Predigt zu Prediger 3, 1-8

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Predigt zu Prediger 3, 1-8

«Doch in der Mitten, liegt holdes Bescheiden.» | 25. Juli 2021 | Predigt und Gottesdienst zu Predigers Salomo 3, 1-8  |  verfasst von Frank Jehle

 

Musik

 

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und von unserem Herrn und Bruder Jesus Christus.

 

«Ich aber, HERR, hoffe auf dich

und spreche: Du bist mein Gott!

Meine Zeit steht in deinen Händen.»[1] Amen.

 

Liebe Gemeinde, mit diesem Psalmvers im vertrauten Wortlaut der Lutherbibel begrüsse ich alle herzlich. Ich freue mich auf und über diesen Gottesdienst. Sie wissen es wohl: Es ist der zweite in einer dreigliedrigen Reihe zum Buch des Predigers Salomo im Alten Testament. Barbara Signer hat heute vor einer Woche damit angefangen. (Heute hat sie übrigens das Amt der Lektorin übernommen.) Elisabeth Weber wird die Reihe am 8. August beenden. Das Motto der ganzen Reihe lautet: «Denke an deinen Schöpfer in deinen Jugendtagen.»[2]

 

Wilfried Schnetzler hat uns eben mit seinem Orgelspiel begrüsst und auf den Gottesdienst eingestimmt. Ich bitte ihn nun, unser erstes Lied zu begleiten, Strophen aus dem unvergesslichen Sommergesang von Paul Gerhardt:

 

Gemeindelied 538,1–3 und 8: «Geh aus, mein Herz, und suche Freud.»

 

Lasst uns aufstehen und beten:

 

Grosser und guter Gott, als deine Gemeinde stehen wir vor dir. Aus der Welt unseres Alltags haben wir Vieles mitgebracht, Erfreuliches und Belastendes. Und jetzt strecken wir unsere Hände nach dir aus. Wir suchen Ermutigung und Halt, neue Kraft, um gestärkt in den Alltag zurückkehren zu können. Rede du in dieser Stunde selbst zu uns. Gib uns deinen guten Geist. Lass uns auch Gemeinschaft erfahren. In der Stille legen wir unsere persönlichen Anliegen vor dich hin. … Grosser und guter Gott, Vater unseres Herrn und Bruders Jesus Christus, wir danken dir für deine Gegenwart und dafür, dass du in deiner Liebe für deine Schöpfung da bist. Amen.

 

Als Lesung hören wir den wohl bekanntesten Abschnitt aus dem Buch des Predigers Salomo 3, die Verse 1–8 aus dem dritten Kapitel:

 

«3,1 Für alles gibt es eine Stunde,

    und Zeit gibt es für jedes Vorhaben unter dem Himmel:

2 Zeit zum Gebären

    und Zeit zum Sterben,

Zeit zum Pflanzen

    und Zeit zum Ausreissen des Gepflanzten,

3 Zeit zum Töten

    und Zeit zum Heilen,

Zeit zum Einreissen

    und Zeit zum Aufbauen,

4 Zeit zum Weinen

    und Zeit zum Lachen,

Zeit des Klagens

    und Zeit des Tanzens,

5 Zeit, Steine zu werfen,

    und Zeit, Steine zu sammeln,

Zeit, sich zu umarmen,

    und Zeit, sich aus der Umarmung zu lösen,

6 Zeit zum Suchen

    und Zeit zum Verlieren,

Zeit zum Bewahren

    und Zeit zum Wegwerfen,

7 Zeit zum Zerreissen

    und Zeit zum Nähen,

Zeit zum Schweigen

    und Zeit zum Reden,

8 Zeit zum Lieben

    und Zeit zum Hassen,

Zeit des Kriegs

    und Zeit des Friedens.»

 

So weit unsere Lesung. Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Amen.

 

Gemeindelied 71: «Laudate omnes gentes.» Lasst uns diese Taizélied viermal auf Lateinisch singen.

 

 

Liebe Gemeinde!

 

Als Student lernte ich vor bald 60 Jahren das Schauspiel «Ein Mann für alle Jahreszeiten» über den englischen Humanisten Thomas Morus kennen, das dann auch verfilmt wurde.[3] «Ein Mann für alle Jahreszeiten!» Ein Mann nicht nur für die guten, sondern auch für die belastenden Tage! In Anlehnung an diese Formulierung möchte ich die jüdische und christliche Bibel «Ein Buch für alle Jahreszeiten» nennen, ja sogar «Ein Buch für alle Tageszeiten» – frei nach der berühmten Stelle im Buch des Predigers Salomo, dem heute verschiedene Ausschnitte als Predigttext entnommen sind. Wir haben das Gedicht eben als Schriftlesung ungekürzt gehört:

 

«3,1 Für alles gibt es eine Stunde,

und Zeit gibt es für jedes Vorhaben unter dem Himmel:

2 Zeit zum Gebären

und Zeit zum Sterben, usw.»

 

Die Bibel ist ein vielstimmiges Buch, sozusagen ein unendliches Gespräch. Die Stimmen gehen hin und her, rein schon, wenn man die Form betrachtet: Lieder, Bekenntnisse, Gebote, Erzählungen, Gebete, Flüche, Sprichwörter, Prophetenworte usw. Und auch inhaltlich wogt das Gespräch auf und ab. Zuweilen kommt es auch zum Streit, zum Beispiel wenn wir an die Freundesreden im Buch Hiob und an das Jammern des Leidgeprüften denken.

 

Es ist ein Unterschied, ob ich im Neuen Testament ein Evangelium oder einen Brief das Apostels Paulus lese – oder im Alten Testament die Geschichte vom Auszug aus Ägypten oder nun eben das Predigerbuch. Dieses vertritt eine in der ganzen jüdischen und christlichen Bibel völlig einmalige Position. Bereits im Altertum gab es Stimmen, die das Buch aus der Bibel streichen wollten, es sei zu nihilistisch und zu zynisch. Ich denke aber: Es ist gut, dass es neben vielen anderen auch diese Stimme in der Bibel gibt. Es ist der Teil der hebräischen Bibel, der als letzter entstand, gegen das Jahr 200 vor unserer Zeitrechnung in Jerusalem. Der uns dem Namen nach nicht bekannte Verfasser war so etwas wie ein freischaffender jüdischer Philosoph. Er gehörte zur Oberschicht, war hoch gebildet und sammelte einen Gesprächskreis um sich. Das Buch des Predigers ist eine Art Lehrvortrag. Mindestens teilweise spielte der Sprechende eine Rolle. Wie ein Schauspieler schlüpfte er in das Kostüm des sagenhaften Königs Salomo, der im 10. Jahrhundert vor Christus lebte, also 700 Jahre früher. Dieser war wegen seiner Weisheit berühmt, auch wegen seines Reichtums – und (man mag darüber lächeln) wegen seiner vielen Frauen (700 Hauptfrauen und 300 Nebenfrauen!).[4]

 

Der Verfasser des Predigerbuchs denkt in der von ihm angenommenen Rolle als König Salomo laut über den Sinn des Lebens nach:

 

«2,4 Ich vollbrachte grosse Werke: Ich baute mir Häuser, ich pflanzte mir Weinberge.

5 Ich legte mir Gärten an und Haine und pflanzte darin Fruchtbäume jeglicher Art.

6 Ich machte mir Wasserteiche, um aus ihnen den Wald zu tränken, voller spriessender Bäume.

7 Ich kaufte Sklaven und Sklavinnen und besass auch im Haus geborene. Auch Herden, Rinder und Schafe hatte ich mehr als alle, die vor mir in Jerusalem waren.

8 Auch häufte ich mir Silber an und Gold und den Besitz von Königen und Ländern. Ich verschaffte mir Sänger und Sängerinnen und die Lust der Männer: Frauen und nochmals Frauen.

9 So wurde ich grösser und reicher als jeder, der vor mir in Jerusalem war. Auch blieb mir meine Weisheit erhalten.

10 Und was immer meine Augen begehrten, verwehrte ich ihnen nicht. Keine Freude versagte ich meinem Herzen. Mein Herz freute sich nach all meiner Mühe, und das war mein Teil nach all meiner Mühe.»

 

Ist das nicht wunderbar? Für viele wohl überraschend geht es aber folgendermassen weiter:

 

«2,11 Doch als ich alle meine Werke ansah, die meine Hände vollbracht hatten, und alles, was ich mit Mühe und Arbeit geschaffen hatte, siehe, da war alles nichtig und ein Greifen nach Wind, und es gab keinen Gewinn unter der Sonne.»

 

Die Wendung «alles ist nichtig und ein Greifen nach Wind» wird im Predigerbuch wie ein Leitmotiv immer von neuem gebraucht. Liebe Gemeinde, Sie fragen jetzt vielleicht: «Und um diese Botschaft zu hören, gehen wir am Sonntagmorgen in die Kirche? Ist das nicht viel zu pessimistisch?»

 

Ich habe über diese Frage nachgedacht, und ich kam zum folgenden Schluss: Es ist dies zwar nicht die einzige Stimme in der Bibel, und an einem anderen Sonntag oder bei einer anderen Gelegenheit muss auch ganz anderes gepredigt werden. Aber doch: Als eine Stimme unter anderen ist die Stimme des Predigers gerade für die heutige Zeit aktuell. Sie stellt Fragen an Positionen, die heute oft vertreten werden. Ich denke an den Machbarkeitswahn. «Wir haben alles im Griff.» Im Bereich der christlichen Theologie denke ich auch an Stimmen, die gelegentlich so auftreten, als ob sie Gott in die Karten geschaut hätten. Oder ich denke an moralisierende Stimmen, die dergleichen tun, ganz exakt zwischen gut und böse unterscheiden zu können, und für sich in Anspruch nehmen, hoch präzis das Richtige nicht nur zu wissen, sondern dementsprechend auch zu handeln.

 

Ein historisches Beispiel: Maximilien de Robespierre, genannt «der Unbestechliche», war einer der Protagonisten der Französischen Revolution. Er wollte gewissermassen das Paradies auf Erden einführen. Um dieses hehre Ziel zu erreichen, wurden alle, die diesem wirklich oder auch nur vermeintlich im Weg standen, mitleidlos geköpft. Nach relativ kurzer Zeit fiel dann auch Robespierre selbst der Guillotine zum Opfer. «Die Revolution frisst ihre Kinder.» – Aus neuerer Zeit könnte man an Josef Stalin erinnern oder an Pol Pot in Kambodscha. Wer das Himmelreich auf Erden schaffen will, baut an der Hölle.[5]

 

Aber lassen wir das! Kleine Robespierres gibt es zuhauf, wohl auch heute unter uns und ziemlich sicher auch in uns selbst. Wer würde sich nicht manchmal überschätzen? Und hier dünkt mich das Buch des Predigers ein gutes Gegengift. Es wendet sich gegen Allmachtphantasien und fordert uns zur Bescheidenheit auf. «Denn Gott ist im Himmel, und du bist auf der Erde.» (5,1) Es ist dies ein Bibelspruch, den besonders der junge Karl Barth häufig zitierte. «Denn Gott ist im Himmel, und du bist auf der Erde.» Der Verfasser des Predigerbuchs war ein exakter Beobachter. Indem er die Wirklichkeit des menschlichen Lebens und Zusammenlebens genau betrachtete, nahm er viel jedenfalls auf den ersten Blick Ungereimtes war. Hören wir ihn nochmals selbst:

 

«8,16 Als ich mir vornahm, Weisheit zu verstehen und das Treiben zu betrachten, das auf der Erde geschah – bei Tag und bei Nacht gönnt man seinen Augen keinen Schlaf –, 17 sah ich das ganze Werk Gottes: dass der Mensch das Geschehen unter der Sonne nicht begreifen kann. Auch wenn der Mensch sich abmüht zu suchen, so findet er doch nicht. Und wenn der Weise behauptet, es zu verstehen, so kann er es doch nicht begreifen. […] 9,2 […] Dasselbe Geschick trifft den Gerechten und den Frevler, den Guten und Reinen und den Unreinen, den, der opfert, und den, der nicht opfert; den Guten wie den Sünder […].»

 

Offensichtlich verhält es sich nicht so, dass es den Guten gut und den Schlechten schlecht geht. Der Prediger teilt mit, dass er einmal erlebt hatte, dass ein – wie er sich ausdrückt – «Frevler» ein ehrenvolles Staatsbegräbnis erhielt, während solche, die «Recht getan hatten», in die Verbannung geschickt wurden. (8,10)

 

Bemerkenswert ist der Ratschlag;

 

«7,16 Sei nicht übergerecht, und gib dich nicht gar zu weise. Warum willst du scheitern?»

 

Vielleicht war dies der Grundfehler Robespierres, dass er übergerecht sein wollte.

 

Liebe Gemeinde!

 

Je länger ich mich mit dem Buch des Predigers beschäftigte und auch Fachliteratur dazu las, desto mehr faszinierte mich diese biblische Schrift – als eine Stimme unter andern. Ich hörte einen Ruf zu mehr Zurückhaltung und Bescheidenheit heraus. Immer neu betont der Prediger auch, dass wir nicht verdriesslich sein sollen. Und wo uns die Möglichkeit dazu geben ist, sollen wir das Angenehme durchaus geniessen und auch aktiv in der Welt sein.

 

Ein letztes Ausschnitt aus dem Buch des Predigers Salomo:

 

«5,17 Sieh, was ich Gutes sah: Es ist schön, zu essen und zu trinken und Gutes zu geniessen für all die Mühe und Arbeit unter der Sonne in der ganzen Zeit seines Lebens, die Gott einem gegeben hat. Das steht einem jeden zu als sein Teil.

18 Auch wenn Gott einem Menschen Reichtum und Vermögen gibt und ihm gestattet, davon zu essen und seinen Teil davonzutragen und sich zu freuen an dem, wofür er sich abgemüht hat, so ist das ein Geschenk Gottes.» – «11,6 Am Morgen säe deinen Samen, und am Abend lass deine Hand nicht ruhen; denn du weisst nicht, was gedeihen wird, ob dieses oder jenes oder ob beides gleich gut gerät.»

 

Ich schliesse meine Predigt mit einem Gedicht des schwäbischen Dichterpfarrers Eduard Mörike, von dem ich annehme, dass er das Buch des Predigers genau gelesen und sich zu Herzen genommen hatte, sonst hätte er nicht so schreiben können:

 

«Herr, schicke was du willt,

Ein Liebes oder Leides;

Ich bin vergnügt, dass beides

Aus deinen Händen quillt.

 

Wollest mit Freuden

Und wollest mit Leiden

Mich nicht überschütten!

Doch in der Mitten,

Liegt holdes Bescheiden.»[6]

 

Dazu sage ich: Amen.

 

Musik

 

Alles, was uns bewegt, fassen wir zusammen, indem wir gemeinsam das Gebet sprechen, das Jesus uns gelehrt hat und durch das wir mit Christinnen und Christen aller Zeiten und Länder verbunden sind:

 

Unser Vater im Himmel!

Geheiligt werde dein Name.

Dein Reich komme.

Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Und vergib uns unsere Schuld,

wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung,

sondern erlöse uns von dem Bösen.

Denn dein ist das Reich und die Kraft

und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

 

Gemeindelied 554,1–3 und 6: «Der du die Zeit in Händen hast.» (Dieses Lied von Jochen Klepper wurde bereits heute vor einer Woche gesungen. Lasst uns nochmal daraus singen, weil es so gut zur Spiritualität des Buchs des Predigers Salomo im Alten Testament passt.)

 

Mitteilungen

 

Gemeindelied 332: «Verleih uns Frieden gnädiglich.»

 

Von guten Mächten wunderbar geborgen

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist bei uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

 

Gott segne euch und behüte euch. Gott lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Gott wende euch sein Antlitz zu und gebe euch und auch mir Frieden. Amen.

 

Musik

 

[1] Ps 31,15f. Lutherbibel.

[2] Kohelet 12,1, dieses und die folgenden biblischen Zitate aus der Zürcher Bibel.

[3] Robert Bolt: A Man for All Seasons. London 1960.

[4] 1Kön 11,3.

[5] Vgl. Frank Jehle: Wer das Himmelreich auf Erden schaffen will, baut an der Hölle. Artikel in NZZ vom 02.02.2021, Seite 29.

[6] Eduard Mörike: Sämtliche Werke I. Stuttgart 1954, S. 151.

Frank Jehle, Pfr. Dr. theol.

Speicherstrasse 56

9000 St. Gallen

Telefon 071 244 32 90

frank.jehle@unisg.ch

 

Gottesdienst in St. Laurenzen am 25. Juli 2021: «Doch in der Mitten, liegt holdes Bescheiden.»

 

 

Musik

 

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und von unserem Herrn und Bruder Jesus Christus.

 

«Ich aber, HERR, hoffe auf dich

und spreche: Du bist mein Gott!

Meine Zeit steht in deinen Händen.»[1] Amen.

 

Liebe Gemeinde, mit diesem Psalmvers im vertrauten Wortlaut der Lutherbibel begrüsse ich alle herzlich. Ich freue mich auf und über diesen Gottesdienst. Sie wissen es wohl: Es ist der zweite in einer dreigliedrigen Reihe zum Buch des Predigers Salomo im Alten Testament. Barbara Signer hat heute vor einer Woche damit angefangen. (Heute hat sie übrigens das Amt der Lektorin übernommen.) Elisabeth Weber wird die Reihe am 8. August beenden. Das Motto der ganzen Reihe lautet: «Denke an deinen Schöpfer in deinen Jugendtagen.»[2]

 

Wilfried Schnetzler hat uns eben mit seinem Orgelspiel begrüsst und auf den Gottesdienst eingestimmt. Ich bitte ihn nun, unser erstes Lied zu begleiten, Strophen aus dem unvergesslichen Sommergesang von Paul Gerhardt:

 

Gemeindelied 538,1–3 und 8: «Geh aus, mein Herz, und suche Freud.»

 

Lasst uns aufstehen und beten:

 

Grosser und guter Gott, als deine Gemeinde stehen wir vor dir. Aus der Welt unseres Alltags haben wir Vieles mitgebracht, Erfreuliches und Belastendes. Und jetzt strecken wir unsere Hände nach dir aus. Wir suchen Ermutigung und Halt, neue Kraft, um gestärkt in den Alltag zurückkehren zu können. Rede du in dieser Stunde selbst zu uns. Gib uns deinen guten Geist. Lass uns auch Gemeinschaft erfahren. In der Stille legen wir unsere persönlichen Anliegen vor dich hin. … Grosser und guter Gott, Vater unseres Herrn und Bruders Jesus Christus, wir danken dir für deine Gegenwart und dafür, dass du in deiner Liebe für deine Schöpfung da bist. Amen.

 

Als Lesung hören wir den wohl bekanntesten Abschnitt aus dem Buch des Predigers Salomo, die Verse 1–8 aus dem dritten Kapitel:

 

«3,1 Für alles gibt es eine Stunde,

    und Zeit gibt es für jedes Vorhaben unter dem Himmel:

2 Zeit zum Gebären

    und Zeit zum Sterben,

Zeit zum Pflanzen

    und Zeit zum Ausreissen des Gepflanzten,

3 Zeit zum Töten

    und Zeit zum Heilen,

Zeit zum Einreissen

    und Zeit zum Aufbauen,

4 Zeit zum Weinen

    und Zeit zum Lachen,

Zeit des Klagens

    und Zeit des Tanzens,

5 Zeit, Steine zu werfen,

    und Zeit, Steine zu sammeln,

Zeit, sich zu umarmen,

    und Zeit, sich aus der Umarmung zu lösen,

6 Zeit zum Suchen

    und Zeit zum Verlieren,

Zeit zum Bewahren

    und Zeit zum Wegwerfen,

7 Zeit zum Zerreissen

    und Zeit zum Nähen,

Zeit zum Schweigen

    und Zeit zum Reden,

8 Zeit zum Lieben

    und Zeit zum Hassen,

Zeit des Kriegs

    und Zeit des Friedens.»

 

So weit unsere Lesung. Selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren. Amen.

 

Gemeindelied 71: «Laudate omnes gentes.» Lasst uns diese Taizélied viermal auf Lateinisch singen.

 

 

Liebe Gemeinde!

 

Als Student lernte ich vor bald 60 Jahren das Schauspiel «Ein Mann für alle Jahreszeiten» über den englischen Humanisten Thomas Morus kennen, das dann auch verfilmt wurde.[3] «Ein Mann für alle Jahreszeiten!» Ein Mann nicht nur für die guten, sondern auch für die belastenden Tage! In Anlehnung an diese Formulierung möchte ich die jüdische und christliche Bibel «Ein Buch für alle Jahreszeiten» nennen, ja sogar «Ein Buch für alle Tageszeiten» – frei nach der berühmten Stelle im Buch des Predigers Salomo, dem heute verschiedene Ausschnitte als Predigttext entnommen sind. Wir haben das Gedicht eben als Schriftlesung ungekürzt gehört:

 

«3,1 Für alles gibt es eine Stunde,

und Zeit gibt es für jedes Vorhaben unter dem Himmel:

2 Zeit zum Gebären

und Zeit zum Sterben, usw.»

 

Die Bibel ist ein vielstimmiges Buch, sozusagen ein unendliches Gespräch. Die Stimmen gehen hin und her, rein schon, wenn man die Form betrachtet: Lieder, Bekenntnisse, Gebote, Erzählungen, Gebete, Flüche, Sprichwörter, Prophetenworte usw. Und auch inhaltlich wogt das Gespräch auf und ab. Zuweilen kommt es auch zum Streit, zum Beispiel wenn wir an die Freundesreden im Buch Hiob und an das Jammern des Leidgeprüften denken.

 

Es ist ein Unterschied, ob ich im Neuen Testament ein Evangelium oder einen Brief das Apostels Paulus lese – oder im Alten Testament die Geschichte vom Auszug aus Ägypten oder nun eben das Predigerbuch. Dieses vertritt eine in der ganzen jüdischen und christlichen Bibel völlig einmalige Position. Bereits im Altertum gab es Stimmen, die das Buch aus der Bibel streichen wollten, es sei zu nihilistisch und zu zynisch. Ich denke aber: Es ist gut, dass es neben vielen anderen auch diese Stimme in der Bibel gibt. Es ist der Teil der hebräischen Bibel, der als letzter entstand, gegen das Jahr 200 vor unserer Zeitrechnung in Jerusalem. Der uns dem Namen nach nicht bekannte Verfasser war so etwas wie ein freischaffender jüdischer Philosoph. Er gehörte zur Oberschicht, war hoch gebildet und sammelte einen Gesprächskreis um sich. Das Buch des Predigers ist eine Art Lehrvortrag. Mindestens teilweise spielte der Sprechende eine Rolle. Wie ein Schauspieler schlüpfte er in das Kostüm des sagenhaften Königs Salomo, der im 10. Jahrhundert vor Christus lebte, also 700 Jahre früher. Dieser war wegen seiner Weisheit berühmt, auch wegen seines Reichtums – und (man mag darüber lächeln) wegen seiner vielen Frauen (700 Hauptfrauen und 300 Nebenfrauen!).[4]

 

Der Verfasser des Predigerbuchs denkt in der von ihm angenommenen Rolle als König Salomo laut über den Sinn des Lebens nach:

 

«2,4 Ich vollbrachte grosse Werke: Ich baute mir Häuser, ich pflanzte mir Weinberge.

5 Ich legte mir Gärten an und Haine und pflanzte darin Fruchtbäume jeglicher Art.

6 Ich machte mir Wasserteiche, um aus ihnen den Wald zu tränken, voller spriessender Bäume.

7 Ich kaufte Sklaven und Sklavinnen und besass auch im Haus geborene. Auch Herden, Rinder und Schafe hatte ich mehr als alle, die vor mir in Jerusalem waren.

8 Auch häufte ich mir Silber an und Gold und den Besitz von Königen und Ländern. Ich verschaffte mir Sänger und Sängerinnen und die Lust der Männer: Frauen und nochmals Frauen.

9 So wurde ich grösser und reicher als jeder, der vor mir in Jerusalem war. Auch blieb mir meine Weisheit erhalten.

10 Und was immer meine Augen begehrten, verwehrte ich ihnen nicht. Keine Freude versagte ich meinem Herzen. Mein Herz freute sich nach all meiner Mühe, und das war mein Teil nach all meiner Mühe.»

 

Ist das nicht wunderbar? Für viele wohl überraschend geht es aber folgendermassen weiter:

 

«2,11 Doch als ich alle meine Werke ansah, die meine Hände vollbracht hatten, und alles, was ich mit Mühe und Arbeit geschaffen hatte, siehe, da war alles nichtig und ein Greifen nach Wind, und es gab keinen Gewinn unter der Sonne.»

 

Die Wendung «alles ist nichtig und ein Greifen nach Wind» wird im Predigerbuch wie ein Leitmotiv immer von neuem gebraucht. Liebe Gemeinde, Sie fragen jetzt vielleicht: «Und um diese Botschaft zu hören, gehen wir am Sonntagmorgen in die Kirche? Ist das nicht viel zu pessimistisch?»

 

Ich habe über diese Frage nachgedacht, und ich kam zum folgenden Schluss: Es ist dies zwar nicht die einzige Stimme in der Bibel, und an einem anderen Sonntag oder bei einer anderen Gelegenheit muss auch ganz anderes gepredigt werden. Aber doch: Als eine Stimme unter anderen ist die Stimme des Predigers gerade für die heutige Zeit aktuell. Sie stellt Fragen an Positionen, die heute oft vertreten werden. Ich denke an den Machbarkeitswahn. «Wir haben alles im Griff.» Im Bereich der christlichen Theologie denke ich auch an Stimmen, die gelegentlich so auftreten, als ob sie Gott in die Karten geschaut hätten. Oder ich denke an moralisierende Stimmen, die dergleichen tun, ganz exakt zwischen gut und böse unterscheiden zu können, und für sich in Anspruch nehmen, hoch präzis das Richtige nicht nur zu wissen, sondern dementsprechend auch zu handeln.

 

Ein historisches Beispiel: Maximilien de Robespierre, genannt «der Unbestechliche», war einer der Protagonisten der Französischen Revolution. Er wollte gewissermassen das Paradies auf Erden einführen. Um dieses hehre Ziel zu erreichen, wurden alle, die diesem wirklich oder auch nur vermeintlich im Weg standen, mitleidlos geköpft. Nach relativ kurzer Zeit fiel dann auch Robespierre selbst der Guillotine zum Opfer. «Die Revolution frisst ihre Kinder.» – Aus neuerer Zeit könnte man an Josef Stalin erinnern oder an Pol Pot in Kambodscha. Wer das Himmelreich auf Erden schaffen will, baut an der Hölle.[5]

 

Aber lassen wir das! Kleine Robespierres gibt es zuhauf, wohl auch heute unter uns und ziemlich sicher auch in uns selbst. Wer würde sich nicht manchmal überschätzen? Und hier dünkt mich das Buch des Predigers ein gutes Gegengift. Es wendet sich gegen Allmachtphantasien und fordert uns zur Bescheidenheit auf. «Denn Gott ist im Himmel, und du bist auf der Erde.» (5,1) Es ist dies ein Bibelspruch, den besonders der junge Karl Barth häufig zitierte. «Denn Gott ist im Himmel, und du bist auf der Erde.» Der Verfasser des Predigerbuchs war ein exakter Beobachter. Indem er die Wirklichkeit des menschlichen Lebens und Zusammenlebens genau betrachtete, nahm er viel jedenfalls auf den ersten Blick Ungereimtes war. Hören wir ihn nochmals selbst:

 

«8,16 Als ich mir vornahm, Weisheit zu verstehen und das Treiben zu betrachten, das auf der Erde geschah – bei Tag und bei Nacht gönnt man seinen Augen keinen Schlaf –, 17 sah ich das ganze Werk Gottes: dass der Mensch das Geschehen unter der Sonne nicht begreifen kann. Auch wenn der Mensch sich abmüht zu suchen, so findet er doch nicht. Und wenn der Weise behauptet, es zu verstehen, so kann er es doch nicht begreifen. […] 9,2 […] Dasselbe Geschick trifft den Gerechten und den Frevler, den Guten und Reinen und den Unreinen, den, der opfert, und den, der nicht opfert; den Guten wie den Sünder […].»

 

Offensichtlich verhält es sich nicht so, dass es den Guten gut und den Schlechten schlecht geht. Der Prediger teilt mit, dass er einmal erlebt hatte, dass ein – wie er sich ausdrückt – «Frevler» ein ehrenvolles Staatsbegräbnis erhielt, während solche, die «Recht getan hatten», in die Verbannung geschickt wurden. (8,10)

 

Bemerkenswert ist der Ratschlag;

 

«7,16 Sei nicht übergerecht, und gib dich nicht gar zu weise. Warum willst du scheitern?»

 

Vielleicht war dies der Grundfehler Robespierres, dass er übergerecht sein wollte.

 

Liebe Gemeinde!

 

Je länger ich mich mit dem Buch des Predigers beschäftigte und auch Fachliteratur dazu las, desto mehr faszinierte mich diese biblische Schrift – als eine Stimme unter andern. Ich hörte einen Ruf zu mehr Zurückhaltung und Bescheidenheit heraus. Immer neu betont der Prediger auch, dass wir nicht verdriesslich sein sollen. Und wo uns die Möglichkeit dazu geben ist, sollen wir das Angenehme durchaus geniessen und auch aktiv in der Welt sein.

 

Ein letztes Ausschnitt aus dem Buch des Predigers Salomo:

 

«5,17 Sieh, was ich Gutes sah: Es ist schön, zu essen und zu trinken und Gutes zu geniessen für all die Mühe und Arbeit unter der Sonne in der ganzen Zeit seines Lebens, die Gott einem gegeben hat. Das steht einem jeden zu als sein Teil.

18 Auch wenn Gott einem Menschen Reichtum und Vermögen gibt und ihm gestattet, davon zu essen und seinen Teil davonzutragen und sich zu freuen an dem, wofür er sich abgemüht hat, so ist das ein Geschenk Gottes.» – «11,6 Am Morgen säe deinen Samen, und am Abend lass deine Hand nicht ruhen; denn du weisst nicht, was gedeihen wird, ob dieses oder jenes oder ob beides gleich gut gerät.»

 

Ich schliesse meine Predigt mit einem Gedicht des schwäbischen Dichterpfarrers Eduard Mörike, von dem ich annehme, dass er das Buch des Predigers genau gelesen und sich zu Herzen genommen hatte, sonst hätte er nicht so schreiben können:

 

«Herr, schicke was du willt,

Ein Liebes oder Leides;

Ich bin vergnügt, dass beides

Aus deinen Händen quillt.

 

Wollest mit Freuden

Und wollest mit Leiden

Mich nicht überschütten!

Doch in der Mitten,

Liegt holdes Bescheiden.»[6]

 

Dazu sage ich: Amen.

 

Musik

 

Alles, was uns bewegt, fassen wir zusammen, indem wir gemeinsam das Gebet sprechen, das Jesus uns gelehrt hat und durch das wir mit Christinnen und Christen aller Zeiten und Länder verbunden sind:

 

Unser Vater im Himmel!

Geheiligt werde dein Name.

Dein Reich komme.

Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden.

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Und vergib uns unsere Schuld,

wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

Und führe uns nicht in Versuchung,

sondern erlöse uns von dem Bösen.

Denn dein ist das Reich und die Kraft

und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

 

Gemeindelied 554,1–3 und 6: «Der du die Zeit in Händen hast.» (Dieses Lied von Jochen Klepper wurde bereits heute vor einer Woche gesungen. Lasst uns nochmal daraus singen, weil es so gut zur Spiritualität des Buchs des Predigers Salomo im Alten Testament passt.)

 

Mitteilungen

 

Gemeindelied 332: «Verleih uns Frieden gnädiglich.»

 

Von guten Mächten wunderbar geborgen

erwarten wir getrost, was kommen mag.

Gott ist bei uns am Abend und am Morgen

und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

 

Gott segne euch und behüte euch. Gott lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Gott wende euch sein Antlitz zu und gebe euch und auch mir Frieden. Amen.

 

Musik

 

Frank Jehle, Pfr. Dr. theol.

Speicherstrasse 56

9000 St. Gallen

Telefon 071 244 32 90

frank.jehle@unisg.ch

[1] Ps 31,15f. Lutherbibel.

[2] Kohelet 12,1, dieses und die folgenden biblischen Zitate aus der Zürcher Bibel.

[3] Robert Bolt: A Man for All Seasons. London 1960.

[4] 1Kön 11,3.

[5] Vgl. Frank Jehle: Wer das Himmelreich auf Erden schaffen will, baut an der Hölle. Artikel in NZZ vom 02.02.2021, Seite 29.

[6] Eduard Mörike: Sämtliche Werke I. Stuttgart 1954, S. 151.

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