Singen statt verstummen

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Singen statt verstummen

2. Mai 2021 | Predigt zu Lukas 19, 37 – 40 | verfasst von Ulrich Pohl, Neuss |

 

Viele seien es gewesen, schreibt der Evangelist Markus. Eine sehr große Menge gar, berichtet der Evangelist Matthäus. Nur der Evangelist Lukas, der den Predigtabschnitt für den Sonntag heute ebenfalls niedergeschrieben hat, hält sich vornehm zurück: Ja, eine Menge war es schon, die damals vom Ölberg aus Richtung Jerusalem zog, aber es war eine kleine Menge, eben nur die Menge der Jünger. Der Evangelist Lukas will Leser überzeugen, die der griechischen und römischen Kultur nahestehen. Er will vermeiden, dass der Eindruck entsteht, damals hätte so etwas wie eine Kundgebung mit politischen Ambitionen stattgefunden, ein Aufstand gar.

„Meister weise doch deine Jünger zurecht.“

Auch die jüdischen Würdenträger, die damals mit Jesus auf dem Weg waren, wollen diskret nach Jerusalem einziehen. Sie möchten vermeiden, dass jemand auf die Idee kommt, man wolle Unruhe stiften.

Der Wunsch der Mächtigen nach einer gewissen Geräuschlosigkeit ist uns vertraut. Hätte es so etwas damals schon gegeben, hätten die Vernünftigen Jesus sicher dazu angehalten, Meister, achte doch bitte darauf, deine Jünger müssen Mundschutz tragen, du bist doch hier der Veranstalter. Und bitte, um deiner selbst Willen, hab Acht, ihre Äußerungen dürfen nicht allzu weit von dem abweichen, was man allgemein denkt. Es könnte sonst etwas falsch verstanden werden. Am Ende gibt es gar Applaus von der falschen Seite!

Dem Ansinnen, den Menschen, die ihm folgen, auf irgendeine Weise den Mund zu verschließen, erteilt Jesus eine Absage, wie sie deutlicher nicht sein kann:

„Wenn diese schweigen, werden die Steine schreien.“

Und so wird undiszipliniert gesungen, laut skandiert, werden Parolen gerufen, während die Stadttore von Jerusalem bereits in Sicht kommen. Es sind Parolen vom Frieden und von einem anderen König. Die, die mit Jesus gehen, geben ihrer Sehnsucht nach Versöhnung und Gerechtigkeit Ausdruck, und nach einer anderen Regierung als der, die sie haben.

„Meister weise doch deine Jünger zurecht.“

Die jüdischen Lehrer, die da mit Jesus unterwegs sind, wissen, wenn Menschen gemeinsam ein Lied anstimmen, dann ist das nicht ungefährlich. Denn dann kann es sein, das Herz liegt schon nach wenigen Augenblicken auf der Zunge. Wer in jüngeren Jahren einmal bei einer Demonstration mitgegangen ist, hat das in Erinnerung: Am Ende der einen oder anderen Kundgebungs-Strophe fragt man sich: Was für Parolen hast du da eigentlich gerade mitgesungen?!
Wenn man mit anderen zusammen etwas singt, dann wagt man sich mitunter weit vor.

Deshalb sind die Lieder, die wir sonntags im Gottesdienst singen, so wichtig, wichtig für uns und wichtig für unsere Kirche. Die Lieder unserer Kirche führen uns allsonntäglich in das Wagnis hinein, das, was wir glauben, klar, kräftig und unmissverständlich auszudrücken. Du meine Seele singe, Lobe den Herren, Bis hierher hat mich Gott gebracht – all diese Lieder nehmen uns mit. Sie beginnen mit einem unscheinbarem Wort, gesungen auf dem Grundton. Sie enden in einer vollen Harmonie, die uns mitten im Reich Gottes aufwachen läßt.

Das ist auch beim Hauptlied des heutigen Sonntag so:

Es beginnt mit der Selbstermunterung, du meine Seele singe. Ja, das wünsche ich mir tatsächlich, singen soll meine Seele, gerade in diesen schwierigen Zeiten. Ich singe weiter, folge denen, die um mich her versammelt sind, folge den Strophen in das Lied hinein. Und am Ende höre ich mich ein vollmundiges Bekenntnis ablegen: Der Herr allein ist König! Und ich höre, wie ich Dinge über mich selbst äußere, da weiß ich zwar, sie stimmen – aber eingestehen tue ich sie mir dann doch nicht immer: Ich – eine welke Blum’?!

Manchmal wenn ich in der Kirchenbank sitze und im Gottesdienst mitsinge, mache ich mitten in einer Strophe Pause und denke, was singst du da? Gehörst du wirklich gen Zion in ein Zelt? Dann bleibt mein Mund einen Moment lang geschlossen, ich lausche den Worten und gehe innerlich auf Distanz. Aber lange schaffe es nicht, mich zu verweigern. Um mich herum singt alles unbeirrt weiter, und schon nach wenigen Augenblicken setzt meine Stimme wieder ganz von selbst ein. Offenbar ist das Bedürfnis danach, dazuzugehören, das Bedürfnis nach Resonanz und Harmonie, größer, als die eigenen Bedenken. Es tut gut, wenn sich die eigene Stimme in den Stimmen der andern auflöst. Es wird einem leicht, wenn die eigenen Gedanken in den Gedanken und Worten derer aufgehen, die lange vor uns da waren. Wozu will ich da nein sagen?! Es stimmt doch: Die Häuser, in denen wir leben, sind nicht das, worin wir wirklich ein Zuhause haben. Unsere Heimat ist die Freiheit! Unsere Stadt ist die Stadt Gottes! Ich gehöre „gen Zion, in sein Zelt“.

Dann klingt die Orgel aus und für einen Moment noch halte ich in meinen Gedanken die letzte Zeile fest. Auch das stimmt:  In meinem Leben geht es um etwas anderes als darum, dass ich mich anpasse, den Mund halte und weiterkomme. Es geht darum, ich soll den Ruhm Gottes ausbreiten in aller Welt, laut und fröhlich, ich soll in seiner Liebe leben, so dass es alle mitbekommen.

Würde ich so etwas auch von mir selbst behaupten, wenn mir die Woche über jemand ein Mikrophon vor die Nase hält und fragt, wer bist du und wozu lebst du?

Das gemeinsame Singen ist das, was der Kirche im Moment am meisten fehlt, zumindest und leider vor allem der evangelischen Kirche. Eine Predigt kann man online halten. Ein Gebet kann man auch einmal per Email schicken. Gemeinsam singen kann man online nicht.

Mit dem gemeinsamen Singen derer, die damals nach Jerusalem gingen, fing es an. Und nichts hat in zwei Jahrtausenden die Gläubigen davon abhalten können, eben das zu tun: Gemeinsam zu singen. Es bringt uns als Menschen zusammen. Es führt uns auf die Höhe des Bekenntnisses zu Jesus. Es bringt uns mit Gott zusammen.

Wir sollten das Singen in unseren Gemeinden dringend wieder aufnehmen, wo wir nur können: In Chören, in Gottesdiensten, auf Kirchenvorplätzen und auf Gemeindewiesen. Und irgendwann auch wieder in unseren Kirchen. Der Sonntag heute, der Singesonntag der Kirche, macht uns Mut dazu, unsere Stimmen endlich wieder zu erheben.

Denn wenn wir nicht mehr singen, dann schreien irgendwann die Steine.

 

Pfarrer Ulrich Pohl
Neuss

EMail: ulrich.Pohl@EKiR.de

 

Pfarrer Ulrich Pohl, geb. 1961, drei Kinder, verheiratet, zur Zeit tätig in den Gemeinden Moers-Scherpenberg und Schwafheim.

 

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