Mt 14,22-33

Mt 14,22-33

Mt 14,22-33 | 6. Februar 2022 | 4. Sonntag vor der Passionszeit | Bert Hitzegrad |

Gnade sei mit uns und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus!

Verlesen des Predigttextes

Jesus und der sinkende Petrus auf dem See

22 Und alsbald trieb Jesus seine Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm hinüberzufahren, bis er das Volk gehen ließe. 23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er allein auf einen Berg, um zu beten. Und am Abend war er dort allein.

24 Und das Boot war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen.

 25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem See. 26 Und als ihn die Jünger sahen auf dem See gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht.

27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht!

 28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. 29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. 30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, hilf mir! 31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?

 32 Und sie traten in das Boot und der Wind legte sich. 33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!

OP I

Die Orientierung habe ich schon lange verloren. Wo bin ich? In mir steigt die Angst hoch. Jetzt kann ich nicht mehr zurück. Dass Vorgespräch verlief schnell … „ein kleiner Eingriff …, drei Tage, dann sind sie wieder fit.“ Der Anästhesist wird schon deutlicher: „Ja, wir ziehen Sie für einen Augenblick aus dem Verkehr. Deshalb müssen wir ihre Atmung unterstützen. Wenn nicht ….“ Seine Worte klingen wie die Hinweise auf einem Beipackzettel für ein Medikament. „In der Regel geht alles gut, aber ….! Haben Sie eine Patientenverfügung?“ Bisher war die gut abgeheftet, jetzt wird danach gefragt. Ich bin unsicher, ob dies die richtige Entscheidung war. Meine erste OP, das erste Mal, dass ich nicht mehr Herr der Lage bin. Ich habe Angst, und auch die freundlichen Worte „Sie sind nicht der erste!“ helfen wenig.

Der Pfleger schiebt mich zielstrebig die langen Gänge entlang. Ich schaue in sein Gesicht, er schaut nach vorn. Bremst ab. Schiebt wieder schneller. Biegt ab. Sagt ein kurzes Wort, um den Weg freizukriegen. Er weiß, was er tut. Das macht mich etwas zuversichtlicher. In dem Krankenbett bleibt mir nur der Blick auf meinen Chauffeur und der Blick nach oben. Krankenhausflure sind schon zum Fürchten, die Decken der Flure noch mehr. Kästen mit Leuchtstoffröhren reihen sich aneinander, hier und dort fehlt eine, dafür ein brauner Fleck nach dem anderen – „Wasserschaden“, denke ich und mein Vertrauen sinkt wieder. Dort hängt ein Kabel unmotiviert herab – den Blick nach oben hätte ich mir schöner gewünscht. Besser ich schließe die Augen. Wann soll ich mein Gebet sprechen, wann den Himmel bitten, dass er bei mir ist hier unter in den Katakomben tief unter der Erde?

Der Pfleger hat es eilig. Liegt schon alles bereit, nur der Patient fehlt noch? Zange, Watte, Tupfer, die Kanüle, um dem Köper das zu geben, was er jetzt braucht.

Wesen mit blauen Hauben und weißen Kitteln schauen kurz in mein Krankenbett und wenden sich wieder ab. Wie wohltuend wäre es gewesen, hätte jemand noch ein gutes Wort gefunden – „Alles Gute! Es wird schon! Sie brauchen keine Angst haben!“. Oder wenn jemand mir wie damals meine Mutter über die Stirn gestrichen hätte: „Kopf hoch, Junge! Du bist nicht allein!“ Doch ich bin ziemlich allein, weiß immer noch nicht, wo wir sind, wie lange es noch dauert und ob am Ende wirklich alles gut wird. Ich muss vertrauen, dass alle, denen ich mich in die Hände gebe, ihren Job können und mit mir und meinem Leben schonend umgehen.

Die Fahrt verlangsamt sich. Eine Tür öffnet sich wie von Geisterhand. Das Licht ist gleißend hell, die Stimmen gedämpft, leise Betriebsamkeit. Wir sind am Ziel? Nein, das Schwerste liegt noch vor mir. Aber nun höre ich sie, die guten Worte: „Guten Morgen, ich bin die Anästhesieschwester Elke! Machen Sie sich keine Sorgen, bei  uns sind Sie in guten Händen!“ Und ich schaue auf ihre Hände, über die sie die blauen Vinyl-Handschuhe stülpt! Mein „Guten Morgen!“ klingt leise und verhalten. Sie spürt es. „Keine Angst! Kommen Sie erst einmal rüber auf den OP-Tisch.“ Mein Krankenhaus-Bett war bisher meine sichere Zone. Auch wenn ich damit gefühlt kilometerlange Gänge geschoben wurde, es war noch mein Schutzbereich, den ich jetzt ganz verlasse. Zeit für mein Gebet. Ja, es wird Zeit, ich brauche jetzt die Worte auf meinen  Lippen und auf meiner Seele – „Vater unser … Dein Wille geschehe … erlöse uns von dem Bösen …. Von Ewigkeit zu Ewigkeit!“

Meine Fahrt durch die Gänge des Krankenhauses – die Fahrt der Jünger über die stürmische See. Die Angst des Petrus – und mein Gebet vor der OP. Zwei Geschichten, zwei Erfahrungen, die sich trotz so ferner Zeiten und Orte in ihrem Kern treffen. Jesus reicht die Hand, dem sinkenden und schon von der rauhen See nass geworden Petrus und dem in seinem OP-Hemdchen zitternden und wartenden Patienten.

Vertrauen I

Jesus reicht die Hand – und damit verwandelt sich ein kleiner Glaube, das Zweifeln und Verzweifeln in die Rettung durch  den, dem sogar Meer und Wind gehorchen. So wird ein kleiner Ausflug mit dem Boot zu einem Lehrstück für das, was uns trägt in unsicherer Zeit, im Sturm des Alltags im Wellengang der Unsicherheit: das Vertrauen, dass er bei uns ist.

Die Jünger hatten allerdings guten Grund, erschrocken zu sein und das Fähnlein des Zweifelns und Verzweifelns in den Wind zu hängen. Jesus hatte sie alleingelassen, tatsächlich. Er hatte sie voraus geschickt, seine Männer, seine Jünger, die sich ja auskannten mit Booten, Netzen, Wind und Meer. Die Menschen, die seine Nähe suchten, die Lahmen, die Blinden, die Verzweifelten schickte er fort. Jesus brauchte Ruhe. Auch er musste Kraft schöpfen, auf dem Berg – Gott und dem Himmel nahe. Wo sonst? Aber Kraft wofür?

Für den Gegenwind des Lebens, für fehlendes Vertrauen, um doch noch im letzten Moment die rettende Hand zu reichen. Das kostet Kraft. Das braucht Orientierung. Die Stille vor Gott ist eine Tankstelle, ein Moment des Auftankens, des Eintauchens in Gottes Nähe, in seine Liebe, um sie überfließen zu lassen in eine Welt, die Angst macht, die nicht selten zum Fürchten ist. So wie die kleine Bootspartie am Abend, der untergehenden Sonne entgegen, das Tagewerk und das rettende Ufer liegen im Rücken – und plötzlich kommen diese für den See Genezareth bekannten heimtückischen Fallwinde, drücken das Boot im Gegenwind zurück, wühlen das Wasser und sogar die Gemüter der gestandenen Fischer auf, die Menschenfischer geworden waren.

Sie geraten in Not. Waren es die Mächte der Natur oder doch eher die fragenden und klagenden Seelen der verzweifelten Jünger. „Wo ist Jesus?“

Doch er kommt, aber anders als erwartet. Und so wird sogar die Begegnung mit Jesus zur Angstpartie. Als er endlich das Boot erreicht, erschrecken die Jünger schon wieder. Jesus geht auf dem Meer, wandelt auf dem Wasser. Gott ist der immer der ganz andere, der nicht in unsere menschlichen Maßstäbe und Kategorien  passt. Ein Gespenst, das nicht zu greifen und zu begreifen ist. Der gnädige und barmherzige Gott, der allmächtige und zürnende Gott, der Leid nicht einfach fortwischt und das Meer und den Sturm tanzen lässt mit einer Schneise der Verwüstung. Der aber auch Einhalt gebieten und in seiner Allmacht dem Bösen die Macht nehmen kann. Nur: Wann kommt er, wo ist er?

Zu den Männern auf dem Boot kommt er rechtzeitig. Ihr Boot geht nicht unter, ihr Herz wird wieder an die richtige Stelle gerückt: „Ich bin’s!“ sagt ihr Meister, den sie am Ufer wähnten. „Ich bin’s!“ Und weil er es ist, der Wind und Wellen, das Meer und den Sturm in Schach halten kann, kann er aus gutem Grund sagen: „Seid getrost! Fürchtet Euch nicht!“

„Fürchtet euch nicht!“ Wie oft schallen die Mut machenden Worte herüber aus den Erzählungen der Bibel. Die erschrockenen Hirten hören mit diesen Worten die Freude über den Heiland, der geboren ist. Der Engel am verlassenen Grab begrüßt so die erschrockenen Frauen am Ostermorgen. Und auch als der Auferstandene seinen Mitstreitern begegnet, versteckt hinter verschlossenen Türen, da gilt auch ihnen der Ruf und der Zuspruch: „Fürchtet euch nicht!“

Der Ruf verändert, die Worte machen Mut, lassen das Vertrauen wachsen. Manche werden sogar übermütig. Petrus will es wagen, sich auf das Wort Jesu einzulassen! „Komm her!“ ruft Jesus ihm zu und Petrus, das Schwergewicht unter den nachfolgenden Männern, bekommt Angst und das Wasser trägt ihn nicht mehr. Die alte Angst überfällt ihn: Der Wind und die Wellen sind klare Fakten, der Glaube, das Vertrauen sind dagegen Leichtgewichte, die so schnell in den kleinen und großen Katastrophen verloren gehen. „Kleingläubig“ nennt Jesus ihn. Er, der die Schlüssel zur Vergebung von Schuld erhält; er, der Felsen, auf dem Jesus seine Kirche bauen wird … kleingläubig , verzagt, mit einem Vertrauen, das dem Gegenwind nicht stand hält.

Doch der Rettungsring wird ausgeworfen. Der kleine Glaube reicht, um die rettende Hand zu ergreifen. Der Kleinglaube wird zum Samenkorn aus dem ein echter Glaube, ein tiefes Vertrauen, die rettende Zuversicht wachsen kann. Petrus zieht sich nicht selbst aus dem Wasser, es ist sein Herr und Heiland, der ihm die Hand reicht und die er nur ergreifen muss. Not lehrt beten und die drohende Gefahr lässt ihn nach der rettenden Hand greifen. Und er greift nicht ins Leere!  „Du bist wahrhaftig Gotts Sohn!“ lautet auch gleich das Bekenntnis der mitreisenden Mannschaft.

Mal sehen, wie lange ihr Glaube hält, mal abwarten, wie oft sie noch das Vertrauen verlässt, mal hoffen, dass der wahrhaftige Gott, immer wieder seine rettende Hand ausstreckt ….

OP II

Gut eineinhalb Stunden später wache ich auf. Irgendwie bin ich in einen freundlich-orange gehaltenen Raum gekommen. Wie, weiß ich nicht. Auch noch nicht, wo ich bin. Schon im Himmel oder nur das Vorzimmer? Eine junge Frau lächelt mich an: „Willkommen auf der Station IIB. Meine Name ist Jana, ich bin Schwesternschülerin. Keine Sorge, Sie haben alles gut überstanden. Wenn Sie können, dann dürfen Sie auch schon aufstehen, aber vorsichtig!“ Ich taxiere die junge Dame und befürchte, sie wird mich nicht halten können. „Vertrauen Sie mir! Ich bin bei Ihnen!“ Wie schön die Worte, verlockend das Leben dankbar zurück zu erhalten und neu zu wagen. Wenn da nicht diese Hürde wäre – das Vertrauen, das fehlt – und alles blockiert und die Ängste mich lähmen. „Ich reiche Ihnen die Hand – wagen Sie es!“

Vertrauen II

Wir geraten immer wieder in Lebenssituationen, da reißt es uns den Boden unter den Füßen weg, da hält nicht nur die schwankende Wasseroberfläche nicht, sondern auch die eingefahrenen Gleise. Ich spüre, ich bin nicht mehr Herr über mich selbst oder meinen Lebensweg. Ich muss mich in die Hände anderer begeben. Die Angst ist vorprogrammiert, die Erfahrung zu scheitern oder dem nicht gewachsen zu sein, folgt auf dem Fuß. Allein gute Worte – das „Seid getrost – fürchtet euch nicht!“ reichen da nicht aus. Die ausgereckte Hand muss es sein. Das zarte Händchen der Schwesternschülerin, die schwielige Hand des Nachbarn, der anbietet: „So lange Du noch nicht fit bist, sorge ich für Deinen Garten!“  Oder die Hand Deiner Frau. Bei ihrer zärtlichen Berührung spürst du den Ehering, 33 Jahre, Treue, Vertrauen, Verständnis, gemeinsame Geschichten und Hoffnung auf Zukunft.

Jedes „Fürchtet euch nicht“ ist ja ein Fingerzeig auf mehr. Ein Fingerzeig auf Gottes Nähe, die er immer wieder zeigt, zu Wasser und zu Land, in den grünen Auen des prallen Lebens und im finstern Tal der Palliativstationen, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Auch dann, wenn mir die Orientierung fehlt und mir der Kompass für mein Leben aus der Hand gleitet: Er ist da und reicht mir die Hand. Er will, dass ich nicht untergehe. Aber zum Glück steht nicht jeden Tag ein Sturmtief vor der Tür oder die Wellen schlagen über die Deiche. Aber für diese Tage ist es notwendig, dass Jesus mich an die Hand nimmt und mitnimmt in die Stille, um auf Gott zu hören, in die Einsamkeit, um seine Nähe zu spüren, auf den Berg am Rande des Sees, um eine Ahnung zu bekommen, wohin der Weg führen wird. Der Weg aus der Angst, der Weg in ein tiefes Vertrauen: „Auch wenn mein Glaube nur klein und brüchig ist, Du, Gott, wirst mich halten!“

OP III

Ich darf nicht nur aufstehen. Ich darf auch schon wieder etwas essen. Die Krankenschwester hat es aufbewahrt und in der Mikrowelle aufgewärmt. Das Leben geht weiter . Das Leben beginnt wieder neu. Die Fahrt über die langen Flure des Krankenhauses, meine Ängste, meine Befürchtungen, mein fehlendes Vertrauen werden mir lange in Erinnerung bleiben. Aber noch mehr die Erfahrung, dass ich in aller Anonymität und Sterilität des Krankenhauses Menschen, Engel, Boten Gottes traf, die sprachen: „Sei getrost. Fürchte dich nicht!“

Vertrauen – Ausblick

Da ist ein gutes Samenkorn gelegt worden, das wachsen soll. Ich arbeite daran, dass aus dem Kleinglauben wenigstens ein mittelgroßer Glaube wird. Der Kompass des Lebens ist neu justiert und zeigt mir Wege aus der Angst. Und schließlich: Sie wird mir gut tun, die Ruhe, die Stille, die Nähe bei Gott. Zeiten des Gesprächs mit ihm, der mir seine Nähe zusagt. Beten nicht erst wenn der OP-Saal sich öffnet, sondern so oft wie möglich, jeden Morgen, jeden Abend, bei der Fahrt mit dem Auto, beim Ausflug über den See.

Und ich wünsche, dass wir auch im Toben der Wellen und im Heulen des Sturmes seine Stimme hören. Mitten im Leben, mitten in der Angst ruft er uns zu: „Seid getrost … fürchtet euch nicht!“ und er reicht uns die Hand. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben. Amen.

Verfasser:

Pastor Bert Hitzegrad
Claus-Meyn-Str. 11
21781 Cadenberge
Mail:
bhitzegrad@aol.com

Der Verfasser ist Pfarrer in der Landeskirche Hannovers und betreut zwei Gemeinden im nördlichen Niedersachsen – dicht an Elbe und Nordsee. Dort zog gerade Sturmtief Nadia vorbei, was der Beschäftigung mit dem Text einige realistische Noten gab. Wie man allerdings lesen und hören kann fand ein Großteil der Predigtarbeit im Cuxhavener Krankenhaus statt …

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