‚Wat niges‘ – Paulus, Frau …

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‚Wat niges‘ – Paulus, Frau …

Wat niges‘ – Paulus, Frau Sonderbar und die Athener | Jubilate| 25. 4. 2021 | Predigt über Apg 17, 22-34 | verfaßt von Jochen Riepe |

I

In Athen weiß man doch nicht alles! Mitten in der Stadt der Geistesgrößen, von Wissenschaft und Kultur, inmitten eines Waldes von Götterbildern begegnet Paulus ein X, eine Leerstelle: ‚…ich fand einen Altar, auf dem stand geschrieben: Dem unbekannten Gott‘. Ja, ‚ich bitte dich, von wem redet‘ (8, 34) dieser geheimnisvolle Stein? An wen erinnert er? Welchen Namen soll ich loben und singen?

II

‚Fenstertheater‘ in der Vorstadt: Frau Sonderbar lehnte wohl nicht, die Arme in einem Kissen gebettet, auf der Fensterbank. Sie stand aber hinter den Gardinen und meinte, so bliebe sie verborgen. Wir grinsten oder machten Faxen. Immer wieder ging eine Bewegung durch den Vorhang. Aha, wir werden beobachtet … mit einem Fernglas? ‚Diese neugierige Frau… und nachher petzt sie‘.

Die Eltern verteidigten die Nachbarin. Lächelnd. ‚Sie ist scheu. Laßt ihr doch ihren Blick zur Welt‘. ‚Etwas Neues – wat Niges tau seggen ore tau hüren‘ (17,21)*, wie man plattdeutsch sagt. Etwas, was die Langeweile durchbricht. Wer kommt? Wer redet mit wem? Gott sei Dank, ‚alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen…‘, schreibt der große Aristoteles.

III

Als sei vom einstigen Glanz der Stadt nur dies geblieben: Auch die Athener hatten – wie Lukas humorig-bissig übertreibt – ‚nichts anderes im Sinn‘: ‚Schon gehört? Das ‚Neue‘, ‚Klatsch und Tratsch‘? In der Stadt von Kultur und Wissenschaft gibt es einen Marktplatz, auf dem sich Leute aller Schichten und auch die Philosophen tummeln. Für uns – inzwischen in die ‚Distanzkultur‘ Eingeübte – geradezu provozierend: Kontakte über ethnische, religiöse oder soziale Schranken hinweg werden möglich, Raum zum ‚Grenzübertritt‘**, zum reizvollen Blick in die Ferne, und so kommt es zu der berühmten Begegnung zwischen den Athenern und dem Apostel Paulus: ‚He Fremder, wo kommst du denn her?‘

Paulus hatte ja inzwischen europäischen Boden betreten. ‘Komm herüber!‘ (16,9) hieß der Ruf ‚und läute die Osterglocken auf unserem Kontinent‘. Von Thessalonich und Beröa ging es nach Athen. ‚Täglich auf dem Markt‘, ganz schön anstrengend! ‚Was will dieser SchwätzerdieserDroenbartel‘- uns sagen?‘ spotten die Philosophen. Das klingt selbstgewiß. Neugier und Hochmut liegen in Athen, wo man alles schon durchgekaut und wieder ausgespuckt hat, nahe beieinander. ‚Nichts Neues unter der Sonne‘ (Koh 1,10)? Paulus läßt sich von den weisen Männern mitnehmen und zum Areopag führen. Dort ist es stiller***, dort steht das Gerichtsgebäude, hier arbeitet die Verwaltung.

IV

Ihr merkt: Mit dem Ortswechsel, dem neuen ‚Schauplatz‘, wird das Gespräch zwischen den Philosophen und dem Missionar aus Tarsus verbindlicher. Wer sind wir? Was erkennen wir? Was ist ein gutes Leben? Der Wissensdurst der Athener, ihr Fürwitz, bekommt gleichsam einen strengeren und zugleich offeneren Rahmen. Ja, es geht, wenn auch noch sehr vorläufig, um ‚Wahrheit‘. Dieser ‚unbekannte Gott‘, dem die Stadt einen Altar gebaut hat, dieses X, wird Paulus zum Anknüpfungs- oder Ausgangspunkt für die Verkündigung seines Gottes. Darum: Nicht die Konfrontation, nicht die Abwertung, sondern die Anerkennung der gemeinsamen religiösen Basis der Völker steht am Anfang: Bevor Menschen ausdrücklich nach dem ‚Herrn des Himmels und der Erde‘, fragen, bevor sie loben und streiten, bejahen und verneinen, sind sie längst ‚in ihm‘ und empfangen von ihm und durch ihn.

Was für ein jubelnder, klangvoller, swingender, Sprecher und Hörende verbindender Gesang: ‚In em lewen un wesen un sünd wi – In ihm leben, weben und sind wir – wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts‘. Trotz des ‚Grimms‘ des Apostels, als er die Stadt betrat: Wer eine den Götzendienst der Athener geißelnde Predigt suchte, hier bekommt er sie nicht.

V

Ja, Frau Sonderbar und ihr Fenstertheater. ‚Wat niges‘. ‚Schlimm, diese Neugier, diese ‚Augenlust‘ (1.Joh. 2,16), und später lästert sie wie Sauls Tochter Michal, sagten die einen. Andere verteidigten sie: ‚Ist das nicht ihre Weise, am Leben teilzuhaben und so mit ihrer Umwelt in Kontakt zu bleiben?‘

Es ist also komplizierter. Hat die Frau ein Laster oder ist es eine Tugend? Erschließt die Gier nach Neuigkeiten den Athenern neue Erfahrungen und schafft Verbindungen, oder ist sie immer schon beim nächsten Reiz nichts anderes im Sinnup nicks anners verlaten‘? Ist unser Surfen im Internet ‚Wer auf Twitter ist, weiß als erster Bescheid‘ eine leerlaufende Sucht oder eine Chance, einander zu begegnen und zu verstehen? Natürlich: Das ist eine Frage des Maßes und der Dosis. ‚Ich danke dir für dein Interesse‘, sagen wir und sind regelrecht beschwingt, wenn andere sich erkundigen. Aber aufdringliches Fragen nervt. Wir werden demnächst die Straßenseite wechseln. So manche Besuchsdienstmitarbeiter in der Gemeinde haben das Mißtrauen zu spüren bekommen: ‚Sie wollen das ja nur dem Pfarrer weitersagen…‘.

Und die Nachbarin: Wäre es nicht besser, sie käme hinter ihrem Vorhang heraus, redete offen und freimütig mit den Vorübergehenden und zeigte, was ihr Herz bewegt? ‘Komm herüber. Kumm herut!‘

VI

Paulus muß das erspüren. Er wird seinen Hörern begegnen, und diese werden ihm begegnen. Gemeinsam stehen sie nun jenseits des Marktes und marktschreierischer Verhältnisse. Auf dem Areopag ist es stiller. Meinen sie es ernst? Oder werden hier ‚Perlen vor die Säue‘ geworfen – auch Intellektuelle können das Heilige verunreinigen. Verkündigung, öffentliche Rede von Gott, wagt ja eine Konfrontation – die Begegnung eines jeden mit dem Gott, in dem wir immer schon ‚leben und weben‘, und darin eines jeden mit sich selbst und seinem ‚Herzen‘ (Lk 6,45). Wo swingendes, schwelgendes, ‚gottesfürchtiges‘ Gemeinsames ist, ist immer auch Unterschied. Und dieser Unterschied bin ich selbst – in mir sollen ja die Glocken läuten.

Das weiß Paulus natürlich. Seine Predigt macht den Areopag zu einer ‚Erzählbühne‘ und inszeniert den Unterschied, indem er das Allgemeine verfremdet und von einem einzigartigen schmerzlichen, peinlichen und rettenden Menschenschicksal erzählt. Die Wahrheit ist konkret und sie tut weh. ‚…dor will ick jug wat von vertellen‘ eine Geschichte zum Weinen und zum Lachen: Im Suchen und Fragen nach dem ‚unbekannten Gott‘ richte ich den Blick auf ‚einen Mann‘, der zum leibhaften Zeichen des lebendigen Gottes wurde. ‚Wie ein Schaf zur Schlachtbank geführt…‘ (8,32) kreuzigten ihn die Menschen, Gott aber hat ihn ‚von den Toten auferweckt‘. In seinen Wunden bedenken wir unser verletzliches Leben. Wer ihm, dem Lebendigen, nachfolgt, wird selbst sterben und – neu, schöpferisch, bedürftig – leben. Eure ‚Neugier‘, eure Sehnsucht nach einer neuen guten Nachricht und einem erfüllten, dem ‚ewigen Leben‘ (Lk 18,18), laßt dieses eintreten, getragen und umfangen sein von dieser Geschichte!

VII

Die Missionspredigt des ‚Querdenkers‘ Paulus nimmt das ‚X‘ der Athener auf, aber er besetzt oder löst es nicht einfach und tut sozusagen doktrinär einen Deckel drauf, sondern verwandelt es: in die Erzählung von und die Erinnerung an jenen Mann, der von den Toten auferweckt wurde. Auffällig ist: dieser ‚Mann‘ bleibt anonym. Sein Name klingt an dieser Stelle nur zwischen den Zeilen. ‚Wer ist dieser‘ Verwundete? Als Leser der Apostelgeschichte wissen wir doch, wie wichtig dem Autor Lukas sonst der ‚selig‘-machende Name Jesu ist (4,12)! Warum fehlt er hier?

Verkündigung ist mehr als eine Information über einen Lebenslauf. Der, von dem sie redet, ist ja in ihr gegenwärtig und wird sich mitteilen, wann immer ‚er will‘. Ein guter Missionar sieht, wann er nach dem ‚Maß‘ (Röm 12,4) des Glaubens schweigen und ein Geheimnis ‚vor dem Zugriff des Unglaubens‘****schützen muß. Der Name selbst, in dem das ‚Heil ist‘, er wird sich da melden, wo ein Mensch seinen Hochmut läßt, selbst weint und nach ‚Rettung‘ (2,21) ruft. Im Gedenken seiner Geschichte wird der ‚Unbekannte‘ selbst begegnen. ‚Das Herz wird brennen‘ und die ‚Augen werden geöffnet werden‘ (Lk 24,32) und der Ort unseres einmaligen ‚Lebens und Webens‘ ausdrücklich.

So weit sind die Athener Philosophen nicht. Sie bleiben – ähnlich wie Frau Sonderbar hinter der Gardine, oder sagen wir: Sie haben sie ein Stück weit weggezogen, das Oberlicht geöffnet und hören das Ostergeläut von fern. Ein ‚Grenzübertritt‘, ein ‚Komm herüber – kumm roewer – kumm herut!‘, ein wirkliches ‚Verstehen‘ der Weisen und Klugen steht noch aus.

VIII

Aber immerhin, trotz des Spottes der einen, andere haben gehört und fordern Paulus auf: ‚Jener ‚Mann‘, wir müssen mehr von ihm erfahren‘. Darum: Aller Druck, aller missionarische Erfolgszwang darf weichen. Gottes Geist wird uns zur rechten Stunde weisen (8, 29). Auch in ernsten Augenblicken, im ‚Hüt-Heute‘ bleibt Zeit: ‚Wir wollen dich darüber ein andermal weiterhören‘. Oder wie die plattdeutsche Bibel die gewichtige Begegnung leichtfüßig gewandt enden läßt: ‚Up’n annermal sast du uns mihr dorvon vertellen‘.

Mihr-Mehr‘! Eben, die Athener wissen nicht alles, und es ist gut, wenn sie das wissen.

(Gebet nach der Predigt:)

Herr Jesus Christus, in deinem Namen ist Heil. Wir nennen dich und preisen und jubeln, daß wir teilhaben dürfen am Geheimnis deiner Auferstehung. Du lebst und wir sollen auch leben. Sei bei deiner Gemeinde und stärke sie für ihren Auftrag.

 Laß uns mutig und frei Zeugnis ablegen an den Orten und vor den Menschen, zu denen dein Heiliger Geist uns führt. Überwinde Kleinglaube, Berührungsängste und Zaghaftigkeit, daß wir neugierig und angstfrei denen begegnen, die nach deinem Wort und nach unserem Glauben fragen.

Lieder: eg 325,1.4 (Sollt ich meinem Gott nicht singen)  eg 108 (Mit Freuden zart)   eg 182  (Halleluja. Ihr seid das Volk) eg 609 (Du hast vereint)

*http://www.kirche-mv.de/Das-Neue-Testament-in-Plattdeutsch.10675.0.html  ‚Vor-Pfingstlich‘ angetan von dieser Bibelübersetzung (E. Voß) habe ich sie in der Predigt zitiert. Im Sinne österlich-pfingstlicher Mehrsprachigkeit werden die Lektoren den Predigttext zunächst hochdeutsch und dann plattdeutsch vorlesen: ‚un füngen nu an, in anner Spraken tau snacken‘ (Apg 2,4). **K. Backhaus, Die Entgrenzung des Heils. Gesammelte Studien zur Apostelgeschichte, 2019, S.3 ***J. Roloff, Die Apostelgeschichte NTD Band 5, 1988, S. 258 ****M. Josuttis, Wirklichkeiten der Kirche Zwanzig Predigten und ein Protest, 2003, S.114  (Auf dem Areopag Predigt über Apg 17, 16-34)

Pfr. i. R. J. Riepe  Dortmund   email: Jochen.Riepe@gmx.net

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