Existenzielle Isländer …

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Existenzielle Isländer …

Existenzielle Isländer – etwas über unruhige Bilder | Jubilate 2021 | Johannes 16,16-22 (dänische Perikopenordnung) | Von Anne-Marie Nybo Mehlsen | 

Das Bild steht etwas unruhig, wie bei einem alten Fernseher. Das Bild des Glaubens flimmert – dann ist er da, dann wieder nicht. Jetzt! Wir sehen und verstehen! Kurz darauf ist Gott und auch der Sinn verschwunden. Das Leben spült über uns hinweg in Wogen. Freude – Leid – Freude. Für einige mehr das eine als das andere.

Der Glaube kommt und geht wie Ebbe und Flut – und Gott selbst kommt und geht, verbirgt sich und offenbart sich. Das ist keineswegs banal und selbstverständlich, wenn wir uns darauf einlassen. Das Geheimnis ist groß.

Es gehört zum Leben und zur Liebe, dass wir Verluste erfahren. Es beginnt, während wir ganz klein sind – Abschied vom Schnuller, vom Kuscheltier, Verstehen, was Tod ist und dass etwas oder jemand verschwindet, nicht mehr da ist. Für immer. Und die Erfahrung, dass wir auch ohne das alles leben können.

Freude wird mit der Zeit zu Leiden. Das ist unvermeidlich. Die Trauer über eine Reihe von Verlusten häuft sich an. Das kommt mit dem Alter. Trotzdem können wir mit Freude leben – trotz der Vulkankrater des Leides in der Landschaft mit Erdbeben und unvorhersehbaren Ausbrüchen. Wir sind existenzielle Isländer.

Aber wie kann das Leid, das wir kennen, zu Freude werden? Und warum werden wir an das Leid verwiesen als Quelle für die Auferstehung? Hier mitten in der Frühlingsfreude der österlichen Zeit werden wir auf die Zeit von Tod und großem Leid verwiesen, auf die Stunde des Abschieds am letzten Abend, den Jesus und seine Freunde miteinander verbrachten. Um zu verstehen, was Auferstehung ist, müssen wir da zum Schlimmsten zurückkehren? Ist es nicht umgekehrt, dass wir an das beste denken sollen, um das Schlimmste zu vergessen?

Die Frau vergisst den Schmerz aus Freude über das Kind. Keine Freude ist so groß wie die wilde, wahnsinnige und weltumstürzende Freude der Eltern über das Kind. Eine Freude, die mit den Jahren nur wächst – auch trotz Sorgen und Schmerzen. Wir verstehen durchaus, wovon Jesus spricht, besonders wenn wir Enkelkinder bekommen und die Erfahrungen von früher wieder erleben – mit Weisheit, mit Übung und Einsicht. Vor allem mit Ruhe. Die Freude ist größer als Schmerz und Trauer, und Freude lässt uns vergessen. Da ist eine evangelische Vergesslichkeit, die in uns liegt als eine starke, heilende Kraft. Man kann sie nicht erzwingen. Niemand kann sich zusammenreißen, um Schmerz und Trauer zu vergessen, aber die Freude kann uns dazu bringen. Ganz ohne es zu merken, lassen wir das Leid hinter uns, vergessen Leid und Beschwernis und begeben uns in die Welt, als wäre sie neu und wir wieder jung und stark.

Das ist ein kleines Mysterium, eng verwandt mit dem großen Mysterium, der Auferstehung. Dass die Freude nicht verloren geht und dass sie schon da ist – verborgen im Leid. Leid und Tod sind durchsichtig geworden.

Was trägst du mit dir an Steinen im Herzen? Verlust und Trauer? Was ist deine Erinnerung an die, die du verloren hast?

Hier sind einige Züge meiner Erinnerung. Als ich Kind war, starb mein Großvater plötzlich. Ich erinnere mich vor allem an die große Verwirrung. Meine Eltern und Brüder waren weg, sie waren beschäftigt, und wenn sie durch meine kleine Welt rauschten, waren sie fern.

In einem so sensiblen Alter wie achtzehn verlor ich meine erste Liebe, traumatisch, unerlöst. Ich war Jahre lang stumm und verloren von meinem eigenen Körper. Ich sah Gespenster, begegnete ihnen auf der Straße, ging stundenlang ruhelos umher und suchte. Da war absolut kein Trost, keine Durchsichtigkeit – nur Scham, Furcht und grausame Gewissheit.

Als junge Erwachsene begleitete ich meine Großmutter in der letzten Zeit, und ich erinnere mich an Durchsichtigkeit in Zeit und Raum. Da war eine Tür, die einen Spalt geöffnet war zu einer anderen Welt, eine Gegenwart, die fast physisch war, und eine stille Gewissheit von Dingen, von denen man nicht mit Ärzten, mit Freunden reden konnte – nicht einmal mit dem Pastor, der allzu schnell trösten wollte

Ich brauchte keinen Trost, sondern wollte von dem großen Mysterium erzählen, dass man sich über das wundert, was da hinter der Durchsichtigkeit und der Tür war. Wer war da in der Nähe, mit der ich heimlich übereinkam, dass ich bleiben sollte und Großmutter hineingehen durfte?

Das Bild flackerte, und ich hatte das Bedürfnis, die Freude zu erforschen, die wild aus dieser Durchsichtigkeit entsprang. Das Mysterium verschloss sich mit der Erfahrung, dass niemand darüber sprach. Der Alltag übernahm – jedoch mit einer neuen Gewissheit.

Als Pastorin habe ich bei vielen auf dem letzten Weg gesessen – mir Erfahrungen von Frieden, neuen Erfahrungen von Durchsichtigkeit und Nähe. Stumme Erfahrung, die sich nicht „bereden“ lässt mit allerlei vernünftigen Erklärungen.

Auch meine Eltern habe ich zu ihrer Zeit begleitet, saß bei ihnen, als es geschah, die Reise auf das große Meer. Diesmal fiel die Durchsichtigkeit auf die Ganzheit zurück, so als wäre das ganze ein Konzentrat von Sonnenschein, Sommerferien und sorgloser Freude. Die Trauer, die da war, der Schmerz, der reichlich vorhanden war, das ist eine ferne Erinnerung, während die Freude stark gegenwärtig ist. Freud hätte sich über meinen erwachsenen Vater- und Muttermord gefreut, aber das liegt weit tiefer, als die Psychologie ergründen kann. Da ist eine Freude verborgen in der Trauer, als ein Samen zur Vollendung und Erlösung. Das flimmernde Bild wird nicht fest und deutlich. Manchmal ist es uns nahe, und Gott ist dabei. Der Glaube steht klar – und dann ist es wieder weg.

Die Trauer trifft öfter mit den Jahren, wir verlieren Freunde, Verwandte, wie verlieren nahe und liebe Menschen, wir können uns kein Leben ohne sie vorstellen. Wir sind ratlos, wenn das geschieht – fallen erschöpft und unruhig in den Schlaf und erwachen zu dem Schrecklichen: Ein Name, der ein Meer von Zuwendung und Liebe war, ist nun ein Verlust, tiefer als Hunger, Kälte und Durst. Da müssen wir hin, um das Geheimnis der Auferstehung zu verstehen, sagt Jesus.

Ehe sich das Mysterium verschließt, weil es nicht in Wort zu fassen ist und wir kaum davon reden können, müssen wir die Erfahrungen durchleben. Wir müssen uns einfinden in das Schlimmste, in den Schmerz und die wehrlose Verletzbarkeit, die Trauer heißt. Da sollen wir wissen, dass all das, was wir verlieren, bewahrt ist. Dass als das, was zerbricht, heil wird und wieder neu. Das, was wir kannten, kristallisiert sich in einem Konzentrat von Freude. Wir sind existenzielle Isländer, und der Lavastrom zerstört die Landschaft, die wir kannten. Wir werden von der Trauer umgeschmolzen, von den Verlusten umgeworfen. Nur um mitten in einer Gewissheit zu erwachen, dass dies alles nicht verloren ist. Die Freude bleibt, sie erneuert sich – ist nie dieselbe. Wie die Freude über das Kind, während wir jeden Zug entdecken, die kleinen Fingerchen und Zehen zählen, die Greifreflexe merken und einen tiefen Blick aus ein paar Augen, ein Blick, der zuvor ganz unbekannt war, noch ungesehen und ungeahnt. Wir merken den Atem, einen Puls des Kindes – aber eins mit unserem eigenen. Fremd und vertraut. Verborgene unbekannte Zukunft und vollendet glückliche Gegenwart. Die Auferstehung ist die Erinnerung des Körpers, schon jetzt. Der Tod ist eine Geburt zum Neuen, und ich rede hier nicht von Reinkarnation, so als drehe sich alles im Kreis. Das Neue bricht hervor aus dem, was verloren war, das Schwerste, das Schmerzvolle, es kristallisiert eine Freude heraus, die wir zuvor weder kannten noch ahnten. Amen.

Pastorin Anne-Marie Nybo Mehlsen

DK-4100 Ringsted

Email: amnm(at)km.dk

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