St. Martin in Afghanistan

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St. Martin in Afghanistan

‚St. Martin in Afghanistan‘ | Ansprache mit Matth. 25, 36.40 zur Friedensdekade (Volkstrauertag / Vorl. Sonntag im Kirchenjahr) 14. November 2021 | von  Jochen Riepe |

I

Jenni Bruns war in Afghanistan. Als Soldatin. 2010. Als sie im letzten Sommer die Bilder sah, wie die Taliban ohne nennenswerten Widerstand in Kabul einmarschierten, fiel sie in ein tiefes Loch. Die internationale Militärmission war endgültig gescheitert. ‚Wofür das alles?‘ fragt sie. ‚Ich habe meine Gesundheit für diesen Einsatz geopfert‘*.

Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan‘, lesen wir im Evangelium. Volkstrauertag.

II

Neulich war es wieder so weit. Der heilige Martin von Tours unterwegs. An vielen Orten wurden Andachten gefeiert und anschließend zogen Kinder und Erwachsene hinter dem Schimmel her, bewunderten Martins Rüstung, seinen Helm, das Schwert. Das Schwert! Wenn man so will: Seine zum Guten verwandelte, seine befriedete Waffe.

Die Legende erzählt ja von diesem Augenblick. Martin, der Soldat, sieht das Elend und teilt mit einem Hieb seinen Mantel und bedeckt einen nackten Bettler. Er, der Kämpfer in kaiserlicher Armee, wird zum spontanen Ritter Christi: ‚Ich war nackt, und ihr habt mich gekleidet‘. Martinus, der Sohn des Mars, der Starke, ein Soldat Jesu.  Auch in der sog. nachchristlichen Gesellschaft ist diese Geschichte einer Konversion zum Christentum ungebrochen populär. Die gutbesuchten Martinsumzüge mit den vielen Laternen belegen es.

III

Mich hat gerade in diesen dunklen, stillen Tagen, da wir auf die Friedhöfe gehen und mit flüchtigem Blick auch die Ehrenmale der Kriegsopfer passieren, dies beschäftigt: Die Soldatinnen und Soldaten, die zwanzig Jahre im Kriegsgebiet waren. Wie Jenni Bruns.  59 von ihnen sind ‚gefallen‘, viele kamen  körperlich oder seelisch verletzt zurück. Freunde und Familien fangen die Invaliden auf, so gut es geht. Sie können aber auch an den Problemen zerbrechen.

Ich vermute: Als Kinder werden so manche der Afghanistan-Veteranen in einem Martinsspiel dabei gewesen sein, Lieder gesungen und gespannt den Moment der Begegnung mit dem Bettler erwartet haben. Was hat sie später bewegt, als sie sich für eine Laufbahn als ‚Bürger in Uniform‘ entschieden? Karriere, Berufsausbildung, Geld, Abenteuer… Viele würden sagen: Ich wollte etwas Starkes und Wichtiges, etwas Gutes tun für die Sicherheit unseres Landes gegen den Terror.  Sie wollten soz. den ‚Martins- Mantel westlicher Errungenschaften‘ mit den Menschen im fernen Afghanistan teilen.  Die Politik sprach ja von ‚humanitären Einsätzen‘, einer Friedensmission zum Aufbau der Demokratie, von Straßen-, Brunnen- und vom Bau von Schulen: ‚Alles gut in Afghanistan‘.

IV

Der Hl. Martin. Sein Schwert teilt den Mantel, und der wärmt nun den armen Mann. Humanitäre Mission. In den medialen Berichten wurde der deutsche Einsatz ja weitgehend als eher zivile Unterstützung für den ‚großen Bruder‘ USA verstanden- oder mißverstanden? Wir Bürger nahmen es – in der Regel mit ‚flüchtigem Blick‘- hin. Die Welt der Militärs, das System von Befehl und Gehorsam, ist uns ‚Friedensbewegten‘ fern, und das Parlament erneuerte ja regelmäßig den Auftrag. Und dann kam eines Tages der Schock. Deutschland war im Krieg, Tote, Verletzte… nicht nur die Amerikaner, die anderen, wir hatten Teil an der Gewalt, waren Opfer und Täter.

Was ist, wenn der Hl. Martin unter die Räuber und zu Boden fällt? Wenn er in einen Hinterhalt gelockt wird, sich wehren und selbst töten muß? Wenn er auf Widerstand und Unverständnis, auf eine Kultur und eine Religion stößt, die er nicht kennt und versteht? Wenn ihm eine verwirrende Stammesvielfalt, Opium-, Drogenhandel und Korruption begegnet, und er auf Menschen trifft, die seine ‚Gaben‘ und Werte wohl nutzen und ausnutzen, aber in der Mehrzahl nicht bejahen? Schließlich aber, wenn daheim die kritischen Nachfragen und Urteile immer dringlicher werden?

‚Nichts ist gut in Afghanistan‘, sagte damals eine Bischöfin.

V

Volkstrauertag. Jenni Bruns -und mit ihr viele andere- fielen in ein tiefes Loch, als bekannt wurde, daß die USA und ihre Verbündeten aus dem Land abziehen würden – und was für ein für uns Zuschauer verstörender, kopfloser Abzug war es! ‚Wofür das alles? Für wen sind sie gestorben?‘  Die Alten unter uns denken bei diesen Worten vielleicht an die Opfer der Weltkriege, an den Vater, der nicht zurückkam, den Mann, den Bruder…

Zu der persönlichen Niederlage kommt darum noch die Erfahrung militärisch- politischer Sinnlosigkeit: Was wollte der Westen eigentlich? Für welche genauen Ziele wurden Menschen zwanzig Jahre lang in den Krieg geschickt und haben wie Jenni ihre Gesundheit geopfert? ‚Berufsrisiko‘, sagen die einen: ‚Ihr habt euch so entschieden‘. Sie wollten stark sein, Aufbau, Befriedung, und nun waren die Straßen, die Brunnen, die Schulen, nicht zuletzt die Frauen und Mädchen in der Hand des Feindes.

Menschen trauern um ihre Nächsten. Wir trauern aber auch um enttäuschte Hoffnungen, verlorene politische Ideale, Rechtfertigungen: Gewalt darf nicht sein, und wenn, dann nur, um Schlimmeres zu verhindern. Was ist, wenn diese Gewißheit fällt? Die so schöne Legende vom Soldaten, der vom Sohn des Mars zum christlichen Bischof wurde, der das Schwert zum Guten einsetzt, dreht sich gleichsam um: Zählt ‚St. Martin in Afghanistan‘, sein verwundeter Leib, seine verletzte, von Bildern der Gewalt und eigener Schuld gequälte Seele, nun nicht selbst zu den ‚Geringsten‘ der Jünger Jesu**? Ist er, der Starke, nun angewiesen auf Beistand, Aufarbeitung, Vergebung und Wärme? In ein tiefes Loch gefallen:  ‚Ich war nackt und ihr habt mich bekleidet‘.

VI

Gott sei Dank: Persönliche und familiäre Hilfe ist da. Medizinische und seelsorgerliche, psychotherapeutische Beratung geschieht und wird weiterhin erforderlich sein. Dazu aber kommt etwas anderes, und das ist anscheinend heikel: Die offizielle Würdigung der Soldaten und die politische  Aufarbeitung ihres gescheiterten Einsatzes, die Verantwortungsübernahme für  ‚Fehleinschätzungen und Irrtümer‘ (H. A. Winkler). Der Martinsmantel westlicher Errungenschaften paßt ja nicht überall. Wäre nicht mehr Bescheidenheit, eine ‚Wiederbegrenzung‘ (H. Theisen) europäischer Politik ratsam? ***

Wie beschämend war es, daß im Juli, als die letzten Soldatinnen und Soldaten auf dem Flughafen in Wunstorf landeten, nicht einer unserer höchsten Repräsentanten zum Empfang kam. Kein Präsident, kein Bundestagspräsident, keine Kanzlerin fand die Zeit, die Rückkehrer:innen zu begrüßen. Schämte man sich? Wollte man ihnen nicht in die Augen sehen? Die ehrenden Rituale wie der ‚Große Zapfenstreich‘ sind inzwischen absolviert. Ob die Politiker aber den Mut aufbringen, ‚Das Trauerspiel von Afghanistan‘ (Theodor Fontane) aufzuarbeiten und Betroffene wie Jenni Bruns dabei einzubeziehen?

Zwischen ‚Alles…‘ und ‚Nichts ist gut‘ liegt ja vielleicht ein ‚etwas haben wir besser gemacht‘, und davon sollte sie erzählen dürfen. Der Friede ihrer Seele und der ihrer Kollegen, aber auch der ‚innere Friede‘ unseres Landes braucht das Wort und die Aussprache.

VII

Und wir Bürger? Wir Zivilisten? Auch diese unbequeme Einsicht muß ich zulassen: Es gibt Mitbürgerinnen und Mitbürger, die für die Wehrhaftigkeit unseres Landes mit Leib und Seele einstehen. Die soz. das Schwert des Hl. Martin führen. Die von uns gewählten Parlamentarier haben sie beauftragt, es in der Not auch einzusetzen.

Diese Frauen und Männer verdienen mehr als einen flüchtigen Blick. ‚Was ihr einem der geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan‘.

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*Von der Afghanistan-Veteranin Jenni Bruns las ich in einem Bericht der ‚Deutschen Welle‘: https://www.dw.com/de/die-ohnmacht-der-afghanistan-veteranen/a-59002751

**U. Luz, Das Matthäusevangelium, EKK I/3, 1997, S.594,  schlägt vor, die ‚Geringsten‘ ( im Text: ‚Jesu notleidende Jünger‘) in soz. universaler Perspektive zu verstehen.

***zu H. Theisens Rat:  https://www.globkult.de/politik/welt/2103-die-wiederbegrenzung-der-westlichen-welt

Pfr. i. R. J. Riepe, Dortmund    email: Jochen.Riepe@gmx.net

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