Quicklebendig

Quicklebendig

Ostersonntag, 04.04.2021 | Quicklebendig | Predigt zu Ex 14,8–14.19–23.28a–30a; 15,20–21 | von Pfarrer Dr. Christoph Kock |

Hinweis: Diese Predigt können Sie sich auch anhören!

I. Alles ist bereit

Der Tisch ist festlich gedeckt. Eine weiße Tischdecke, Servietten, das gute Geschirr. Gleich kommen die Gäste. Ein großer Teller steht in der Mitte. Darauf sieben Schalen mit sieben verschiedenen Speisen: Eine Schale Meerrettich. Der schmeckt bitter. So bitter war die Sklaverei, die das Volk Israel in Ägypten erdulden musste. Eine Schale mit braunem Mus, das aus Datteln, Feigen und Nüssen zusammengeknetet und mit Zimt gewürzt ist. So sah der Lehm aus, aus dem die Israeliten Ziegel brennen mussten. Sklavenarbeit in Ägypten. Auch die anderen Speisen in den Schalen rufen jeweils eine Erinnerung wach. Gleich wird an diesem Tisch Passah gefeiert und eine Geschichte erzählt. Wie Gott das Volk Israel aus der Sklaverei befreit hat. Sie wird so erzählt, als ob die, die hier gleich sitzen werden, selbst dabei gewesen sind. Nicht irgendeine Geschichte, sondern ihre Geschichte wird Gestalt annehmen. Sie wird erinnert und gleichzeitig erlebt: Wie sie sich auf den Weg machten, aus der Sklaverei befreit, von Gott gerettet. „Ein Wunder vor unseren Augen.“

Ein paar Minuten sind wir an diesem Tisch zu Gast. Wir hören Jüdinnen und Juden zu, wie sie sich ihre Geschichte erzählen. Dazu gehört ein Moment höchster Gefahr. Als der Pharao realisiert, dass niemand mehr da ist zum Ziegelbrennen und Pyramidenbauen, setzt er seine Streitmacht in Bewegung. Der König bläst zur Sklavenjagd. Ohne Sklaven geht es nicht. Von diesem Gedanken ist er wie besessen und lässt den Pferden die Sporen geben. Was dann geschieht, steht im Buch Exodus, im Buch des Auszugs, in Kapitel 14.

II. Rettung am Schilfmeer: Ex 14,8–31; 15,20–21 (Basisbibel)

Der Herr hatte es so gefügt, dass der Pharao, der König von Ägypten, nicht begriff und die Israeliten verfolgte. Die aber zogen aus mit erhobener Hand. Die Ägypter jagten ihnen nach –alle Pferde und Wagen des Pharao, seine Reiter und sein Heer. Die Israeliten lagerten noch am Meer, bei Pi-Hahirot vor Baal-Zefon. Dort holten die Ägypter sie ein.

Als der Pharao näherkam, blickten die Israeliten auf und sahen:

Die Ägypter rückten hinter ihnen heran!

Da bekamen die Israeliten große Angst und schrien zum Herrn um Hilfe.

Sie beklagten sich bei Mose:

»Gab es denn keine Gräber in Ägypten?

Hast du uns in die Wüste gebracht, damit wir hier sterben?

Wie konntest du uns aus Ägypten führen!

Haben wir nicht schon in Ägypten zu dir gesagt:

Lass uns in Ruhe! Wir wollen lieber den Ägyptern dienen!

Es ist besser, dass wir in Ägypten Sklaven sind, als in der Wüste zu sterben.«

Darauf sagte Mose zum Volk:

»Fürchtet euch nicht!

Stellt euch auf und seht, wie der Herr euch heute retten wird!

Denn so, wie ihr die Ägypter jetzt seht, werdet ihr sie nie wieder sehen.

Der Herr wird für euch kämpfen. Ihr aber sollt still sein.«

[…]

Dann erhob sich der Engel Gottes.

Bisher war er an der Spitze der Israeliten gegangen.

Jetzt ging er zu ihrem Schutz hinter ihnen her.

Auch die Wolkensäule entfernte sich von der Spitze und trat hinter die Israeliten.

Sie stand zwischen den Ägyptern und den Israeliten.

So kamen sie die ganze Nacht einander nicht näher.

Die Wolke ließ es stockdunkel werden, und die Feuersäule erleuchtete die Nacht.

Mose streckte die Hand aus über das Meer.

Da trieb der Herr das Meer die ganze Nachtdurch einen Ostwind zurück.

Er machte das Meer zum trockenen Land, und das Wasser teilte sich.

So konnten die Israeliten auf trockenem Boden mitten durch das Meer ziehen.

Das Wasser stand rechts und links von ihnen wie eine Mauer.

Die Ägypter aber verfolgten sie.

Sie jagten hinter ihnen her mitten in das Meer –alle Pferde des Pharao, seine Streitwagen und Reiter.

[…]

Das Wasser flutete zurück und bedeckte Wagen und Reiter.

Das ganze Heer, das dem Pharao folgte, ging unter.

Kein Einziger von ihnen blieb am Leben.

Aber die Israeliten waren auf trockenem Boden mitten durch das Meer gekommen.

Denn das Wasser stand rechts und links von ihnen wie eine Mauer.

So rettete damals der Herr die Israeliten vor den Ägyptern.

III. Ein Siegeslied ohne Engelchor

Ein Kampf auf Leben und Tod. Die Angst ist riesengroß. Es hagelt Vorwürfe gegen Mose: „In was für eine Situation hast du uns gebracht. Gleich werden wir alle tot sein!“ Doch dessen Vertrauen steht felsenfest:

»Fürchtet euch nicht!

Stellt euch auf und seht, wie der Herr euch heute retten wird!

Denn so, wie ihr die Ägypter jetzt seht, werdet ihr sie nie wieder sehen.

Der Herr wird für euch kämpfen. Ihr aber sollt still sein.«

Es wird Tote geben. Aber die Verfolger sind es, die umkommen, die Totgeweihten werden leben. Gott stellt alles auf den Kopf, aber vorher lässt Gott alles beim Alten: Der Pharao kann gar nicht anders, als sich und seine Armee ins Verderben zu schicken. „Gott verstockte sein Herz“, heißt es in der Lutherübersetzung. Des Sklavenhalters Herz: unbarmherzig verhärtet. Gott zwingt ihn auszuleben, was in ihm steckt. Keine Chance zur Umkehr.

Der Pharao bleibt sich treu, aber Gott stellt alles auf den Kopf. Israel sieht das Wasser schwinden und muss sich dann entscheiden. Setzt Schritt vor Schritt dorthin, wo noch keiner unterwegs war. Geht ein Wagnis ein und wird gerettet. Die Sklavenjägerarmee geht unter.

Ein Happyend über Leichen? Im nächsten Kapitel heißt es:

Die Prophetin Mirjam, die Schwester Aarons, nahm ihre Pauke in die Hand. Auch alle anderen Frauen griffen zu ihren Pauken und zogen tanzend hinter ihr her.

Mirjam sang ihnen vor:

Singt für den Herrn:

Hoch und erhaben ist er.

Rosse und Wagen warf er ins Meer.

Miriam singt das Lied derer, die überraschend überlebt haben. Gott lässt sie gewähren. Zuvor, so wird in jüdischer Tradition erzählt, wollten schon die Engel ein Freundenlied anstimmen, als sie sahen, was am Schilfmehr geschah. Aber „Gott gebot ihnen Schweigen und sprach: ‚Das Werk meiner Hände ertrinkt im Meer, und ihr wollt singen!‘“[1]

Trotz des Sieges lässt Gott im Himmel auf Halbmast flaggen. Die Feinde bleiben Gottes Geschöpfe. Gott trägt Trauer.

IV. Frohe Ostern!

Von Passah zu Ostern. Wir stehen auf vom jüdischen Tisch, gelangen zum Grab eines Juden. Hören die Botschaft an diesem Morgen: „Jesus ist auferstanden, er ist nicht hier.“ Gott hat den Sieg über den Tod errungen. Trotz aller sichtbarer Macht, die der Tod noch hat. Den Corona-Toten zum Trotz. Denen zum Trotz, die der Gewalt von Diktatoren und Sklavenhaltern zum Opfer fallen. Wie am Schilfmeer hat Gott gekämpft und den Sieg errungen. Der Tod selbst ist besiegt. „Ein Wunder vor unseren Augen.“ Die Botschaft ist beängstigend und verstörend, von Anfang an. Die Frauen reagieren mit Furcht und Zittern. Wenn das nur wahr wäre …

„Jesus ist auferstanden.“ Heute wird sie wieder erzählt, die Geschichte vom vergeblichen Gang zum Grab. Ich gehe mit. Schaue in die leere Grabhöhle, höre die Botschaft des Engels. Bin hin- und hergerissen. Möchte glauben, dass Gott den Sieg errungen hat. Obwohl, nein, weil ich weiß, dass der besiegte Feind immer noch für Angst und Schrecken sorgt. Dagegen hilft nur eine Geschichte. Wer erzählt und zuhört, ist quicklebendig.

V. Neues aus der Welt

Manchmal geschieht das im Kino bzw. vor dem Bildschirm:

1870. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind tief gespalten. Fünf Jahre liegt der Bürgerkrieg zurück. Texas gehört zum besiegten Süden. Die Armee, als Besatzungsmacht empfunden, kann mehr schlecht als recht für Sicherheit sorgen. Räuber und Menschenhändler lauern an jeder Ecke. Ehemalige Sklaven stehen in Gefahr, gelyncht zu werden. Eine Waffe ist schnell zur Hand. Ein Film wie ein Western.

Captain Kyle Kidd ist vom Krieg gezeichnet. Während er im Norden getötet hat, starb im Süden seine Frau. Mit ihr hat er sein Zuhause verloren, zieht nun von Stadt zu Stadt, um Menschen für 10 Cent pro Person und Abend aus der Zeitung vorzulesen. So erfahren sie auch in den entlegensten Gegenden, was es Neues in der Welt gibt. Eines Tages findet Captain Kidd ein entwurzeltes Mädchen. Das Kind deutscher Siedler wurde mit vier Jahren von Kiowa-Indianern entführt und aufgezogen, nachdem diese ihre Familie ermordet hatten. Sechs Jahre später töteten Soldaten die Kiowa-Familie des Mädchens. Captain Kidd übernimmt die Aufgabe, sie zu entfernten Verwandten zu bringen.

„Neues aus der Welt“ erzählt von der Reise zweier Heimatloser durch ein gewaltbereites Land: ein Mädchen, das als Indianerin in die Welt der Weißen zurückkehren muss, und ein ehemaliger Soldat, der jede Hoffnung auf Zukunft verloren hat. Beide sind gezeichnet. Beide meistern unterwegs Gefahren. Und doch stehen nicht rauchende Colts im Mittelpunkt, sondern die Geschichten, die Captain Kidd zum Leben erweckt und die nach und nach Johanna in ihren Bann ziehen. „Story“ ist das erste Wort, das sie auf Englisch lernt. Das Mädchen ist fasziniert, wie Menschen Anteil nehmen an dem, was und wie Kidd vorliest. An einem abgelegenen Ort führt es sogar dazu, dass sie sich eines Despoten entledigen – weil Kidd sich weigert, dessen Fakenews zu verbreiten und stattdessen eine andere Geschichte in ihre Welt bringt.

Die letzte Zeitungsmeldung, die Captain Kidd vorliest, ist die Geschichte einer Auferstehung. Ein Mann schien tot, wurde neben der Kirche beerdigt, kehrte jedoch ins Leben zurück. Weil er lautstark auf sich aufmerksam gemacht hatte, wurde er von einer Hochzeitsgesellschaft gerettet. Während Captain Kidd das zunächst geschockte und dann ergriffene Publikum mitnimmt, sorgt Johanna für die passenden Geräusche. Sie macht das Klopfen aus dem Sarg hörbar und lacht. Weil der Mann lebt. Weil Kidd sie gefunden hat und sie ihn. Weil sie beide angekommen und in ihren Geschichten Zuhause sind. Johanna strahlt übers ganze Gesicht. Ein Happyend vor unseren Augen.

VI. Wer erzählt und zuhört, ist quicklebendig

Geschichten verbinden Menschen.

An einem Abend in einer US-amerikanischen Kleinstadt bringen Captain Kidd und Johanna Neues in eine kleine Welt.

Am Passahabend erinnern sich Jüdinnen und Juden an das Ende der Sklaverei, als hätten sie es selbst erlebt. Gott befreit.

Am Ostermorgen erzählen wir von Frauen, die zu Jesu Grab gehen und verstört zurückkommen. Ihre Botschaft hören wir, als wäre sie zu uns gesprochen: Der Herr ist auferstanden. Gott macht lebendig. Unglaublich, wie wird das nur weitergehen. Davon wird zu erzählen sein. Gegen die Angst, die der Tod verbreitet. Wer erzählt und zuhört, ist quicklebendig.

Amen.

Lieder: EG 279,3–4; EG 116

Filmempfehlung:

News of the World, USA 2020; Regie: Paul Greengrass (auf Netflix zugänglich).

Pfarrer Dr. Christoph Kock

Wesel

E-Mail: christoph.kock@ekir.de

Dr. Christoph Kock, geb. 1967, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland. Seit 2007 Pfarrer an der Friedenskirche in der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel.

[1]            Megilla 10b; Sanhedrin 39b; zitiert nach: Die Tora. In jüdischer Auslegung, hg.v. W. Gunther Plaut, Bd. II: Schemot. Exodus, Gütersloh 2000, S. 155.

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