Römer 8,18-25

Römer 8,18-25

Vom Seufzen und Sehnen | Drittletzter Sonntag im Kirchenjahr | 12. November 2023 | Röm 8,18-25 | Marion Werner

Gnade sei mit euch und Frieden, von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus!

Liebe Gemeinde,

den November gibt es, damit wir nach vorne denken. Weiter als bis zur nächsten Woche und dem zu Ende gehenden Jahr. Weiter als Nebel und Dunkelheiten und Sorgen reichen. Noch viel weiter nach vorne, bis dahin, wo sich der Himmel auftut und wir die Herrlichkeit sehen.

Das zu üben, dazu lädt uns heute der Apostel Paulus ein, und zwar mit einem Abschnitt aus dem Römerbrief, den Sie sehr aktuell finden werden. Und es wird Sie erstaunen, dass diese Worte ungefähr im Jahr 56 n.Ch. geschrieben wurden.

Römer 8,18-25 (Gute Nachricht)

18 Ich bin ganz sicher, dass alles, was wir in dieser Welt erleiden, nichts ist, verglichen mit der Herrlichkeit, die Gott uns einmal schenken wird. 19 Darum wartet die ganze Schöpfung sehnsüchtig und voller Hoffnung auf den Tag, an dem Gott seine Kinder in diese Herrlichkeit aufnimmt. 20 Ohne eigenes Verschulden sind alle Geschöpfe der Vergänglichkeit ausgeliefert, weil Gott es so bestimmt hat. Aber er hat ihnen die Hoffnung gegeben, 21 dass sie zusammen mit den Kindern Gottes einmal von Tod und Vergänglichkeit erlöst und zu einem neuen, herrlichen Leben befreit werden. 22 Wir wissen ja, dass die gesamte Schöpfung jetzt noch leidet und stöhnt wie eine Frau in den Geburtswehen. 23 Aber auch wir selbst, denen Gott bereits jetzt seinen Geist als Anfang des neuen Lebens gegeben hat, seufzen in unserem Innern. Denn wir warten voller Sehnsucht darauf, dass Gott uns als seine Kinder zu sich nimmt und auch unseren Körper von aller Vergänglichkeit befreit. 24 Darauf können wir zunächst nur hoffen und warten, obwohl wir schon gerettet sind. Hoffen aber bedeutet: noch nicht haben. Denn was einer schon hat und sieht, darauf braucht er nicht mehr zu hoffen. 25 Hoffen wir aber auf etwas, das wir noch nicht sehen können, dann warten wir zuversichtlich darauf, dass es sich erfüllt.

Möge Gott sein Wort an uns segnen. Amen

Unser Predigtabschnitt gehört zu den wenigen Abschnitten des Neuen Testamentes, der ausdrücklich die ganze Kreatur im Blick hat. Nicht nur die Menschen, sondern auch Pflanzen und Tiere. Paulus sieht nicht nur das Seufzen und Leiden der Menschen, sondern auch das Leiden der gesamten Natur! Und er bindet alles Lebendige in die Heilsgeschichte Gottes ein. Paulus sagt den Kindern Gottes und der gesamten Schöpfung zu, dass das Leiden und Seufzen einmal ein Ende haben werden. Gott selbst wird alles Lebendige erlösen und in seine Herrlichkeit führen.

Das macht diesen Text so speziell und aktuell.

In früheren Jahrhunderten waren Pflanzen und Tiere für Menschen nur «Rohstofflager» für das eigene Leben. Dass man mit Tieren achtsam umgehen soll, weil sie auch Leiden und Freude empfinden und lebendige Wesen sind, die Achtsamkeit vor allem Leben – das alles hat sich über eine lange Zeitperiode bis heute entwickelt. Von dem deutschen Philosophen Arthur Schophenhauer wissen wir, dass er sich noch im 18. Jahrhundert darüber beklagt hat, dass das Handeln der Menschen Tieren gegenüber «ohne moralische Bedenken» sei. Die Studien über Pflanzen, besonders über Bäume, ihre Art sich gegen Gefahren zu wehren, unterirdisch oder über die Luft durch chemische Stoffe zu kommunizieren, aufeinander aufzupassen – die sind erst wenige Jahre alt. «Das geheime Leben der Bäume. Wie sie fühlen, wie sie kommunizieren – die Entdeckung einer verborgenen Welt», das Buch des deutschen Försters Peter Wohlleben habe ich mit grosser Faszination gelesen.

Heute leben wir in einer Zeit, in der wir anders über die Natur denken als früher. Wir wissen um die Endlichkeit von Ressourcen, wir wissen um das grosse Leiden, dass wir Menschen Pflanzen und Tieren zufügen, wir wissen wie hemmungslos wir die Natur ausgebeutet haben und es noch tun, wir wissen um Artensterben. Besonders aber wissen wir, dass unser Leben als Menschen mit der gesamten Schöpfung verflochten ist. Schaden wir der Natur, schaden wir uns selbst. Das zeigt uns die Klimaerwärmung sehr deutlich.

Von seiner Glaubenstradition her erinnert Paulus daran, dass die gesamte Schöpfung, auch wir Menschen, der Vergänglichkeit unterliegen – «weil Gott es so bestimmt hat». Menschen, Tiere, Pflanzen haben jeweils nur eine bestimme Lebensspanne erhalten. Zu der gehört Wachsen und Gedeihen, Leiden und Seufzen, Überlebenskampf, Freude und Hoffnung. Hoffnung darauf, dass Gott einmal seine gesamte Schöpfung in die Herrlichkeit erlösen wird, wo Leiden und Seufzen aufhören.

Karl Marx hat auch in Bezug auf diese Worte des Paulus gesagt, dass es sich dabei nur um eine billige Vertröstung des Volkes handelt, um «Opium für das Volk». Er meinte damit, dass die Hoffnung auf Gottes Herrlichkeit die Menschen im Hier und Heute, wie eine Droge benebelt. Und er ist nicht der Einzige, der dem Christentum in seiner Hoffnung auf die Erlösung solche Vorwürfe macht.

Ich denke, Paulus wolle die Menschen nicht benebeln. Im Gegenteil, er sieht sehr genau auf das Leiden von Menschen und Natur, nimmt es sehr ernst. Er möchte aber, dass wir uns nicht nur auf das Leiden von heute, auf die Sorgen der Welt von heute konzentrieren und daran verzweifeln. Er will eben diesen Blick in die Zukunft und in die Herrlichkeit Gottes mit uns trainieren. Er möchte, dass wir uns von dort her für heute Hoffnung und Zuversicht holen.

Zwei Techniken gibt Paulus uns mit: eine Übung für die Gedanken und eine Atemtechnik.

Für die Gedankenübung nutzt Paulus einen besonderen Vergleich: Paulus sagt, «Wir wissen, dass die gesamte Schöpfung jetzt noch leidet und stöhnt, wie eine Frau in den Geburtswehen» – Paulus vergleicht das Leiden dieser Welt mit dem Geburtsprozess. So eine Geburt dauert meistens lange, die Schmerzen kommen und gehen, werden zum Schluss immer schlimmer. Gleichzeitig stösst der Körper in der schmerzhaftesten Phase aber auch Endorphine aus, die schmerzlindernd sind und der Mutter helfen, sich auf ihr Kind zu freuen und die Geburtsschmerzen dann auch hinter sich zu lassen.

Für Paulus ist das Leiden hier auf Erden so etwas wie ein Geburtsprozess. Mitunter sehr schmerzhaft, aber mit Aussicht auf Freude und neues Leben. Vor dem Hintergrund dieses Bildes kann er sagen: Es kommt einmal der Tag, an dem ihr die Herrlichkeit erleben werdet und dann wird das Leid dieser Zeit für euch nicht mehr so wichtig sein. «Ich bin ganz sicher, dass alles, was wir in dieser Welt erleiden, nichts ist, verglichen mit der Herrlichkeit, die Gott uns einmal schenken wird»

Paulus möchte, dass wir mitten in Leid und Sorge nach vorne sehen, dahin, wo die Herrlichkeit ist, die wir einmal erleben werden. Er möchte, dass wir uns vorstellen, wie es einmal sein wird und über dieser Vorstellung im Hier und Heute Trost finden und Zuversicht. Nicht billige Vertröstung, sondern echten Trost.

Zu dieser Gedankentechnik der Geburt kommt bei Paulus quasi als zweite Übung für unser Training auch noch eine Atemtechnik hinzu. Das Seufzen.

Wir können das hier zusammen probieren. Alle seufzen tief.

Seufzen tut man, wenn es einem zu viel wird, man Sorgen hat, zuweilen keinen Ausweg sieht. Seufzen drückt diesen Gefühlszustand aus, aber es schafft uns auch Erleichterung im Ausatmen und Loslassen.

Wo wir keine Worte mehr haben, nicht mehr weiterwissen, können wir seufzen. Und es hilft. Im erwachsenen Taufunterricht sagte mir einmal jemand: «Wenn ich vom Leid so berührt bin, wenn ich gar nicht mehr Worte zum Beten finde, dann seufze ich, dass ist dann mein Gebet und meine Bitte an Gott».

Einige von uns verbinden mit dem Seufzen noch den alten Ausdruck «Ach Je!» Oder «Ach, Jemine!» – das heisst ja «Ach, Jesus!» oder «Ach, mein Herr Jesus!».

Bewusst redet Paulus vom «Seufzen» – Menschen und auch die Natur seufzen. Und wie sehr die Natur heute seufzt! Und die Menschen ebenso! Herzzerreissend seufzen sie.

Das Seufzen ist bei Paulus nicht ein Zeichen von Hilflosigkeit. Wer seufzt, der sehnt sich nach Veränderung und wünscht sich Verbesserung herbei. Wer seufzt, hat Hoffnung.

Nun, unsere Welt leidet. Nichts, was lebt, bleibt davon unberührt. So ist es, war es und wird es sein. Und zugleich, kann Paulus sagen, gibt es allen Grund zur Hoffnung, denn diese Welt und alles, was wir in ihr erleben, ist Teil eines grösseren Ganzen. Dieses Leben, sagt Paulus, ist, wie geboren zu werden. Schmerzhaft, erschütternd, gewaltig, berührend und oft wunderschön. In jedem Fall ein intensiver Weg «da durch», der uns nicht erspart bleibt.

Und dann, dann kommt das Leben ganz in Gott – sagt Paulus. Deswegen brauchen wir keine Angst zu haben, sondern können zuversichtlich leben. Wir dürfen ganz da sein in unserem Leben, mit seinen Freuden und Sorgen. Und eben das Seufzen nicht vergessen.

So lasst uns zuversichtlich bleiben, denn Gott ist da.

Amen

Marion Werner

Pfarrerin

pfarrerin@luther-zuerich.ch

Kurvenstrasse 39, 8006 Zürich

Martin Luther Kirche Zürich

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