Wahrer Mensch und wahrer Gott

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Wahrer Mensch und wahrer Gott

Christmette, 24.12.2014 | Predigt zu Matthäus 1:1-25| verfasst von Wolfgang Schmidt |

Liebe Gemeinde,

in diesem Jahr präsentiert uns der Predigttext einmal eine andere Weihnachtsgeschichte: kein
Ochs und kein Esel, keine vergebliche Herbergssuche in Bethlehem, keine Hirten
auf dem Feld, denen die Engel Frieden verkünden. Das alles erzählt ja die
vertraute Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium.

Heute hören wir die Geburt Jesu einmal auf andere Weise: So wie Matthäus sie erzählt. Und das ist gut so. Sonst vergessen wir womöglich einmal, dass die Bibel kein Buch ist, das
von Anfang bis Ende in einem Zug durchgeschrieben wurde, sondern dass sie eine
Sammlung ist, eine Sammlung von Glaubenszeugnissen verschiedener Menschen zu verschiedenen
Zeiten. Die Evangelisten erzählen auf unterschiedliche Weise, je nachdem, wie
sie es selbst erzählt bekamen, je nachdem was ihnen selbst oder ihrer Gemeinde
wichtig ist an ihrem Glauben und daran, was sie mit Gott erleben. Die Bibel ist
eine Schatztruhe. Und wenn man immer nur den selben Schatz herausholt, wird es
auf die Dauer uninteressant.

So heben wir heute einen anderen Schatz: die Geschichte von Jesu Geburt, wie Matthäus sie uns erzählt. Sie ist ein kunstvolles Ineinander von irdischen und himmlischen Fäden, die zu einem sinnvollen Ganzen zusammen gefügt werden. Es geht um die große Frage „Wer ist
Jesus?“; in welcher Tradition steht dieses Kind, wo gehört er hin?

Auf den ersten Blick scheint bei Matthäus nun auch wirklich alles anders zu sein. Beginnt Lukas seine Weihnachtsgeschichte mit dem Gebot des Kaisers Augustus, „ein jeder ziehe in
seine Vaterstadt“, so dreht es sich bei Matthäus zu Beginn um Josef und seine
gestörte Beziehung zu Maria. Dort also Weltgeschichte – hierFamiliengeschichte. Dort die große Öffentlichkeit – hier die fast intime Privatsphäre eines Paares. So mag es auf den ersten Blick scheinen.

Doch in Wirklichkeit hat diese Paarbeziehung eine Vorgeschichte. Ein Stammbaum geht voran, der Stammbaumdes Josef! Auch das Lukas-Evangelium kennt ja  einen solchen Stammbaum in s einem dritten Kapitel. Dort wird Josef in eine direkte Abstammungslinie mit Adam gesetzt, dem ersten Menschen! Oder um es klar zu sagen: Der Vater Jesu ist vor allem anderen
ein Mensch: ein Adamskind, wie wir alle. Anders bei Matthäus! „Dies ist das
Buch von der Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams.“
So beginnt das Evangelium. 17 Verse lang werden Namen genannt (ich habe Ihnen
das beim Lesen erspart), wer wen mit wem gezeugt hat, bis am Ende Josef geboren
wurde, der Vater Jesu. Abraham und David sind für Matthäus die entscheidenden
Vorfahren in der Geburtsgeschichte! Der Vater Jesu ist Abrahams Sohn und Davids
Sohn!

Matthäus ist kein Historiker, kein Geschichtsschreiber. Er will keine Tatsachen festhalten. Er
will ausdrücken, was er glaubt. Und er glaubt eben daran dass dieser Jesus, der
in heiliger Nacht geboren wird, nicht aus dem luftleeren Raum kommt. Die Geburt
des Kindes in Heiliger Nacht ist eingebettet in eine Geschichte. Die Geburt
dieses Kindes ist eingebettet in die Geschichte seines Volkes, er ist Teil der
religiösen Hoffnungen und Erwartungen, die man in diesem Volk hegte und
pflegte. Er ist Davids Sohn. An diesen großen König der jüdischen Geschichte
hatte man im Volk Israel immer schon die Hoffnungen auf einen Erlöser geknüpft:
wie der kleine David den großen Goliath besiegt, so wird der Erlöser den Tod
und das Böse besiegen. Die Hoffnungen, die man jahrhundertelang auf einen richtete,
der wie David kommt, das Böse zu besiegen und in Gerechtigkeit zu regieren – diese
Hoffnungen sieht Matthäus nun erfüllt. Jesus ist es! Der neue David, der Retter
Israels! Ein Davids-Sohn!

Aber eben darin zugleich auch ein Abrahams-Sohn, wie Matthäus weiter herausstellt. Und das ist wichtig!
Abraham gilt als Stammvater aller, die sich zu dem einen Gott bekehren. Damit weitet
Matthäus den Blick: nicht allein Davids Sohn ist Jesus. Vielmehr ist er als
Messias Israels auch Abrahams Sohn und damit über Israel hinaus Heiland auch für
alle anderen, die sich zu Gott bekennen, Heiland für die Völker, wie es in
Genesis 12 heißt: „Und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf
Erden.“ Das Partikulare und das Universale, eine Frage, die heute bis in die
Politik hinein emotional diskutiert wird, ist hier in den ersten Worten des
Matthäus schon zusammengehalten.

Und so steht also am Anfang der matthäischen Weihnachtsgeschichte nun doch nicht die Privatssphäre eines Paares, sondern eine weitreichende Vorgeschichte. Matthäus steckt den
Rahmen ab für die Geburt Jesu: Jesus ist Mensch, wahrer Mensch mit Vätern und Vorvätern
und -müttern. Mit der Geschichte eines Volkes, aus dem er kommt und zugleich mit
Hoffnungen und Erwartungen, die weit über dieses Volk hinaus reichen zu allen
Völkern: Jesus ist aus dem Geschlechte Davids und damit zugleich aus dem
Geschlechte Abrahams. Das ist der Sinn dieses Stammbaum vom Anfang: Jesus
Christus, Mensch geboren, Retter Israels und der Völker.

Doch diese gesamte Abstammungslinie, die Matthäus bis dahin nun so kunstvoll entwickelt hat, scheint durch die Geschehnisse plötzlich in Frage gestellt. Josef wird gewahr, dass das Kind nicht von ihm sein kann! Er ist der leibliche Vater nicht! Und wenn das Kind nicht von ihm
ist, dann ist ja auch die gesamte Genealogie dahin. Dann fließt auch in Jesu
Adern kein Abrahams- und kein Davidsblut. Dann ist er ein Niemand!

Doch wie sich nun erweisen wird, ist Jesu Herkunft noch von ganz anderer Seite her inspiriert. Aus der Kraft Gottes heraus hat Maria das Leben in ihrem Leib empfangen. Im
Glaubensbekenntis sagen wir: „Geboren von der Jungfrau Maria.“ Doch sowenig
Matthäus ein Ahnenforscher sein will, so wenig will er ein Biologe sein. Zu
lange und zu oft haben sich Menschen mit ihren medizinischen Anfragen an die
Jungfrauengeburt aufgehalten und dabei am Kern des Ganzen vorbei geschaut.

Es ist wie bei dem Stammbaum: Der Kern ist weder die Ahnenforschung noch die Biologie!Vielmehr geht es im Kern darum, was Matthäus damit ausdrücken will: Sein Glauben, der im Sinnbild der Jungfrauengeburt seinen stärksten Ausdruck findet – ein Sinnbild, das wir
übrigens zur damaligen Zeit Land auf Land ab in hellenistischen und ägyptischen
religiösen Texten finden. Denken wir nur an Herkules, Sohn des Zeus und der
Alkmene. Und was ist dieser Glauben? Die Sache Gottes offenbart sich in Zeit
und Raum, bekommt Hand und Fuß! Das will der Evangelist ausdrücken! Die Sache
Gottes geht der Menschheit ein, geht ihr in Fleisch und Blut über. In-carnatus:
ein-gefleischt! Jesus: der eingefleischte Gott! Oder anders: Gott macht sich uns
Menschen verwandt! In diesem Jesus ist Gott in einzigartiger Weise mit uns! Man
wird ihm den Namen Immanuel geben, was „Gott mit uns“, heißt. Das will Matthäus
sagen! In diesem Mensch Jesus wohnt Gott! In ihm ist er in die Welt gekommen,
um uns ganz nah zu sein, ganz fassbar, ganz konkret nah zu sein. Nicht Prinzip,
nicht fernes Wesen, nicht im Himmel, nicht im Jenseits, sondern mitten unter
den Menschen, mitten unter uns! Das ist die Botschaft des heiligen Abends. Wie
hätte Matthäus das besser ausdrücken können, als in der damals gängigen
Vorstellung von der Jungfrauengeburt? In dieser Schwangerschaft ist Gott
am Werk!

Solche Zusammenhänge sind Josef aber zunächst noch völlig unbekannt. Was soll er mit dieser Frau machen, die von einem anderen schwanger ist? Das ist die Frage, die ihm schlaflose
Nächte bereitet. Er dankt daran, sie heimlich zu verlassen. Und mit ihm, wäre
dann auch der ganze schöne Stammbaum dahin, den Josef in die Geburtsgeschichte
Jesu einzubringen hat. Kind Gottes wäre Jesus , nicht aber aus der Abstammungslinie
Davids und Abrahams. Und so bedarf es eines Traumes, der das Dilemma löst und
beide Stränge, die so wichtig sind für das, was Jesus ist, endgültig zusammenbringt.
Nimm die Frau zu dir! Verstoße sie nicht! Und Josef tut, was der Engel ihm im
Traum einflüstert. Und so gelingt es, die beiden Fäden doch noch zusammen zu
bringen: die Traditionslinie, die er in seiner Ahnentafel einbringt und die
besondere Beziehung des Neugeborenen zum göttlichen Geist. So kommt durch die
Treue des Josef zu Maria in Jesus beides zusammen: der Davids- und Abrahamssohn
mit dem Gottessohn.

Am Anfang der Offenbarungsgeschichte steht ein Akt tiefen Vertrauens. Josef steht zu Maria.
Jesus wird damit sein Kind obwohl er doch nicht der leibliche sohn ist. Jesus
wird so eingefügt in die Verwandschaft des Josef, in die Kette der Generationen
– Davids Sohn, Abrahams Sohn, wahrer Mensch – und ist und bleibt doch zugleich
mehr und anderes: Er ist unmittelbar zu Gott. Damit klärt Matthäus die Herkunft
Jesu und bewahrt doch zugleich das Geheimnis dieser Herkunft. Überall wo Gott
im Spiel ist, muss ein unaufklärbarer Rest bleiben. Gott wird immer, muss immer
vom Mantel des Geheimnisses eingehüllt bleiben, sonst ist er nicht Gott. Und so
unternimmt Matthäus im ersten Kapitel seines Evangeliums die große Aufgabe, das
Unvereinbare zu vereinbaren: Jesu Herkunft zu klären und doch zugleich
geheimnisvoll zu verhüllen: wahrer Mensch und wahrer Gott.

Liebe Gemeinde, obwohl Ochs und Esel dieser Geschichte fehlen, obwohl von der Krippe und vom Stall weit und breit nichts zu sehen ist und auch die Hirten nicht darin vorkommen –
es ist eine Weihnachtsgeschichte, die uns Matthäus erzählt: die Geschichte von
einem Gott der nicht fern ist -irgendwo, irgendwie – sondern dem Menschen nahkommt.
Einer der den Graben zwischen dort und hier, Jenseits und Diesseits an einer
Stelle überbrückt. Und diese Stelle heißt Jesus Christus. Auf den müssen wir
schauen, wenn wir von Gott etwas wissen wollen. Auf den müssen wir hören, wenn
wir suchen was heilsam ist. Auf den dürfen wir uns verlassen, wenn es im Hier
einmal zu Ende geht. An dieser einen Stelle hat Gott den Graben zwischen dort
und hier überbrückt. Und wie das eben so ist: jede Brücke hat zwei Enden, eins
dort und eins hier: Wahrer Gott und wahrer Mensch. An Weihnachten feiern wir
alljährlich die Einweihung dieser Brücke.

Amen

 

Propst Wolfgang Schmidt
Jerusalem
E-Mail: propst@redeemer-jerusalem.com
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