Römer 8,18-25

Römer 8,18-25

„Vom Seufzen zum Aufatmen“ | 23. Sonntag nach Trinitatis | 12.11.2023 | Röm 8,18-25 | Manfred Mielke |

Liebe Gemeinde,

Wir haben uns privat eine Kühltasche gekauft, eine elektrische, für längere Autofahrten. Darin bleibt Kaltes länger kalt und Warmes länger warm, je nach Schalterstellung. Falsch geschaltet gab es beim ersten Mal „Kaltes-Mineralwasser-in-Lauwarm“, was nicht wirklich erfrischte. Ja, Pannen passieren, sie gehören zum Alltag. Eil-Pakete kommen zu spät, der Schutzschild gegen Raketen erweist sich als löcherig, ein Strom-Ausfall legt den Computer lahm. Dazu sagt ein makabres Sprichwort: „Zum Pech kommt oft noch Unglück hinzu!“ Dabei ist das normale Leben an sich schon ein erstaunliches Geschenk. Vieles im Alltag funktioniert reibungslos. Wir fühlen uns dann wie auf einer Wohlfühl-Oase, um die rundherum das Tohu-wa-Bohu tobt. Gegen die Unordnung im Kinderzimmer erfand jemand eine „Socken-Suchmaschine“ und gegen den Satelliten-Schrott wird demnächst ein galaktischer Staubsauger erfunden. Im Kleinen wie im Großen ist das Chaos sowohl der Urzustand wie der Dauerzustand. Kein Wunder, sagt Paulus: „Die ganze Schöpfung seufzt und ängstigt sich bis zu diesem Augenblick. Die Leiden der Zeit lasten schwer auf uns und bringen jeden zum Seufzen.“

Diese Sätze des Paulus stehen in einem Absatz des Römerbriefs, der sich so liest: „Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat –, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.“ (Römerbrief 8,18-25)

Paulus sieht die Angst in beiden Dimensionen. All-umfassend ängstigt sich der Globus, und mittendrin ängstigt sich der einzelne Mensch. Das hält sich durch seit Urzeiten – bis zu diesem Augenblick. So sieht es Paulus für seine Zeit, so spüren wir es auch für uns. Aber Paulus weiß, dass Gott auf das ängstliche Ausharren und das beharrliche Seufzen mit Initiativen reagiert. Wir befinden uns demnach in einer „Knechtschaft“, Gottes Ziel ist unsere Befreiung.  Unser Seufzen ist schon ein Schritt darauf zu, beim Seufzen verlassen wir vor-„sichtig“ unseren „stillen Jammer“. Was passiert eigentlich beim Seufzen? – Seufzen ist ein demonstratives Ausatmen, geräuschvoll, aber sprachlos, dabei um Mitleid werbend. Es hat sich lange in uns angesammelt. Nun versuchen wir, Druck abzulassen und der Sehnsucht neuen Platz zu geben. „Wir seufzen in uns selbst und sehnen uns nach einer neuen Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes!“ Seufzen ist jedes Mal eine kleine Werbeveranstaltung – um Mitgefühl, um Begleitung, um Ermutigung; um etwas Neues, das wir noch nicht beschreiben können. So wirbt die Schöpfung mit ihrem Seufzen um die Befreiung aus ihrer Vergänglichkeit. Wir Menschen werben ähnlich um die Erlösung aus der Fremdbestimmung. Für beide steht viel auf dem Spiel, denn die Schöpfung wird zerstört „durch den, der sie unterworfen hat“. Bei Paulus ist es der Satan, in dessen Wirkungs-Nachfolge wir stehen. Wir dagegen leiden daran, dass wir die Erstlingsgabe verspielt haben, gemeint ist damit unsere Geburtlichkeit, unser Mut zur Glaubens-Nachfolge und unsre Berufung, mit Christus aufzuerstehen. Das sind große Worte, deren Leuchtkraft uns aber aufhelfen in unserer Verzagtheit.

Doch dann – wie im Bild der Kühl- und Warmhalte-Tasche – legt Paulus einen kleinen Schalter um, den vom Seufzen zum Aufatmen. Er schreibt: „Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Und wenn wir‘s noch nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.“ Zur Rettung fügt er also an: „Doch! Schon!“ Und zur Hoffnung fügt er hinzu: „Noch! Wartend!“ So schaltet er um von Vergangenheit auf Zukunft, vom kummervollen Ausharren auf das sehnliche Erwarten. Dafür destilliert er aus unserer Erschöpfung das Seufzen heraus und lässt dafür in uns einen frischen Odem von Gott her einfließen. Im Ausseufzen und Einatmen spüren wir im guten Sinne es psycho-somatisch, dass wir Geschöpfe Gottes sind. Wir wurden als Baby von unserer Mutter abgenabelt und dabei als Geschöpfe aus dem Tohu-wa-Bohu herausgeholt. Oder mit den Worten des Paulus: „Wir wurden zur Herrlichkeit erhoben!“ Gott hat uns nicht in der Erbfolge der Sklaverei eingekettet gelassen, sondern uns in die Souveränität der Kinder Gottes hinein entbunden.

Die alte Ausgangssituation, als des Paulus‘ Schalter noch auf „Seufzen“ stand, beschreibt er so: „Die Leiden der Zeit lasten schwer auf uns und bringen jeden zum Seufzen.“ Paulus hat vermutlich tief geseufzt in Gefängniszellen, in Seenot, bei Auspeitschungen. Er galt als Verräter oder Aufwiegler, manchmal als beides. Die Legende besagt, er sei bei Neros Christenverfolgung durchs Schwert gestorben. Doch schon ein Jahrzehnt vorher, als er den Römerbrief schrieb, kam der staatlich organisierte Terror auf, der Völker unterwarf, Christen verfolgte und millionenfaches Seufzen bewirkte. Leider hörte das nicht auf. Heute treibt uns der Terror um, der im Namen der Religionen herum-vagabundiert und schlachtet und ausräuchert und erniedrigt und foltert.

Ich übernahm in meinem Soziologiestudium das Referat: „Juden-Pogrome vor dem Holocaust“ und war aufgewühlt, als ich die Kette der Ereignisse als Tabelle zusammenstellte. Und im Geschichtsunterricht listete unsere Lehrer die Toten des Deutsch-Französischen Krieges auf. Die Zahlen prägen mich bis heute, kam ich doch in Frankreich zur Welt und lebe seit langem in Deutschland. Jede von uns und jeder von uns hat in der Familiengeschichte viele Tränen und Seufzer zu finden, aber auch den Trost neuer Anfänge.

Paulus kannte den Umschaltmoment Gottes in der eigenen Biografie und in der Völkergeschichte, den der Prophet Micha lange zuvor so beschrieb: „In den letzten Tagen aber werden die Völker herzulaufen, indem sie sagen: ‚Lasst uns hinaufgehen zum Tempel Jahwes, damit er uns lehre seine Wege!‘ Dann werden viele Heiden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Sie werden fortan nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken!“ (vgl: Micha 4) In der Antike gab es dagegen Mythen, die den drohenden Einsturz des Himmels als Götterstrafe vorhersahen. In der Zeitenwende des Paulus bekämpften die Cäsaren die Barbaren, denn die würden ja den heimischen Wohlstand verschlingen. Heute scheint sich für „die ganze Schöpfung“ die Warnung zu erfüllen: „Der Tod ist der Sünde Sold!“ Und dennoch ist aus der Perspektive der Hoffnung der drohende Kollaps ein Durchgang. Das Evangelium setzt ja nicht auf eine Wiederbelebung danach oder auf ein hektisches „Weiter-so“, sondern auf einen organischen Neuanfang. Von daher sehnen wir uns nach dieser „neuen Kindschaft“, nach der korporativen Ablösung vom Todestrieb, nach dem Auftakt der Ewigkeit.

Dafür nimmt Paulus das Bild einer Baby-Geburt, genauer die Phase davor, die pränatale Phase, und prophezeit: “Die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes!“ Die Welt liegt demnach in einem Geburtsschmerz, in Wehen hin auf das Reich Gottes. Depressionen und Erlösung sind dabei unauflöslich miteinander verknüpft. In einer Broschüre für werdende Eltern werden die Signale eines Neugeborenen so gedeutet: „Durch Gähnen, Seufzen und Quengeln signalisiert das Kleinkind, dass es müde ist.“

Bevor uns Erwachsenen das Quengeln weiter ermüdet, ist einmal Durchschlafen bestimmt eine gute Lösung. Mit unserm Morgengähnen und Durchatmen bündeln wir dann unsre Sehnsucht neu. Wir legen den Schalter um im Vertrauen, dass Gott auch größere Hebel bedienen wird. Wir lassen uns stärker von seiner Ewigkeit faszinieren und bekommen eine zweite Luft für den Weg hin zu neuen Himmeln und einer neuen Erde, in denen Gerechtigkeit wohnt. Das Evangelium nimmt unsere Weltuntergangs-Stimmung ernst, bindet sie aber ein in die Verheißungen Gottes. Sie holen uns aus der Lauheit heraus in ein neues Gleichgewicht. Als Gerettete leben wir im „Doch, schon!“ und als Hoffende sind wir „noch wartend“. Diese Ambivalenz öffnet uns zu einer Hilfsbereitschaft hin zu denen, die stumm und hoffnungslos gemacht wurden.

Dass Gott mit uns, seinen Geschöpfen, seufzt und neue Luft holt, sagt er selber: „Sehr lange habe ich geschwiegen. Aber jetzt kann ich nicht mehr an mich halten. Nun schreie ich auf wie eine Frau in den Wehen, ich keuche und schnappe nach Luft.“ Das ist Gottes Beitrag zu unserer neuen Lebensfähigkeit. Amen (Jesaja 42,14; nach: „Hoffnung für alle“)

Vorschlag Lieder:

In jenen letzten Tagen wird’s geschehn (Melodie: Wir haben Gottes Spuren festgestellt; in: Singt von Hoffnung 72)

Atme in uns, heiliger Geist

I’m gonna lay down my sword and shield

An dunklen, kalten Tagen (Text: Claus Clausen; Melodie: Christoph Georgii; evtl nach EG 521: „O Welt, ich muss dich lassen” in: Wo wir dich loben, wachsen neue Lieder 107)

  1. An dunklen, kalten Tagen beschleicht uns banges Fragen:

Was wird wohl morgen sein? Gott kommt und schafft die Wende,

macht Angst und Furcht ein Ende und lässt uns Menschen nicht allein.

  1. Voll Sorgen sind die Zeiten, voll Krieg, Gewalt und Streiten,

wer weiß, was kommen mag? Gott kommt, verscheucht die Schatten,

die uns geängstigt hatten. Sein Licht geht auf zum neuen Tag.

  1. Getrieben und in Eile fliehn wir der Langeweile

in atemloser Hast; Gott kommt mit seinem Segen

uns auf dem Weg entgegen, schenkt ruhelosen Seelen Rast.

  1. Was wir zutiefst ersehnen, dass Menschen sich versöhnen,

scheint unerreichbar fern. Gott kommt, will Frieden schenken,

die Welt zum Guten lenken, und dann bricht an das Reich des Herrn.

  1. Wenn nun die Kerzen glänzen: auf unsren Tannenkränzen

so leuchtend, hell und schön. Gott kommt auf diese Erde,

dass wahrer Friede werde, der nie mehr wird zu Ende gehn.

  1. Ein Kind wird uns gegeben, als Hoffnung für das Leben:

In ihm bricht Zukunft an. Gott kommt, für uns geboren,

er gibt uns nicht verloren. Was Gott tut, das ist wohlgetan.

Vorschlag Fürbitte:

[Die kursiven Zeilen spricht eine andere Person]

Gott, so vieles ist zerbrochen. Die Träume der Menschen in Israel und im Gaza-Streifen. Immer wieder ist er da, der Krieg. Immer wieder Kämpfer, die sterben; Alte, die es nicht fassen können; Kinder, die ihre Eltern vermissen. Wir fühlen uns ohnmächtig, wenn wir davon hören, wenn wir die Bilder sehen.
Du, Gott, bist nicht ohnmächtig. Du bist nicht ohne Macht.

Häuser bauen, Wunden verbinden, Seelen heilen.

Gott, so vieles ist zerbrochen. Das Mitgefühl mit denen, die in Lagern ausharren, jetzt im Winter, ohne Heizung. So schnell übersehen und überhören wir
die Hilferufe aus wackligen Booten, aus Kühllastern und an Grenzzäunen. Du siehst und hörst. Du überhörst und übersiehst nichts, Gott.

Leben retten, Hilfe organisieren, Mauern und Zäune einreißen. In der Welt und in unseren Köpfen.

Gott, so vieles ist zerbrochen. Der Anstand und wie wir miteinander umgehen. Mit unserer Geschichte, mit unserer Demokratie. Es gibt Beschimpfungen,
unbedachte Worte, die in unbedachte Taten führen. Viele vergessen, was einmal war, hier in unserem Land. Du fluchst nicht, du segnest. Gott, dein Wort verwandelt.

Hetze eindämmen, mutmachende Worte zusprechen, der Hoffnung eine Stimme verleihen.

Gott, so vieles ist zerbrochen. Das Verständnis für die Natur, die Umwelt, das Klima, die Welt in der wir leben. Hitzige Diskussionen, Verlustängste und Demonstrationen. Du, Gott, hast sie geschaffen: unsere Welt. Du schaffst neues Leben – jeden Tag.

Demut lernen, achtsam leben, den Dank nicht vergessen.

Gott, so vieles ist zerbrochen. Nicht zuletzt der Glaube in deine Kraft, dass du etwas änderst. Dass du uns hörst, dass wir auf dich vertrauen können. Aber du zeigst sie, jeden Tag aufs Neue: deine Macht. Du lässt uns nicht alleine. Du begleitest uns.

Hoffnung, die stärker ist als alle Zweifel. Vertrauen, das stärker ist als all unsere Angst. Liebe zu uns, die niemals endet.

(Vorschlag des „Zentrum Verkündigung“ der Evgl. Kirche Hessen-Nassau; zum drittletzten Sonntag nach Trinitatis 12.11.2023)

Manfred Mielke, Pfarrer der EKiR im Ruhestand, geb 1953, verheiratet, 2 Söhne. Sozialisation im Ruhrgebiet und in Freikirchen. Studium in Wuppertal und Bonn (auch Soziologie). Mitarbeit bei Christival und Kirchentagen. Partnerschaftsprojekte in Ungarn (1988- 2011) und Ruanda (2001-2019). Musiker und Arrangeur.

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