sich sorgt, dass keines verloren geht. Psalmgebet und frommes Liedgut nehmen das Bild vielfach auf. Das Bild – wie die Geschichte – rührt an ei­nem Bedürfnis nach Schutz, danach, dass einer da ist, der für uns sorgt. Und Lukas liefert auch gleich die Aus­legung dazu: „So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunund­neun­zig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.“ Umkehr, Buße, Rückkehr in die Schar derer, die zu Gott gehören. Wir wissen: wir kommen um Fehler nicht herum. Wir verfehlen uns an anderen, ungewollt oder gewollt. Wir verfehlen uns an Gott, ungewollt oder gewollt. Jede und jeder könnte – im Gleichnis gespro­chen – das eine Schaf sein, das in die Irre läuft. Und dann zurückgeführt werden muss, damit es nicht draufgeht. Es gibt für Sün­der eine Chance, zurückzukommen. Zurückgeholt zu werden.

Eigentlich geht es also in unserer Geschichte gar nicht um Umkehr. Das „Schaf“ kehrt ja nicht selber um. Ich würde deshalb lieber von einer RETTUNGS­-Geschichte reden. Ohne den nachgehenden Hirten wäre das Schaf verloren. Es müsste im Wüstengelände umkommen. So viel war den Hörerinnen und Hörern klar.

Genau so begegnet der Erzähler, Jesus, den Men­schen: Bei ihm ist Platz nicht nur für die Rechtschaf­fenen und Frommen, für Gott­sucherinnen und Theolo­gen, sondern auch für Sün­der und Zöllner, für Prostitu­ierte und Kleinkriminelle, für Halbgläubige und Ungläu­bige. Ich muss an Zachäus denken, den betrügerischen Oberzolleinnehmer (Lu. 19): reich, aber von den Leuten geschnit­ten. Jesus holt ihn zurück in die Gemeinschaft – und das heißt immer auch: in die Gemeinschaft mit Gott. Das eine war nicht trenn­bar vom anderen – warum sollten sonst sich die Religions­wächter immer wieder beschweren? Oder die Ehebrecherin im Johannesevan­gelium (Joh. 8): auf frischer Tat ertappt soll sie, dem Gesetzes­buchstaben folgend, gesteinigt werden. Grausamer Tod und eigentlich kein Entkommen. Jesus gelingt es, der Frau ohne Einsatz von Gewalt das Leben zu retten. So – und nur so – kann sie eine zweite Chance bekommen.

Oder die vielen Heilungsgeschichten: Krankheit und Be­hinderung galten als Gottesstrafen – für was auch im­mer. Wer Epileptiker war oder erblindet oder gelähmt, musste etwas angestellt haben – es konnte ja nur Strafe Gottes sein. So dachten die Leute: Wer sich an die Geset­ze hält, hat nichts zu befürchten.

Jesus zeigt, dass es nicht so glatt aufgeht. Nicht jedes Gesetz wird dem Willen Gottes gerecht, wenn man es nach dem Buchstaben exekutiert. Nicht jede Bestim­mung wird dem Menschen gerecht, nur weil sie auf dem Papier steht. Es kommt immer auf den Geist an, in dem eine Regel, ein Gesetz oder ein Gebot aufgestellt wird. Der Apostel Paulus hat auch in diesem Sinn ganz Recht, wenn er den Korin­thern schreibt: „… der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ (2. Kor. 3, 6b). Denn – durchaus wie Jesus – hat er erkannt: es geht um den Sinn, der in einer Bestimmung steckt. Es geht um das Ziel, dem eine Be­stimmung dient.

Und daher eine grundsätzliche Frage: Was ist der tiefste Sinn, aus dem Gott sich mit dem Volk Israel verbunden hat? Nach allen, was wir sehen können, wollte Gott, dass dieses Volk Freiheit erfährt und Freiheit zu seinem Lebensgedanken machen kann. Davon erzählt die Geschichten von der Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten. „Freiheit“ in einer Gemeinschaft ist aber kei­nesfalls „Bindungslosigkeit“ – also dass jede*r machen kann, was er oder sie will. Deshalb kommen gleich nach der Befreiung die Gebote: ein überschaubarer Regelkata­log für ein No­madenvolk. Das waren sie ursprünglich, nicht mehr und nicht weniger. Und mit den zehn Gebo­ten hat Gott, so erzählt die Bibel, einen Vertrag mit den Israeliten geschlossen. Er hat sich an sie gebunden. Gott verspricht ein Leben in Freiheit; das Volk seinerseits wird darauf verpflichtet, sich dafür an diesen Gott zu halten. Eine ganz eigene Form der Freiheit durch Bindung. Und wie kann diese Freiheit Wirklichkeit werden? Zum einen durch die Pflege von Gerechtigkeit und Recht, zum an­de­­ren durch Barmherzigkeit. Vor allem die Schwachen und Minderheiten sollen geschützt werden. So kann ein friedvolles Miteinander entstehen.

Nicht konfliktfrei, das wird es unter Menschen nicht geben, nicht einmal unter den ganz frommen – aber mit Instrumenten und Instanzen, um Konflikte zu lösen. In unserem Staat sind das etwa unabhängige Gerichte.

Aber grundgelegt ist es, finde ich, tatsächlich in Gottes Geboten. Denn mit ihnen sagt Gott seinen Menschen ja auch: „Ihr seid mir alle gleich wertvoll. Ihr seid mir alle gleich lieb. Ich will eure Freiheit. Ich will, dass ihr gut miteinander leben könnt und fair miteinander umgeht. Das gebe ich in Eure Verantwortung. Auch Verantwor­tung gehört zur Freiheit. Geht also klug damit um.“

Gesetze und Regeln müssen für die Situation ausgelegt werden. Denn Situationen können sich ändern. Und wir lernen ja ständig dazu: und dann merken wir vielleicht, dass nicht alles, was unsere Väter und Mütter uns beige­bracht haben, richtig war. Ein Satz wie: „Das war schon immer so“ mag ja praktisch sein, wenn man nichts ver­ändern will – aber er kommt nicht vor in den 10 Gebo­ten. Er hat die Liebe Gottes nicht auf seiner Seite.

Wenn wir uns nur an den Buchstaben klammern oder nur an das, was scheinbar immer gegolten hat, dann kann es sehr, sehr eng werden. Wer sich an die Gesetze hält, hat nichts zu befürchten – dieser Satz dann reicht nicht mehr hin. Er ist ein Wegschau-Satz. Und welch schlimme Folgen das Wegschauen haben kann, das können wir im Buch der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts leider nachlesen. Wie viele hätten gerettet werden können, hätten andere nicht weggeschaut.

Nein, nein: um die Freiheit und ein gutes und friedliches Miteinander zu bewahren, müssen wir immer wieder neu ganz genau hinschauen, was in welchem Geist beschlos­sen und be­stimmt wird. Und das nicht nur in totalitären Staatssystemen. Wir brauchen Gesetze und ver­bindliche Re­gelungen, ohne geht es nicht. Aber wir müs­sen immer danach fragen, in welchem Geist und in wel­cher Haltung zu den Menschen sie entstanden sind.

Gottes Gebot – mit Martin Buber möchte ich lieber sagen: Gottes Weisung – gibt die Richtung vor. Die Art, wie Jesus sie in seinen Geschichten und in seinem Handeln lebendig werden lässt, ist der Maßstab dafür: Das Schaf, das verloren wä­re, soll gerettet werden. Dem Menschen, der in Not ge­rät, soll geholfen werden. Wer einen Fehler gemacht hat, soll eine zweite Chance erhalten. Die Ge­meinschaft, die sich zerstritten hat, soll Wege der Ver­söhnung aufgezeigt bekommen.

Aber dazu braucht es die Hilfe von außen, sagt Jesus. Es braucht Einsicht in die verschiedenen Möglichkeiten, Schaden zu heilen. Es braucht immer auch Mut, neue Wege zu gehen. Zum Beispiel: dass der Hirte – gegen alle Regeln – dem einen nachgeht und alle anderen für eine Zeit stehen lässt.

Misstrauen, Pessimismus oder Desinteresse helfen nicht weiter. Wenn wir uns immer nur erzählen, was alles schrecklich oder katastrophal oder „unfassbar“ ist, wenn wir also vor allem auf die negativen Meldungen starren und dann sagen: „wie kann das nur“ – dann wer­den wir nicht zu einem friedlichen und gedeihlichen Mit­einander finden. Dann werden wir überhaupt nicht zu einander finden. Aber es geht auch anders.

Deshalb finde ich die Idee so gut, einmal in der Woche nur positive Nachrichten zu veröffentlichen: geht doch auch so! Und deshalb finde ich es auch gut, dass Jesus erzählt, wie ein Lebewesen, das in Todesge­fahr gerät, ge­rettet wird. Das ist gut für das Schaf und für die Her­de. Es ist gut für den Einzelnen und für die Gemein­schaft. Und eine zweite Chance hat allemal jeder und jede ver­dient. Auch nach einem Fehler.

Es braucht den Geist und die Haltung, die das zulässt.

Aufmerksamkeit.

Vertrauen.

Glauben.

Auch daran, finde ich, will Jesus uns mit seinem Gleichnis erinnern.

Amen.

Dekan Uland Spahlinger

Dinkelsbühl

uland.spahlinger@elkb.de

Uland Spahlinger, geb. 1958, seit 2014 Dekan im ländlich geprägten westmittelfränkischen Dekanatsbezirk Dinkelsbühl, davor u.a. vier Jahre in Papua-Neuguinea, 15 Jahre in einer Münchner Stadtrandgemeinde und fünf Jahre im Leitungsamt der lutherischen Minderheitskirche in der Ukraine tätig.

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