Predigtreihe zum Vater-Unser

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Predigtreihe zum Vater-Unser

 


Predigtreihe zum Vater-Unser
von Klaus Bäumlin

„Unser Vater im Himmel! Führe uns nicht in Versuchung, sondern
erlöse uns von dem Bösen“
Nydeggpredigt am dritten Advent, 16. Dezember 2001

Liebe Gemeinde, ich liebe die Bibel, weil sie im Blick auf uns Menschen
und die Welt so realistisch ist. Weder redet sie einem harmlosen und bequemen
Optimismus und Fortschrittsglauben das Wort, der so tut, als gehe es schon
irgendwie weiter, noch überlässt sie uns einer pessimistischen
Weltsicht, die mit keiner Veränderung mehr rechnet und uns der Resignation
überlässt: Man kann ja sowieso nichts tun!

Die Bibel nimmt die Realität des Bösen ernst. Es hat überwältigende
Macht und Gewalt über die Menschen, über ihre Gedanken, ihr
Wollen und Tun, eine überwältigende Macht und Gewalt über
das Schicksal der Menschen und Völker. Das zu Ende gehende Jahr hat
uns das in fast apokalyptischer, das heißt: enthüllender Weise
gezeigt. „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend,
immer Böses muss gebären.“

*

Ganz am Anfang der Bibel, in der Erzählung von der Grossen Flut,
heißt es, Gott habe gesehen, „dass auf der Erde die Schlechtigkeit
der Menschen zunahm und dass alles Sinnen und Trachten seines Herzens
immer nur böse war.“ (Gen. 6,5). Und als die Sintflut zu Ende
war, die Wasser sich verzogen hatten, sprach Gott: „Ich will die
Erde wegen des Menschen nicht noch einmal verfluchen, denn das Trachten
des Menschen ist böse von Jugend an.“ Was für ein schreckliches,
negatives, pessimistisches Bild vom Menschen wird uns da gezeichnet! Oder
ist es nicht vielmehr ein realistisches?

In der Theologie der Alten Kirche, heute noch offiziell gültig in
der römisch-katholischen Kirche, gab es die Lehre von der sogenannten
Erbsünde: Weil Adam und Eva, die ersten Menschen, die Prototypen
des Menschen, der Versuchung nicht widerstanden und von der Frucht des
verbotenen Baumes der Erkenntnis gegessen haben, vererbe sich die Sünde
auf alle ihre Nachkommen. Versteht man diese Lehre so, dass sich das Böse
sozusagen in die menschlichen Gene eingenistet hat und sich biologisch
von Adam her durch alle Generationen vererbt, ist sie unsinnig und dazu
geeignet, die Menschen seelisch zu verkrüppeln.

Nicht als dogmatische Wahrheit, aber als Erfahrungs-Weisheit verstanden,
ist die Lehre von der Erbsünde – den Namen „Erbsünde“
allerdings sollte man vergessen – nichts Unsinniges, sondern etwas sehr
Realistisches: Jedes Menschenkind, wo und wann auch immer es zur Welt
kommt, ist von der Stunde seiner Geburt an und vielleicht schon vor seiner
Geburt Teil einer Welt, in der das Böse mit seinen vielfältigen,
subtilen, verborgenen und manifesten, brutalen Gestalten, immer schon
da ist. Die kleine und die grosse Welt, in der das Kind hineingeboren
wird und aufwächst, ist immer schon vermint und verseucht durch das
Böse, so sehr, dass es in jedem Menschen seine Spuren hinterlässt,
in seinem Leben, an seiner Seele. Jeder Mensch ist immer schon von ihm
geprägt.

Deshalb lehr uns Jesus den Vater im Himmel bitten: „Erlöse
uns von dem Bösen.“ Wir können uns selber nicht aus dem
globalen Netzwerk des Bösen befreien. Wir können uns nicht selber
aus der Generationen übergreifenden Verkettung von Schuld herauslösen.
Dazu braucht es ein schöpferisches, befreiendes Wort, wie es nur
von Gott kommen kann. Dazu braucht es einen neuen Anfang im leben eines
Menschen und für die Welt als Ganzes, braucht es eine Heilung und
Vergebung, wie nur Gott sie schaffen und schenken kann. Darum heißt
Jesus uns beten: „Erlöse uns von dem Bösen“ – für
unser eigenes Leben und für das Leben und für die Zukunft unserer
Erde.

*

Zuvor aber beten wir mit dem Unservater: „Führe uns nicht in
Versuchung.“ Seltsame Bitte, die zu vielen Fragen und Missverständnissen
Anlass gibt. Sollte denn Gott selber uns in Versuchung führen können?
Das kann doch nicht sein. Vielleicht musste schon der Verfasser des Jakobusbriefes
auf solche Fragen und Missverständnisse antworten, wenn er schreibt
(Ja. 1,13f): „Keiner, der versucht wird, sage: Von Gott werde ich
versucht; denn Gott ist unversucht vom Schlechten; er selbst versucht
keinen. Ein jeder wird von seinen eigenen Begierden versucht – fortgerissen
und verlockt.“ Keine Rede also davon, dass Gott selber uns in Versuchungen
hineinlockt und hineinführt, um sozusagen zu experimentieren, wie
wir uns verhalten, um uns auf die Probe zu stellen. Man wird die Bitte
etwa so verstehen: „Führe uns nicht an den Ort, nicht in Situationen
der Versuchung. Bewahre, verschone uns vor der Versuchung, Behüte
uns von der Macht der Versuchung.“ Wir merken: die Bitte hat etwas
zu tun mit der anderen um Erlösung vom Bösen.

*

Nun möchten wir natürlich gern wissen, an was für eine
Versuchung Jesus denkt. Jesus hat gewusst, wovon er redet, wenn er den
Vater im Himmel bittet „Führe uns nicht in Versuchung.“
Er hat gewusst, was Versuchung ist. Wir erinnern uns jetzt an die Erzählung,
die ich Ihnen, liebe Gemeinde, zuvor in der Lektion vorgelesen habe: die
Erzählung von der Versuchung Jesu in der Wüste. Sie steht im
4. Kapitel bei Matthäus, kurz vor dem Unservater. Es gibt da also
einen Zusammenhang. Nach seiner Taufe durch Johannes am Jordan hält
sich Jesus vierzig Tage lang in der Wüste auf und wird vom Teufel
versucht. Die Versuchungsgeschichte meint das ganze Erdenleben Jesu: Es
war ein von der Versuchung bedrängtes Leben. Dreimal setzt der Versucher
ein. Ich möchte jetzt nur auf die dritte Versuchung zurückkommen:
„Abermals nimmt ihn der Teufel auf einen sehr hohen Berg. Und er
zeigt ihm alle Königtümer der Welt und ihre Herrlichkeiten.
Und er sprach zu ihm: Das alles gebe ich dir, wenn du dich niederwirfst
und dich tief vor mir verneigst. Darauf sagt Jesus zu ihm: Weg da, Satan!
Denn es ist geschrieben: Tief verneigen sollst dich vor dem Herrn, deinem
Gott, und ihm allein dienen. Darauf lässt ihn der Teufel. Und da!
Engel traten heran und dienten ihm.“ (Matth. 4,8-11)

Das vielleicht ist die größte, die menschlichste aller Versuchungen:
Oben stehen und oben bleiben. Grösser, mächtiger, einflussreicher,
tüchtiger, schneller sein als andere im grossen Konkurrenzkampf.
Höher hinaus wollen. So viel wie möglich an sich reissen von
den Herrlichkeiten der Welt. Keine Grenzen respektieren. Das ist’s, was
die Versuchung uns einflüstert. Es ist das elementar Menschliche
und hat doch in unserer Gegenwart Dimensionen angenommen, die jede Grenze
sprengen. Alles kann man haben, alles kaufen, alles herstellen und machen.
Alles steht uns zur Verfügung, wohlverstanden: uns in den reichen
Ländern. Wirklich, die Welt liegt uns zu Füssen.

Die ganze Welt gewinnen – und darüber die Seele, das Leben verlieren!
Immer mehr junge Menschen verlieren die Orientierung, wissen nicht mehr,
wer sie sind und für was sie da sind und was das Ganze für einen
Sinn macht. Immer mehr Menschen fühlen sich in unserer Welt der grenzenlosen
Kommunikation einsam, unverstanden, ungebraucht.

*

Das ist die eine Seite der Versuchung: die Versuchung der Macht,
die Versuchung, alles machen, alles beherrschen und gebrauchen zu können,
alles in den Griff zu bekommen. Ihre Kehrseite aber ist die Resignation,
das Gefühl von Ohnmacht und Ratlosigkeit angesichts einer Welt, die
aus den Fugen gerät: angesichts einer Welt, in der die Kluft zwischen
den Habenden und den Armen immer grösser wird, die Kluft, die ja
eben deshalb grösser wird, weil wir der Versuchung zum Immer-mehr-Haben
nicht widerstehen können, die Kluft, aus der heraus das Schreckgespenst
von Gewalt und Terrorismus aufsteigt bis in die Machtzentren der Reichen.
Man kann ja doch nichts tun. Arme und Reiche hat es immer gegeben. Gewalt
gehört nun mal dazu, und das einzige Mittel gegen sie ist Gegengewalt.
Die Welt ist nun mal so, wie sie ist. Da kann man nichts machen. Am besten,
jeder schaut für sich und wie er ungeschoren davonkommt.

Gebet

Wir sehnen uns, Gott, nach dir!

Wir sehnen uns, Gott, dass die Gewalt ein Ende hat:
Die Gewalt der Worte und der Waffen;
Dass der Hunger gestellt wird:
Der Hunger nach Brot und Gerechtigkeit;
Dass wir Menschen die Sorgfalt lernen:
Die Sorgfalt für einander und für deine Schöpfung;
Dass aus Fremden und Feinden Vertraute und Freunde werden;
Dass Worte nicht verletzen, sondern heilen, trösten
Und Mut zusprechen;
Dass Hände nicht wegreissen und schlagen,
sondern zärtlich berühren:
dass Taube hören, Stummgemachte rede, Blinde aufblicken
und Gelähmte aufstehen:
dass die Vergessenen ans Licht kommen,
und die Toten auferweckt werden zum Leben;
dass Trägen der Trauer und des Schmerzes sich wandeln
in Tränen der Freude;
dass die Angst vergeht und die Liebe alle Furcht vertreibt;
dass das Böse verschwindet und überwunden wird
durch das Gute:
dass der Fluch zum Segen wird und die Klage zum Lied;
dass die Nacht ein Ende hat und Dein Tag anbricht,
Dein Reich kommt, dass Du, Gott, kommst und uns befreist.

Wir sehnen uns nach Dir, Gott!
Wir harren auf Deine Erlösung
Wir wollen für sie leben und ihr dienen.
Amen.

Klaus Bäumlin
Pfarrer der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Nydegg in Bern.
E-Mail: klaus.baeumlin@mydiax.ch

 

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