Sich selbst sehen – mit anderen Augen als den eigenen

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Sich selbst sehen – mit anderen Augen als den eigenen

Predigt über Matthäus 11,16-24 (dänische Perikopenordnung) | verfasst von Margrethe Dahlerup Koch | aus dem Dänischen übersetzt von Eberhard Harbsmeier |

Wissen Sie noch, wie das war vor nur wenigen Jahren, wenn man in Kopenhagen war, und da kamen Japaner und Amerikaner und baten darum, ein Foto von ihnen zu machen? Große, teure Kameras wurden einem gerne anvertraut, während sie selbst und ihre Familie sich vor der kleinen Meerjungfrau, Amalienborg oder dem großen Platz im Tivoli aufstellten. Man stand manchmal mit einem kleinen Vermögen in der Hand. Und die guten Leute kamen scheinbar nicht auf den Gedanken, dass man mitsamt dem Apparat einfach abhauen könnte. Auch nicht, dass man nicht fotografieren könnte. Vor der Zeit der digitalen Kameras konnte man ja die Bilder nicht sehen, ehe man nach Hause kam und sie entwickelte, und dann war es zu spät, in Tokio zu sitzen und zu entdecken, dass der dumme Däne z.B. seinen eigenen Daumen vor die Linse gehalten hatte. Das war ein rührendes Vertrauen, das die fremden Touristen einem entgegenbrachten.

Das war damals. Denn nun ist das vorbei. Als ich letzten Sommer in Kopenhagen war, liefen die Touristen mit Selfie-Stangen herum – diese Stangen, an denen man sein Handy befestigen kann, so dass man ein Bild von sich selbst vor einer Sehenswürdigkeit machen kann, ohne andere um Hilfe bitten zu müssen.

Das ist ja smart. Und langweilig. Man bekommt keine Chance mehr, eine Spiegelreflex-Kamera der Roll Royce Klasse zu bedienen. Einem wird nicht mehr mit überströmender Herzlichkeit gedankt, wie das nur die Amerikaner können. Und was sehen die Touristen eigentlich, wenn die da in einem sonnigen Kopenhagen mit einer Mobilkamera an einer Stange herumlaufen, die auf sie selbst gerichtet ist? Sie sehen sich selbst. Mit wechselndem Kopenhagener Hintergrund, aber eben vor allem sich selbst.

Und ehe wir uns nun völlig in Empörung ergehen über die Torheit unserer Zeit und den Drang der Menschen zur Selbstinszenierung – da steht Jesus da im Evangelium heute und ruft, dass es so immer gewesen ist – nein besser, dass wir so schon immer gewesen sind: Selbstbezogen. Nun gibt uns die Technik nur die Möglichkeit, auch selbst-beziehend zu sein.

Aber Selbstinszenierung ist also kein neues Phänomen. Sie existierte auch zur Zeit Jesu – oder jedenfalls zur Zeit des Evangelisten Matthäus. Die physischen Selfie-Stangen waren noch nicht erfunden, aber ihr Zweck – die Selbstbeobachtung und die Selbstbeweihräucherung, das kannten sie auch auf den Marktplätzen in Israel vor 2000 Jahren. Die jungen Leute saßen nicht mit der Nase im Handy oder dem Ipad, das nicht, aber sie waren genauso in ihrer eigenen kleinen Welt gefangen. Die jungen Leute, denen wir gleichen, so der Vorwurf Jesu. Die Leute, die dasitzen und sich darüber beklagen, dass die anderen da nicht mitspielen wollen:  „Wir haben euch aufgespielt und ihr habt nicht getanzt; wir haben Klagelieder gesungen und ihr habt nicht geweint“, rufen sie mit den hoch erhobenen geistigen Selfie-Stangen. Die Selfie-Stangen, die uns daran hindern, im Vordergrund des Bildes etwas anderes zu sehen als uns selbst.

In der Debatte über Wölfe, der Diskussion über Flüchtlinge, über die Beschneidung ist der Selfie-Gesichtspunkt ein demokratisches Problem. Wenn die anderen als „fakta-resistente Ignoranten“ bezeichnet werden, oder wenn wir angeblich „die Mehrheit hinter uns haben“ und das als Argument dafür dient, dass wir auch Recht haben, dann befinden wir uns auf demokratischem Glatteis, wo man in das gefährliche, tiefe Loch der Mehrheitsdiktatur hineinrutscht.

Aber das ist auch nach dem Evangelisten Matthäus der Fall, der gelebt hat, ehe man das dänische Demokratiemodell erfunden hatte. Das ist auch ganz grundlegend eine Art und Weise, andere Menschen zu sehen, die uns daran hindert zu sehen und zu hören, was Gott von uns will. Denn das, so sagt er, begreifen die tyrannischen jung en Leute auf dem Marktplatz nicht. „Dieses Geschlecht“, nennt er sie – und uns. Und im biblischen Sprachgebrauch ist „dieses Geschlecht“ der feste Ausdruck für diejenigen, die das Heil und die Befreiung Gottes sehen, aber darauf nicht reagieren. Es ist also nicht nur gewöhnliche Langeweile, die sich dort auf dem Marktplatz in der Mittagshitze breitmacht.  Es ist viel schlimmer. „Die Freude soll für das ganze Volk sein“, sang der Engel zu Weihnachten. Nun sieht es so aus, als sei es dem ganzen Volk egal.

Und dann fängt er an zu rufen. Jesus. Laut und gegen alle neuere pädagogische Forschung schimpft er uns aus, weil wir sauer sind und widerwillig und unmöglich. Drohen, das tut er auch. Mit Strafe und Verdammnis. Jeder, der mit Menschen zu tun hat, weiß, dass das nicht wirkt. Ja, man kann zwar Leute einschüchtern und bedrohen, dass sie gehorchen. Man kann die Leute einschüchtern und bedrohen, ihren Widerwillen und ihre Widerspenstigkeit und ihren Widerstand aufzugeben, aber man kann die Leute nicht dazu zwingen einzusehen, dass man Recht hat. Im Gegenteil.

Und ehrlich gesagt, sollte unser Herr das nicht wissen? Wenn nun wir andere es wissen?

Ja, das sollte er wissen. Und trotzdem unterlässt er es nicht. So wie man nicht anders kann als rufen, laut und warnend, wenn man jemanden sieht, der in Gefahr ist. Dann geht es einem mit dem Rufen weder darum, seinen Willen zu bekommen oder den anderen seinen Willen aufzuzwingen. Es geht darum, den anderen zu retten. Und dann tut man alles, um die Aufmerksamkeit des anderen auf sich zu ziehen.

Sollen wir so das Rufen und Schreien Jesu hören? Er will unsere Aufmerksamkeit. Er will uns mit an einen anderen Ort haben. Er will, dass wir uns bewegen, so dass all dies und alle hinter uns ans Licht kommen. Er will, dass wir sehen, die Selfie-Stangen wegwerfen und der ewigen Selbstbetrachtung Einhalt gebieten, die nach Erfolgen Ausschau hält, die aber auch alle Fehler, Mängel, Versagen und Schwächen aufdeckt und uns vor uns selbst bloßstellt und uns in dem verdammten Kreislauf der Selbstanklagen versklavt. Hört doch damit auf, ruft er. Denn er will, dass wir uns selbst sehen mit anderen Augen als unseren eigenen. Nämlich mit seinen, den Augen Gottes.

Die Augen, die Gottes eigenes Bild wiedererkennen in den Menschen. In allen Menschen. Da ist kein einziger Mensch, min dem Gott sich nicht selbst wiedererkennen kann.

– Wenn Jesus mit großem Appetit und ungeteilter Freude mit denen isst und trinkt, die wir nicht ausstehen können und mit denen wir nichts zu tun haben wollen.

– Wenn Jesus Leute mit unappetitlichen Krankheiten anrührt und sich von schamlosen Frauen mit und ohne Kopftuch und mit unpassend offenen Haaren anrühren lässt.

– Wenn er Lahme in Bewegung setzt und Stumme zum Singen bringt, wenn er Taube dazu bringt, die Ohren zu öffnen:

Dann ist es dies, der zugleich wiedererkennende und neuschaffende Blick Gottes, der wirkt, bewegt und ingang setzt.

Es gibt keinen einzigen Menschen, in dem Gott sich nicht selbst wiedererkennen kann. Das ist es, was wir sehen, hören und glauben sollen. In diesem Geschlecht wie auch in alle den vorhergehenden Geschlechtern. Und wir können es sehen, hören und glauben. Da ist keine Entschuldigung, das nicht zu tun. Denn „die Weisheit ist gerechtfertigt aus ihren Werken“. Da spricht er von sich selbst.

Die Weisheit – er spricht von sich selbst. Wenn Jesus sagt, dass die Weisheit durch ihre Werke gerechtfertigt ist. Das ist ein Urteil, das bereits gefällt ist.  Das sind Werke, die nie ungeschehen gemacht werden oder ihren Wert verlieren können. Die Werke der Weisheit, die Taten Jesu, die Taten, die Menschen dazu brachten sich zu erheben und sich von Gott wiedererkannt zu wissen, diese Werke behalten immer Recht.

Und deshalb gibt er offenbar niemals auf, unser Herr. Deshalb bleibt er dabei, diese Werke zu tun. Wenn wir die Kirchentür durchschritten haben, liegen da die Marktplätze, die Orte, an denen wir uns begegnen – der Platz, die Tiefkühltruhe beim Kaufmann, die Bank im Park oder das Wartezimmer beim Arzt. Und da laufen wir stets mitten in unserem eigenen Tun und Lassen Gefahr, in unseren eigenen Gedanken, unserem eigenen Glück oder Unglück von ihm unterbrochen zu werden. Denn er spricht und ruft noch immer und widerspricht, tröstet und ermuntert. Mit Stimmen, die wir kennen, und mit Stimmen, die wir noch nicht gehört haben. Aber wenn wir gut zuhören, können wir den Klang wiedererkennen. Der kommt von oben. Amen.

Pastorin Margrethe Dahlerup Koch

DK-6950 Ringkøbing
Email: mdkoch(at)mail.dk

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