Predigt zu Sprüche 16,9

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Predigt zu Sprüche 16,9

Gott lenkt ein für blinde Irrläufer | Neujahr | 01.01.2022 | Predigt zu Sprüche 16, (1-8)9 | verfasst von Markus Kreis |

1 Der Mensch setzt sich’s wohl vor im Herzen; aber vom HERRN kommt, was die Zunge reden wird. 2 Einen jeglichen dünken seine Wege rein; aber der HERR prüft die Geister. 3 Befiehl dem HERRN deine Werke, so wird dein Vorhaben gelingen. 4 Der HERR macht alles zu seinem Zweck, auch den Frevler für den bösen Tag. 5 Ein stolzes Herz ist dem HERRN ein Gräuel und wird gewiss nicht ungestraft bleiben. 6 Durch Güte und Treue wird Missetat gesühnt, und durch die Furcht des HERRN meidet man das Böse. 7 Wenn eines Menschen Wege dem HERRN wohl gefallen, so lässt er auch seine Feinde mit ihm Frieden machen. 8 Besser wenig mit Gerechtigkeit als viel Einkommen mit Unrecht. 9 Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der HERR allein lenkt seinen Schritt.

Mein damaliger Chef wollte wissen: „Haben Sie Fortune?“ Der Inhaber eines großen Rechenzentrums für Logistik, dessen Kunden auch Software von ihm bezogen und beraten wurden. Hatte eine Karriere vom Speditionskaufmann zum Wirtschaftsprüfer hingelegt. Und mich für ein paar Monate als persönlichen Assistenten in seiner Firma kennengelernt. Nun wollte er vor ca. 30 Jahren mich fest einstellen. Mich, den von der Kirche zur Anstellung verworfenen Pfarrvikar. „Haben Sie Fortune?“

Fortune, Schicksalsgunst, beim Militär auch Schlachtenglück genannt. Das Wort drückt folgendes Wissen aus: Man kann als Feldherr, für heute besser gesagt Manager, noch so begabt und vorbereitet sein, mit besten Leuten und Geräten ausgestattet – manchmal reicht es halt doch nur zum Misserfolg. „Der Teufel ist ein Eichhörnchen“, hat meine Oma gesagt. Manchmal entscheidet ein von beiden Seiten übersehenes neues Detail. Will sagen der Zufall über Gewinn oder Verlust. Man braucht also das notwendige Quäntchen Glück. Biblisch gesprochen: Das, was ich plane, und das, wohin Gott lenkt, das muss zusammenfallen. Dann ist die Sache geritzt. Ist ja auch schön und gut. Ist aber nicht immer der Fall, dass sich des Lebens Gunst einem zuneigt.

Wechseln wir die Perspektive. Kommen wir zur einem, der garantiert keine Fortune hatte. Bei dem das, was er dachte, und das, wohin es ihn lenkte, sehr auseinander klaffte. Obwohl er sehr begabt und sehr findig war. Und nach einem schlimmen Anfang extrem gut durchgestartet ist: Ödipus. Falls ihnen der Name etwas sagt, vergessen sie das. Es geht jetzt nicht um Begehren und Komplexe. Es geht um die Rolle des Wissens, genauer gesagt darum, wie begrenzt doch all unser Wissen ist. Mitsamt des sich daraus ergebenden Könnens.

Ödipus, ein Findelkind. Zum Sterben ausgesetzt von den eigenen Eltern, da ihm nachgesagt wurde, dass er den Vater töten und die Mutter heiraten werde. Damit der Säugling in der Wildnis sicher stirbt, wurde ihm links und rechts das Sprunggelenk durchbohrt. Hat aber doch überlebt, weil gefunden, dann adoptiert von einem anderen Königspaar, das kinderlos geblieben war. Also eine standesgemäße Erziehung. Und ein gutes Herz. Er liebte seine Eltern, die er für seine leiblichen hielt. Denn als ein Orakel ihm sagte, dass er seinen Vater erschlagen und seine Mutter heiraten würde, verließ er den Königshof, auf dass das nicht geschehe. Und zog flugs aufs Geratewohl davon. Als Königssohn wusste er, Ansagen zu machen, ohne gleich aggressiv zu werden. Wie damals an der Kreuzung, als er mit dem Fahrer der Luxuskarosse in einen Disput um die Vorfahrt geriet. Als der aber von den Worten zur Waffe und Ödipus angriff, machte der Junge kurzen Prozess. Brachte den Fahrer um. Und dessen Herrn in der Karosse gleich mit, den eigentlich Verantwortlichen, der seine Leute nicht im Griff hatte. Nur einer konnte entkommen. Notwehrexzess? Fußgänger gegen Fahrer. Wer weiß, ob das damals als angemessen empfunden wurde? Ödipus hat damals jedenfalls nicht kapiert, dass er gerade seinen Vater getötet und so die Vorhersage erfüllt hatte.

Sein Weg führte ihn irgendwann nach Theben, die Stadt seines leiblichen Vaters. Dessen verwaisten Thron hatte der Schwippschwager eingenommen. Der gerade gleichfalls einen Sohn verloren hatte. Verschlungen von der Sphinx, einem Monster, das vor der Stadt saß und jedem, der Theben verließ, ein Rätsel stellte, das richtig zu beantworten war. Falls nicht, ja sie wissen schon. Mal abgesehen vom toten Sohn, wer will schon in eine Stadt, aus der man kaum lebendig wegkommt? Das Monster musste auf alle Fälle weg! Dem Gewinner bot der neue König seinen Posten an und die Gattin des alten Königs. Der findige Ödipus machte sich zu Sphinx und Rätsel auf. Hatte als Landstreicher ja auch nicht viel zu verlieren. Und er kam, sah und siegte, obwohl das Monster sich ein besonders schwieriges Rätsel ausgedacht hatte. Fortan herrschte Ödipus als König glücklich, geliebt und gerecht über sein Reich.

Eine Epidemie ohne Ende beendete das Ganze. Sie sollte laut Orakel nur enden, wenn der Mörder des alten Königs gerichtet würde. Ödipus liebte Land und Leute und setzte auf die Anzeige hin alles in Gang, um die Epidemie zu beenden und den Kerl zu fassen. Auch da hatte er Erfolg, obwohl es diesmal sehr lange dauerte, dass dem Findigen ein Licht aufging. Wie Nathan dem David sagte dem König ein robuster Denker die Wahrheit auf den Kopf zu, klagte ihn an. Anders als David blieb Ödipus zunächst verschlossen. David bereute ja sogleich und schrieb den 51. Psalm. Dass die Sache mit Bathseba nicht in Ordnung war, dürfte ihm bei aller Verdrängung klar gewesen sein. Ödipus dagegen konnte mangels jeglichen Wissens gar keine Vorstellung haben. Schuldlos schuldig wie er geworden war, wehrte er sich gegen seine Anklage, ordnete eine Untersuchung an, um den wahren Täter zu fassen.

Um die Wahrheit zu erkennen, brauchte Ödipus viel Zeit. Zum Sprechen mit Zeugen und Höflingen, zum Grübeln und Verstehen. Zuerst vermutete er eine Intrige. Dann erzählte ihm seine Gattin und Mutter, die er als Zeugin vernahm, die Sache mit dem Hirten. Der ihn auf Geheiß der biologischen Eltern in einer stillen Ecke des Reiches töten sollte. Dieses Indiz lässt Ödipus verblendet, da die Gute mangels Wissens die volle Wahrheit auslässt: Nämlich dass der Hirte ihn damals lediglich aussetzte. Dann hörte Ödipus, dass bei der Straßenschlacht an der Kreuzung ihm einer entkommen war. Er ließ ihn als Zeugen einbestellen. Und so tauchte schließlich der besagte Hirte von damals auf. In Personalunion an der Kreuzung einst dem Ödipus entkommen. Und noch früher ihn als Baby dem Tod entkommen lassend. Ende der Beweisaufnahme. Die Indizien sprachen schließen für sich und gegen den Grübler. Ödipus war fertig mit sich und der Welt. Er fällte und vollzog sein Urteil selbst und war dabei ein letztes Mal findig. Ödipus blendete sich, um seine geistige Blindheit sichtbar zu machen und zu büßen. Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der HERR allein lenkt seinen Schritt. Wehe, wenn das auseinander fällt.

Diese Angst kennt jeder, manchmal offen, manchmal nur ahnungsvoll: dass man sich so arg geirrt hat. Dass sich einem zeigt: Ich bin ja so blind gewesen. Wobei ich meinte, alles zu durchschauen, zu verstehen, im Griff zu haben. Stattdessen muss man sich mindestens einen mentalen Bankrott eingestehen. Und anders als Ödipus wird kaum einer beanspruchen können, an diesem Bankrott komplett unschuldig gewesen zu sein. Aber mit dem eigenen Anteil ist das ja so eine Sache. Sich schuldlos schuldig zu fühlen, das wäre ja auch noch eine Möglichkeit. Das gibt es wohl nur bei den alten Griechen. Sich auch nur im Geringsten anzuschuldigen, das ist aus der Mode gekommen. Eher heißt es, dass nur die Anderen schuld sind, nicht man selbst. Oder Irrtum und Schuld werden lieber verschwiegen, statt wie Ödipus sich öffentlich zu brandmarken. Ganz zu schweigen davon, dass so jemand sich wegen seiner Blindheit konsequent selbst blendet. Stattdessen wird die Blindheit kaschiert und man nimmt in Anspruch, zu denen zu gehören, die allein es wirklich blicken. Nibelungentreue im Irrtum.

Was viele blinde Irrläufer dabei lernen durften: Gott lenkt ein, drückt beide Augen zu. Gerade im Guten. Das Leben hat einem schwer zugesetzt. Egal, bis zu welchem Grad man selbst daran beteiligt gewesen ist. Lebensträume, verflackert ins Dunkel der Nacht. Trotzdem ist es weiter gegangen. Wenn auch anders als gedacht oder gewollt. Leider gibt es kein Rezept dafür, geschweige denn eine Garantie. Manche Brüche sind trotzdem mit Goldlack gekittet worden. Zuerst gefangen im eigenen Irrtum, dann einer, der sich im wahren Leben draußen wieder gefangen hat. Vom Tellerwäscher nicht zum Millionär, aber zum Paketausfahrer oder doch Küchenchef. Von einer glücklosen, künstlichen Befruchtung zu einem Leben mit Glück für die Kinder anderer Leute. Vom Wunsch nach einem, leider unbezahlbaren Eigenheim zu einer Bleibe im Mehrgenerationenhaus. Der Wunsch nach schönem Wetter, erfüllt vom Klima, das langsam in sich versackt, eingenordet durch die neuen Wetter, die aufziehen werden. Es gibt im Leben mehr Brüche, als einer erkennt. Und weniger Scherben als mit Goldlack gekittete gute Stücke.

Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der HERR allein lenkt seinen Schritt. Der Gott der Bibel lenkt Blinde nicht nur zur schrecklichen Wahrheit. Anzeige, Anklage, Ermittlung, Befragung von Zeugen und Urteil. Das kennt man aus den Krimis, aber das sind alles nur Zwischenschritte. Gott lenkt seine eigenen Schritte. Will sagen, Gott lenkt ein, denn er steuert ein anderes Ziel an. Gott lenkt ein, drückt beide Augen zu, lenkt Gespräch und Gedanken auf die Heilung von Blindheit und Irrtum. Das ist das Ziel. Bezeugt bei Jesaja und Jeremia. Und beim Evangelisten Johannes im 9. Kapitel: Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: „Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?“ 3Jesus antwortete: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm“. Passt gut zu Ödipus und seiner Familie, die Stelle, gell. Gott lenkt ein und macht Blinde zur rechten Zeit sehend. Das ist sein Ziel. Daraufhin lenkt er ein und daraufhin steuert er zu. Gott drückt beide Augen zu. Das ist der letzte Schritt. So lautet das wahre Urteil.

Dem Urteil entspricht, es anzunehmen, dass man verblendet war. Anzunehmen, dass man zuweilen einfach blind ist und noch nicht mal eine Ahnung hat. Anzunehmen, dass man sein Leben mit so einer Blindheit leben kann und leben darf. Annehmen heißt das: Nur so tun als ob? Nur so denken, als ob das der Fall wäre? Wahrscheinlich als ein Zwischenschritt. Aber nur als einer vor dem letzten Schritt. Annehmen heißt, einfach glauben: Ich kann und darf mit so einer Blindheit leben. Gott allein ist allwissend.

Und das neue Innen findet seine Entsprechung draußen in der Menschenwelt. Stützt sich auf das, was Mitmenschen über einen sagen. Gott lenkt schließlich auch die Schritte der Mitmenschen. Zeugen, die belastet haben mit ihren Aussagen, entlasten ihn auf Anfrage. Sprechen jetzt für einen statt gegen ihn. Noch besser, wenn das dieselben Zeugen sind wie vormals, anstatt neue Zeugen. Vergeblich und vergangen überhaupt die Anfragen. Verzogen das Bedürfnis, das Leben so einer Person genauer unter die Lupe zu nehmen. Ihr wird wieder still Gutes unterstellt, anstatt sie zu verdächtigen. Gute neue Nachrichten geraten über sie in Umlauf, lassen die alten in den Hintergrund rücken.

Des Lebens Gunst neigt sich einem wieder zu. Dank Gott, der einlenkt und seine Augen zudrückt, wenn wir verblendet irren. Amen.

OStR Markus Kreis

Weinheim

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