Die Stimme des guten Hirten

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Die Stimme des guten Hirten

Misericordias Domini | Johannes 10,11-16 (dänische Perikopenordnung) | von Marianne Frank Larsen |

Eines der schönsten Bilder vom guten Hirten, das ich kenne, kann man in Ravenna in Norditalien sehen. Es handelt sich um ein Mosaik, das bis in das fünfte Jahrhundert zurückreicht, und Experten sagen, dass es sich hier um eines der schönsten Beispiele für die Bildkunst der alten Kirche handelt. Wenn ich das Mosaik so schön finde, liegt das natürlich an den feinen grünen, blauen und goldenen Farben. Und es liegt an der weichen Beweglichkeit der Gestalten. Es liegt auch an der feinen Darstellung des guten Hirten als einem Jüngling ohne Bart mit all der Vitalität, die in der Gestalt eines jungen Mannes liegt. Vor allem aber fesselt mich die Schönheit im Zusammenspiel zwischen dem Hirten und den Schafen. Der Hirte schaut zwar nicht auf die Schafe. Er sieht vielleicht, ob das Gras grüner ist als anderswo, oder vielleicht schaut er, ob der Wolf kommt? Das es jedenfalls ihr Wohl und Wehe ist, an das er denkt, kann man an der Hand sehen, die er zu dem ihm am nächsten stehenden Schaf ausstreckt, und an den zarten Liebkosungen, die er austeilt. Und dass die Schafe ganz ihm zugewandt sind – das springt einem direkt ins Auge. Ganz gleich wo sie liegen oder stehen oder wo sie hingehen, sie wenden ihren Kopf zum Hirten, so als hörten sie auf ihn und schauten nach ihm. So als erwarteten sie das Beste von ihm.

Und das ist ja eben das Schöne an dem Bild, das Jesus heute von sich selbst gebraucht. Denn ein Hirte, das macht keinen Sinn ohne Schafe – und Schafe können nicht ohne einen Hirten auskommen. Die beiden gehören unlösbar zusammen, und das Mosaik in Ravenna ist der denkbar schönste bildliche Ausdruck für das, was Jesus mit dem Wort zum Ausdruck bringt, dass der der Hirte seine Schafe kennt, und dass die Schafe ihren Hirten kennen. Kennen, das bedeutet nicht, dass die gut informiert sind und richtig viel voneinander wissen. Es bedeutet, dass sie einander annehmen, dass sie auf einander angewiesen sind, dass sie eng mit einander verbunden sind, ganz so wie wir in der ersten biblischen Erzählung hören, dass Adam Eva erkannte. Da bedeutet es, dass, dass er sie liebte und sich ihrer annahm. So zeigt das Mosaik mit aller erdenklichen Klarheit, wie der gute Hirte seine Schafe kennt und wie die Schafe ihren Hirten kennen. Wie eng sie verbunden sind. Dass die Verbundenheit ein ganz entscheidender Zug sowohl für die Existenz des Hirten als auch der Schafe ist.

Und eben dies ist der springende Punkt. Denn wenn Jesus der gute Hirte ist, dann ergibt sich von selbst, dass wir die Schafe sind. Und das ist zweifellos ein ganz anderes Bild von uns selbst als wir es gewohnt sind. Denn wir sind gewohnt, uns selbst als Individuen zu sehen, die sich an ihren eigenen Gefühlen und Kompetenzen und Potenzialen orientieren und die selbst in ihrem guten Recht sind zu wählen, welche Beziehungen wir eingehen und welche Identität wir schaffen wollen und welche Handlungsmöglichkeiten wir realisieren wollen, je nach dem, was uns am besten gefällt. Das Bild vom Hirten und den Schafen sagt uns dagegen, dass wir immer schon in einer Beziehung stehen, nämlich der zum guten Hirten, der uns immer schon kennt, und dass wir schon eine Identität haben, nämlich als Menschen, die er kennt und liebt, und dass es eine bestimmte Handlungsmöglichkeit gibt, die sich von vornherein aus der Beziehung und der Identität ergibt, nämlich dass wir auf ihn hören sollen, der unser Hirte ist, und hören sollen, was er uns gibt und wozu er uns bringen will. Dass wir glauben, hoffen und lieben. Ganz so wie die Schafe in dem Mosaik von Ravenna, die liegen und stehen und irgendwohin gehen, die sich aber alle dem Hirten zuwenden und auf seine Stimme hören.

Die Erfahrungen machen uns vielleicht Angst. Denn es kann ja auch gefährlich sein, dass alle auf dieselbe Stimme hören und sich von derselben Autorität leiten lassen, ohne kritische Fragen zu stellen. Was aber diese Gefahr beseitigt, wenn man auf die besondere Stimme dieses Hirten hört, ist dies, dass er nicht nach persönlicher Anerkennung, Macht, Ehre oder Gewinn strebt. Dass er vielmehr bereit ist, sich selbst hinzugeben und sein Leben für die Schafe zu geben. Das ist der Unterschied zwischen ihm und allen anderen Hirten, sowohl den Hirten, die nach unserer Anerkennung und Aufmerksamkeit streben, als auch den Hirten, die wir selbst sind für andere, für die wir verantwortlich sind. Unsere Alten, unsere Schüler, unsere Klienten, Kunden, Patienten und Gemeinden. Wir wollen für sie sehr weitgehen.  Wir leben von ihrer Anerkennung und Aufmerksamkeit. Aber niemand kann von uns verlangen, dass wir für sie direkt unser eigenes Leben und unsere Gesundheit riskieren. Wenn der Wolf kommt, wenn der Tod unter uns wütet und uns voneinander trennt, müssen wir auf uns selbst achten. Das ist es, was uns zu Tagelöhnern macht. Und was ihn zum guten Hirten macht – zu dem guten Hirten. Er sorgt sich nie um sich selbst. Wir haben gerade Ostern gefeiert und gehört, wie die Schafe ihn im Stich lassen und flüchten. Während er zurückbleibt und sein Leben gibt für die Schafe. Zu keinem Zeitpunkt denkt er an sich. Deshalb können wir uns ruhig umkehren wie die Schafe in dem Mosaik in Ravenna und auf seine Stimme hören und uns von dem leiten lassen, was er sagt.

Das Wunderbare ist ja, dass wir ihn noch immer hören können. Auch wenn er sein Leben für die Schafe gab, als der Wolf kam, ist seine Stimme nicht verstummt. Einige wurde von dieser Stimme abgestoßen, als er auf der Erde lebte. Andere merkten, dass es die Ewigkeit selbst war, die ihnen hier begegnete und ihr Leben anrührte in den Worten, die er sprach, und der Friede in dieser Stimme wurde unverzichtbar für sie. Nach Ostern machten sie die wunderbare Erfahrung: Auch wenn sie ihn im Stich ließen, war er dennoch lebendig unter ihnen gegenwärtig. Wie der gute Hirte, der die Schafe nie im Stich lässt. So konnten sie noch immer seine Stimme hören und sein Wort annehmen. Und dasselbe können wir. Es ist diese Stimme, auf die wir hören in all dem was wir hier heute sagen und singen, die Worte, die uns spüren lassen, dass die Ewigkeit uns erreicht und berührt eben in unserem Leben mit dem besonderen Frieden, der uns überall bewahrt, wo wir hinkommen.

Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln – ich leide keine Not. Er weidet mich auf einer grünen Aue, er führet mich zum frischen Wasser. Er erquickt meine Seele – er gibt mir neue Kraft. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. So heißt es in dem alten Psalm, den wir oft bei Beerdigungen hören. Da sind wir versammelt, weil die Ruhe des Todes sich eingefunden hat, eine schwere und traurige Ruhe in Leib und Gliedern. Aber der Psalm trägt zu der Situation bei mit einer anderen Ruhe, einem Frieden, der gut ist und Leben schenkt und der nicht von uns selbst kommt. Das wussten sie in Ravenna zu Beginn des fünften Jahrhunderts. Denn das Mosaik mit dem Hirten und den ihm eng verbundenen Schafen befindet sich gar nicht in einer Kirche. Es befindet sich an der Wand in einer Grabkammer, errichtet für eine Kaisertochter mit dem Namen Galla Placidia. Da befindet sich der gute Hirte und zeugt davon, dass wir nicht einmal in unserem Grabe uns selbst überlassen sind. Selbst wenn alle anderen Stimmen verstummt sind, werden wir diese Stimme hören, die aus der Ewigkeit kommt und uns den Frieden der Ewigkeit schenkt – in dem grünen Gras unter dem gewaltigen hellbauen Himmel. Amen.

Pastorin Marianne Frank Larsen

DK 8000 Aarhus C

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