Von unseren Wurzeln

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Von unseren Wurzeln

Misericordias Domini III |18.4.2021 | Predigt zu Hesekiel 34, 1.2, 10-16,31 | verfasst von Suse Günther |

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. AMEN

Und Gottes Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott, der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden. Sollen die Hirten nicht ihre Herde weiden?

Darum Ihr Hirten, hört des Herrn Wort: So wahr ich lebe, spricht Gott, der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie retten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. Ich will sie aus allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes. Ich will sie auf die beste Weide führen und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein, da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. Ich selbst will meine Schafe weiden und ich will sie lagern lassen, spricht Gott, der Herr. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Schwache stärken, und was fett und stark ist, behüten, ich will sie weiden, wie es recht ist.

Ja, Ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott, der Herr.

Gott, gib uns ein Herz für Dein Wort und nun ein Wort für unser Herz. AMEN

Liebe Gemeinde!

In den romanischen Sprachen, also beispielsweise Französisch, wird etwas deutlich, was man bei uns nur bei näherem Nachdenken bemerkt: Das Wort für „Pfarrer“ und das für „Hirte“ ist das selbe. Im lateinischen heißt Hirte „pastor“ – dieses Wort ist uns bekannt. Im Französischen ist beides, sowohl der Hirte, als auch der Pfarrer „le pasteur“. Der Name ist Programm. Denn damit wird die Aufgabe deutlich, die ein Pfarrer, ein Gemeindeleiter hat: Hesekiel beschreibt es in unserem heutigen Predigttext: Sich um die Menschen, die ihm anvertraut sind, zu kümmern.

Hesekiel war ein solcher Hirte, oder wie es im Hebräischen heißt: „Roeh“. Es wird hier übrigens das selbe Wort gebraucht wie im Psalm 23, den wir vorhin gebetet haben: „Der Herr ist mein Hirte.“

In diesem Psalm, den viele als ihren Lieblingspsalm bezeichnen, wird beschrieben, was das heißt: „Der gute Hirte weidet seine Herde recht“. Gott, der gute Hirte, der den Menschen zeigt, wie es aussehen kann, selbst guter Hirte zu sein für die, die einem anvertraut sind.

Hesekiel war ein solcher Hirte für das Volk Israel, einer, der sich kümmerte. Und das hatte das Volk dringend nötig. 587 waren die Menschen in die Verbannung nach Babylon geführt worden. Hesekiel war bei diesen Exilierten. Er hatte sich mit auf diesen Weg gemacht und wusste also, was das heißt: Verschleppt sein, alles verloren haben, keine Hoffnung mehr haben, auch weit weg vom Tempel in Jerusalem sein, dem Ort der Gottesbeziehung. Hesekiel wusste, was es heißt, keinen Hirten zu haben, niemanden, der sich kümmert.

In Babylon wird er zum Propheten berufen, 592, fünf Jahre also, nachdem er in die Deportation geführt worden war. Bis 571 hat er in Babylon als Priester gewirkt. Als Hirte. Er hat sich auf diese Weise nicht nur um die Menschen gekümmert, die ihm anvertraut waren. Sondern er hat auch gezeigt: Wir können hier in der Fremde, weit weg vom Tempel, Gott verehren. Und: Gott ist hier in der Fremde für uns da. Er ist unser guter Hirte. Hesekiel spricht diese Worte nicht aus sich selbst. Sondern verkündet als Prophet Gottes Wort, Worte also, die ihm von Gott gegeben sind.

Keine einfache Aufgabe, einen solchen Auftrag anzunehmen. Einen solchen Auftrag so anzunehmen und weiterzugeben, dass die Menschen ihn auch hören wollen. Und nicht ablehnend reagieren: „ach, hör auf Hesekiel, lass uns in Ruhe. Wo ist denn nun Dein Gott, wenn uns das alles hier zugemutet wird?“

Von der Philosophin Simone Weil stammt folgender Gedanke „Die Entwurzelung ist bei weitem die gefährlichste Krankheit der menschlichen Gesellschaft. Wer entwurzelt ist, ist entwurzelt. Wer verwurzelt ist, entwurzelt nicht. Die Verwurzelung ist vielleicht das wichtigste und meist verkannte Bedürfnis der menschlichen Seele.“ (Verwurzelung, 1949)

Alle diese in die Verbannung geführten Israeliten, die ihre Heimat verloren hatten, hatten aber die Möglichkeit, daran nicht zu zerbrechen: Sie hatten ihren Hirten, hatten Gott und seinen Propheten. Sie hatten das Angebot, an ihrer Heimat im Glauben festzuhalten und so die schwere Zeit zu überstehen.

Im vergangenen Jahr haben wir uns oft gefühlt, als seien wir ins Exil geführt, aus unserem normalen Leben herausgerissen. Abgeschnitten von denen, die uns wichtig sind, überfordert mit Ungewissheiten. Und auch: Abgeschnitten von dem Ort unserer Gottesbegegnung. Abendmahl am Computer ist ja gut und schön. Aber die Ahnung davon, in diesem Abendmahl Gott und meinen Mitmenschen zu begegnen, die blieb – für mich jedenfalls – aus. Ich habe einfach gehofft, dass Gott über mein Wissen und Verstehen hinaus handelt.

Ich habe mir andere Orte der Gottesbegegnung gesucht und gefunden, als den Computer und die gestreamten Gottesdienste. Auf dem Weg mit dem Rad in einen weit entfernten noch persönlich gehaltenen Gottesdienst durch die österliche Natur zu fahren und dabei die alten Osterlieder zu singen (in der Kirche geht das ja nicht), war an sich schon Gottesdienst. Dann aber noch unterwegs einem leibhaftigen Hirten mit seiner Herde und den quicklebendigen, neugeborenen Schafen zu begegnen, das habe ich dann für mich als Botschaft erlebt.

An diesem Tag hatte ich sie alle drei beieinander: Den Hirten, der sich um seine Herde kümmert. Den Pastor, der trotzdem noch Gottesdienst hielt. Und Gott, der mir auch in diesen Zeiten begegnet.

Pfarrer und Pfarrerinnen sind in diesem Jahr viele neue Wege gegangen, um ihre Herde recht zu weiden, um sich zu kümmern, um erreichbar zu bleiben. Gottesdienstliche Angebote am Computer waren nur eines davon. Radiogottesdienste und Telefonandachten, gedruckte Predigten, die an alle Haushalte verteilt wurden, Telefonketten und Briefe, es gab viele Ideen und sie wurden genutzt. Viele Erfahrungen haben wir neu gemacht, viele werden wir beibehalten, um die Herde zu weiden. Denn bei

alledem fiel mir  auf, dass wir nicht nur den Hirten/die Hirtin brauchen. Wir brauchen auch die Herde. Die, die zu uns gehören. Die, mit denen wir gemeinsam unterwegs sind. Neben Gott, neben meinem Pastor, neben dem leibhaftigen Hirten mit Hund und Hut noch einen vierten Hirten/eine vierte Hirtin: Den Mitmenschen, der mich begleitet. Einander zum guten Hirten und zur guten Hirtin werden, das ist gerade in diesen Tagen Auftrag an uns alle. Es soll niemand verloren gehen.

Ich weiß nicht, ob die Menschen des Hesekiel dessen Botschaft hören wollten und konnten, oder ob sie längst aufgegeben hatten. Ich weiß nicht, wie es in unseren Tagen ist. Ob, die, die jetzt auch mit ihrem Glauben im Exil leben, nach der Rückkehr wieder Gottesdienste aufsuchen werden. Ich meine fast, dass ja. Weil wir in diesem Jahr so schmerzlich erlebt haben, was es heißt, isoliert zu sein von der Herde, isoliert von Gottes Haus, isoliert von unsren Pastoren und Pastorinnen. Weil wir begriffen haben, wie sehr wir als Christen auch die Gemeinschaft brauchen. Wir haben viel gelernt in diesem Jahr, viele neue Wege gefunden, um die Herde zu weiden, zu behüten, um frisches Wasser zu finden und die Seele zu erquicken. Aber dieses Gefühl, sich umeinander zu kümmern, aufeinander zu achten, füreinander da zu sein und miteinander zu leben, das lässt sich in meinen Augen nicht digitalisieren.

Wichtig ist gewesen und wird es bleiben, dass wir Pastoren, Pastorinnen, diesen Weg mitgegangen sind und mitgehen. Mit ins Exil, mit in der Zeit, die uns allen so schwer fällt. Wenn Menschen uns so erlebt haben, dann habe ich die Hoffnung, dass sie auch wieder mit uns zurückgehen – oder wir mit ihnen? – hinein ins bekannte und heimatliche Leben. Dazu brauchen wir alle den guten Hirten, in dessen Namen wir unterwegs sind: Der Herr ist unser Hirte, es wird uns an nichts mangeln…. Er wird uns weiden und behüten, wie es gut ist.

Wo gehöre ich hin, was hält und trägt mich? Diese Fragen stellen sich uns in diesen Tagen ganz neu.

Und so höre ich die alte Prophezeiung des Hesekiels für mich ganz neu. Ich möchte sie in meinen Tagen erleben: Gott selbst wird sich seiner Herde annehmen. Darauf vertraue ich. Darüber freue ich mich. Das erwarte ich und da gehöre ich hin. AMEN

Suse Günther, *1963
1990-2002 Gemeindepfarrerin in Bruchmühlbach
2002-2009 Krankenhaus Pfarrerin im Krankenhaus Landstuhl
2009-2016 Krankenhaus Pfarrerin im ev. Krankenhaus Zweibrücken
Seit 2016 systemische Therapeutin (SGsT)
Seit 2017 Krankenhaus Pfarrerin in St. Ingbert und Beratung „Zeit für Dich“ im Dekanat Zweibrücken.

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