Predigt zum Reformationstag

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Predigt zum Reformationstag

Um die Reformation der Kirche geht es an diesem Tag, liebe Gemeinde.

Wir erinnern uns an jenes Ereignis, als Martin Luther vor inzwischen
484 Jahren in Wittenberg seine 95 Thesen veröffentlichte und damit
eine Bewegung in Gang setzte, an deren Ende eine neue Gestalt der Kirche
stand. Aber wir fragen zugleich, was die Erinnerung, so lieb sie uns
auch sein mag, für die evangelische Kirche in der Gegenwart austrägt,
vielleicht sogar: ob sie überhaupt noch lohnt angesichts der völlig
veränderten Zeitumstände und Herausforderungen, denen wir
uns ausgesetzt sehen.

Das alles tun wir auf dem Hintergrund der Worte aus dem 60. Kapitel
des Jesajabuches, die bei näherem Hinhören eine überraschende
Auslegung dessen sind, was Reformation der Kirche bedeuten könnte.
Der Gang weit in die Geschichte zurück, noch einmal zwei Jahrtausende
weiter als zu Martin Luther, zeigt uns, wie stark unser Glaube von der
Hoffnung auf Veränderung lebt – und daß jede Veränderung
zum Guten letztlich in Gottes machtvoller Zuwendung zu uns gründet.

Damals lag Jerusalem danieder, zerstört und entvölkert durch
die babylonische Heere. Gewiß, das Schlimmste war inzwischen vorüber.
Die Nachfahren der Deportierten konnten aus der Gefangenschaft zurückkehren.
Aber der Anblick vergangener Schönheit blieb bedrückend und
der Wiederaufbau unendlich mühsam und entbehrungsreich. Der Mut
konnte einen verlassen, ehe man sich überhaupt ans Werk machte.
Aber sollte Gott ausgerechnet jetzt, da ein neuer Anfang immerhin möglich
schien, sein Volk vergessen haben? Würde er nicht mehr zu seinen
Verheißungen stehen? Wenn das so wäre, müßten
alle Anstrengungen, die zerstörte Stadt Jerusalem wieder zu errichten,
vergeblich sein. Die Erneuerung des alten Glanzes konnte doch nur möglich
werden, wenn Gott sich zeigt und zu dem steht, was er versprochen hatte:
daß er selbst es ist, der in diese Stadt kommt, weil er sie liebt.
Diese Erwartung bestimmte den Propheten. Darum lohnten sich für
ihn alle Anstrengungen – je eher und je mehr, um so besser, trotz der
Beschwernisse, die unmittelbar vor Augen lagen: trotz all des Schutts
und der Trümmer, die beiseite geräumt werden mußten,
damit die Bahn für Gottes Ankunft frei würde.

Es war ein doppelter Appell also, liebe Gemeinde, den der Prophet in
unsicherer Zeit lauthals und unüberhörbar in die Öffentlichkeit
brachte: ein Aufruf an Gott, doch endlich seine Zusagen zu erfüllen
und Jerusalem wieder erstehen zu lassen, und zugleich ein Aufruf an
das Volk, in seiner Hoffnung auf Gott nicht müde zu werden, ihm
Tag und Nacht in den Ohren zu liegen, und in dieser Zuversicht auf Gottes
Kommen mit dem Aufbau der neuen Stadt zu beginnen. Das eine wäre
ohne das andere nicht denkbar: Gottes Ankunft nicht, ohne zuvor die
Hindernisse zu beseitigen, die im Weg liegen – und die mühevolle
Arbeit nicht ohne die große Aussicht, daß sie sich um des
großen Zieles willen lohnt!

Erneuerung ist nötig – und sie ist möglich. So könnten
wir die flammende Botschaft des Propheten auf den Punkt bringen. Und
darin ähnelt ihr das Anliegen der Reformation. Zugestanden: Die
Kirche ist nicht das neue Jerusalem! So vermessen sollten wir nie sein.
Und dennoch spannt sich der Bogen von damals unmittelbar in die Zeit
der Reformation. Martin Luther und alle, die von seiner Wiederentdeckung
des Evangeliums von Gottes Gnade angesprochen und erfaßt wurden,
fühlten sich durchaus in einer zunächst zwiespältigen
Lage: auf der einen Seite waren sie davon überzeugt, daß
es eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern geben müsse, auf
der anderen Seite wurden sie mehr als einmal verzagt angesichts der
Größe der Aufgabe, die vor ihnen lag und der sie sich aus
eigenen Kräften nicht gewachsen fühlten. Um so mehr war ihnen
daran gelegen, die Reformation der Kirche Gott selbst anzuvertrauen
und allein als sein Werk anzusehen. Unter dieser Vorgabe machten sie
sich daran, die Steine aus dem Weg zu räumen, die die unmittelbare
Begegnung zwischen Gott und den Menschen zu behindern drohten – und
das war Vieles, was sich im Laufe einer langen kirchlichen Tradition
angesammelt hatte: etwa daß es die Kirche sei, die Gottes Heil
vermittele, oder daß es auf das Tun guter Werke ankomme, um sich
vor Gott als gerecht zu erweisen und ihn gnädig zu stimmen. Für
Martin Luther, aber auch für die anderen Reformatoren stand außer
Frage: Die Kirche muß sich von Grund auf ändern, will sie
dem Auftrag ihres Herrn wieder neu entsprechen, das Evangelium von Jesus
Christus zu bezeugen. Aber daß sie dazu auch imstande ist, verdankt
sie allein Gott selbst. Die Kirche ist eben in erster Linie nicht eine
menschliche Institution, sondern entsteht und besteht ausschließlich
durch Gottes Wort. Daß es uns Menschen erreicht, ist Auftrag der
Kirche. Alles andere würde sie zum Selbstzweck machen. Sie weist
also nicht auf sich selbst, wenn es um die Verheißung der Gegenwart
des ewigen Heils geht, sondern sie weist weg von sich auf Christus.
In der Verkündigung der Kirche begegnet er uns und verbindet uns
im Glauben mit Gott. So gesehen wußte Luther: Die Reformation
der Kirche ist zuerst und zuletzt Gottes Werk!

In diesen großen Zusammenhang fühlten sich die Reformatoren
eingebunden. Mochte aus ihrer Sicht noch so viel im Argen liegen, war
dies für sie doch kein Grund, alles Bisherige preiszugeben. Deshalb
sollte die Botschaft von der freien Gnade Gottes für alle Menschen
keine neue Kirche neben der alten begründen, sondern die bisherige
Kirche erneuern. Es blieb ein dauerhaftes Anliegen der Reformation,
die Einheit der Kirche zu wahren. Diese Einheit aber hatte für
sie für eine entscheidende und grundlegende Voraussetzung, und
die sahen sie im Lauf der Geschichte durch die Kirche selbst verschüttet.
Martin Luther drückte das folgendermaßen aus: „Die ganze
Welt soll und kann kein andres Licht haben, durch das sie könne
erleuchtet werden, als Christus allein. Dieser Glaube und Bekenntnis
ist der rechte Grund, auf dem die christliche Kirche gebauet ist. Dies
ist auch der Kirche einig Merkmal und Wahrzeichen, an dem man sie als
an einem ganz gewissen Zeichen erkennen soll.“ Rückkehr zur
Grundlage der Kirche und Erneuerung auf einem festem Fundament, das
niemand Geringeres als Christus ist, lauteten darum die Forderungen,
die in die Tat umgesetzt wurden. Aber wohlgemerkt: dies alles in dem
Bewußtsein, daß es Gott selbst ist, der dadurch in der Kirche
wirksam ist und erfahrbar wird.

Um dieser alles entscheidenden Grundlage willen nahm die Reformation
in Kauf, daß sich die Wege bei der Gestaltung der Kirche trennten.
Evangelisch zu sein, war die neue Weise, den alten Glauben zu leben,
daß Gott uns liebt und zugetan ist – „und das alles aus lauter
väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn
all mein Verdienst und Würdigkeit.“

So ist es seit bald fünf Jahrhunderten geblieben. Und niemand
wird behaupten wollen, Gott sei in unserer Kirche nicht gegenwärtig
gewesen. Aber was sich anfangs wie ein Lauffeuer verbreitete und tiefgreifende
Umwälzungen in Kirche und Gesellschaft erzeugte, kommt heute vielen
eher ausgebrannt und abgeflacht vor. Vom Feuer und von der Entschiedenheit
des Ursprungs scheint wenig zu spüren zu sein.

Wie verhält sich dieser Eindruck zur Auffassung der Reformatoren,
daß die Erneuerung der Kirche kein einmaliges Geschehen sei, das
irgendwann zum Abschluß gelange? Für sie stellte die Reformation
einen fortwährenden Prozeß dar. Immer wieder habe sich die
Kirche in der Rückbindung an Christus und sein Evangelium zu erneuern!

Das freilich ist leichter gesagt als getan. Denn natürlich kann
es da Ermüdungserscheinungen geben. Auch in der evangelischen Kirche
im Lauf der Jahre Vieles verfestigt und ist zugleich Vieles brüchig
geworden. Mit beidem haben wir es ja in der Gegenwart zu tun: mit dem
Gefühl der Erstarrung und dem der Instabilität. Kann unter
diesen Bedingungen die Erinnerung an die Ursprünge der Erneuerung
etwas austragen, wie sie uns im Jesajabuch, aber auch bei Martin Luther
begegnen? Anders gefragt: Wie ist Reformation der Kirche heute möglich?

Die Antwort darauf, liebe Gemeinde, ist nach allem sehr naheliegend:
Die Erneuerung der Kirche steht unter einer großen Verheißung,
wenn wir uns in unserem Glauben und in unserem Handeln in gleicher Weise
wie vor fünfhundert Jahren an Christus wenden und ihm unsere Kirche
anbefehlen. Schon der Prophet in alter Zeit hatte gewußt, daß
alles Tun beim Wiederaufbau Jerusalems vergebliche Liebesmühe sei,
wenn sich nicht Gott selbst zu diesem Werk bekennt. Und die gleiche
Erkenntnis drückt ein Satz aus, der zu meinen Lieblingsworten aus
dem reichen Schatz Martin Luthers gehört: „Wir sind es doch
nicht, die da die Kirche erhalten könnten. Unsere Vorfahren sind
es auch nicht gewesen. Unsere Nachkommen werdens auch nicht sein; sondern
der ists gewesen, ists noch und wird’s sein, der da sagt: ‚Ich bin bei
euch alle Tage bis an der Welt Ende.'“ Mit der Hinwendung zum Herrn
der Kirche und dem Gebet zu ihm fängt jede Reformation an. Oder
um es im Bild der Bibel zu sagen: „Die ihr den Herrn erinnern sollt,
ohne euch Ruhe zu gönnen, laßt ihm keine Ruhe, bis er“
– und jetzt sage ich: die Kirche erneuere! Ohne unser Gebet wäre
alles Tun nicht nur kurzatmig, sondern verlöre den entscheidenden
Grund und das Ziel aus den Augen.

Diese Haltung schließt allerdings auch die Selbstkritik ein.
Deren waren die Vertreter der damaligen Kirche nicht in der Weise fähig,
wie es notwendig gewesen wäre. Es geht um die konkrete Frage, welche
Hindernisse sich in die evangelische Kirche eingeschlichen haben und
welche Irrwege sie womöglich gegangen ist, so daß die Begegnung
mit Gott erschwert oder sogar verhindert wird. Sollten wir zu dieser
Selbstkritik nicht fähig sein, werden uns die Kritiker der Kirche
sofort behilflich sein können. Einige Anfragen legen sich nahe
und sind ernsthaft zu beachten: Hat in der evangelischen Kirche die
Sorge um den äußeren Bestand längst Überhand genommen
gegenüber dem Vertrauen auf Gottes Hilfe? Sind wir als Protestanten
längst dabei, das Erbe der Reformation dadurch in Frage zu stellen,
daß wir meinen, uns als Kirche wie als Einzelne ständig durch
Leistungen beweisen zu müssen? Droht womöglich die Gefahr,
daß unsere Kirche – ich sage es bewußt einmal drastisch
– ein seelenloser Selbstläufer wird, ohne zu merken, daß
Menschen heute auf einer neuen Suche nach Halt und Sinndeutung sind,
dieses Bedürfnis aber andernorts stillen? Und es mag sich gerade
auch am Reformationstag der Eindruck aufdrängen, wir seien in ökumenischer
Hinsicht recht selbstgenügsam geworden und würden nicht mehr
wirklich an der Trennung der Kirchen leiden.

Eine Reformation der Kirche, will sie nicht bloß oberflächliche
Kosmetik sein, verbindet stets beides: grenzenloses Vertrauen auf Christus
und nüchterne Wahrnehmung, wie es um uns steht! Dann erst – aber
dann auch wirklich! -, liebe Gemeinde, können die Überlegungen
beginnen, wie, in welche Richtung und auf welchen Wegen Veränderungen
in Gang gesetzt werden sollen. Gegenwärtig sind nicht nur in den
evangelischen Landeskirchen viele dabei, entsprechende Perspektiven
zu entwickeln und umzusetzen. Das ist wichtig und aller Mühe wert.
Es kommt darin etwas von der Liebe zu Christus und seiner Kirche zum
Ausdruck, die schon damals die Reformation bestimmte.

Allen Unkenrufen zum Trotz lohnt es sich, weiterhin an der Erneuerung
und Fortentwicklung unserer Kirche zu arbeiten – in der Hoffnung, daß
auch für uns gilt, was Gott einst durch seinen Propheten ausrichten
ließ: „Siehe, dein Heil kommt!“ Für die Schritte,
die wir gemeinsam gehen, gebe er uns Beharrlichkeit und Zuversicht,
in allem aber gebe er uns seinen Segen. Amen.

Bischof Dr. Martin Hein
Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
E-Mail: bischof@ekkw.de

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